BISMARCK-BIOGRAPHIE Historisches Plakat
Als der 75jährige Otto von Bismarck, aus dem Amte des Reichskanzlers von seinem Kaiser brüsk entlassen, im Sachsenwald nur noch seinen Erinnerungen lebte, plagte ihn oft der Gedanke, was aus seinem Werk - dem deutschen Hohenzollern-Reich- werden würde. »Was die Zeitungen über mich schreiben, ist Abfall, den ich leicht beiseite fegen kann«, schimpfte er gelegentlich. »Mich bewegt einzig, was die Geschichte einst von mir sagen wird.«
Fast vierzig Jahre nach dem Zusammenbruch des von Bismarck begründeten Hohenzollern-Reiches im November 1918 können sich die deutschen Geschichtsschreiber noch immer nicht darüber einigen, was sie über Bismarck sagen sollen. Wie unsicher das deutsche Urteil über den Reichsgründer ist, offenbart eine Bismarck-Biographie von Ludwig Reiners, deren erster Band* kürzlich auf dem Büchermarkt Westdeutschlands erschienen ist.
Bismarck selbst war von schweren Zweifeln erfüllt, ob sein Werk Bestand haben werde. Apathisch lag der gestürzte Kanzler auf dem Kanapee Im Herrenhaus von Friedrichsruh, eine schwere Zigarre rauchend und von Zeit zu Zeit mit der Lektüre der Zeitungen beschäftigt, die er verachtete. Lediglich der Haß arbeitete in Ihm weiter, der Haß gegen Kaiser Wilhelm II. und gegen jene Männer in dessen Umgebung, die Bismarck für seine Entlassung aus dem Kanzleramt verantwortlich machte.
In diese gedrückte Atmosphäre von Friedrichsruh brachten Vertreter des Cotta -Verlages etwas Licht. Sie unterbreiteten Bismarck den Vorschlag, er möge seine Erinnerungen an 28 Jahre politischer Macht in Preußen, Deutschland und Europa zu Papier bringen. Cotta bot das wohlhöchste Autorenhonorar des Jahrhunderts: 100 000 Goldmark für jeden Band der Bismarck-Erinnerungen. Sechs Bände sollte der entlassene Kanzler verfassen.
Bismarck nutzte die goldene Gelegenheit, mit seinen zahlreichen Gegnern abzurechnen. Er rief Lothar Bucher zu sich, den einstigen Revolutionär von 1848, der sich in der nächsten Umgebung Bismarcks zum erzkonservativen preußischen Legationsrat gewandelt hatte. Ihm diktierte Bismarck die ersten Kapitel jenes Werkes, das später unter dem Titel »Gedanken und Erinnerungen« literarischen Weltruhm erlangen sollte.
Doch Bismarck war nie ein systematischer Arbeiter gewesen. Kaum hatte er seine Lieblingstheorien über die Entstehung des Deutschen Reiches herunterdiktiert, fiel er in die alte Lethargie zurück. Er verlor das Interesse an der Arbeit und überließ es seinem Intimus, die kaum für drei Bände reichenden Notizen durch die auf Bismarcks Schreibtisch wirr umherliegenden Dokumente anzureichern. Buchers Geduld wurde oft auf harte Proben gestellt, vor allem durch den Eigensinn, mit dem Otto von Bismarck an gewissen offensichtlichen Täuschungen seiner Erinnerung festhielt.
Bucher klagte später, Bismarck gefalle sich darin, »absichtlich zu entstellen, und zwar selbst bei klaren ausgemachten Tatsachen. Bei nichts, was mißlungen ist, will er beteiligt gewesen sein, und niemand läßt er neben sich gelten«. Sogar die einfachsten Zeitvorstellungen Bismarcks seien oft falsch. Der Fürst lasse sich aber nur äußerst selten korrigieren.
Bismarcks selbstgestrickte Mythen und kunstvollen Erinnerungstäuschungen aber
wurden zum ehernen Bestandteil der patriotischen Bismarck-Begeisterung, von der vor allem das deutsche Bürgertum bis zum zweiten Weltkrieg beherrscht wurde. Aus diesem Rohstoff entstand die Schulbuch-Legende vom »Eisernen Kanzler«, der
- jenseits der Parteien - nur dem Wohl
des Staates und der Nation gedient habe.
Die deutschen Historiker hüteten sich wohlweislich, Bismarcks »Gedanken und Erinnerungen« als Geschichtsquelle zu benutzen. Aber sie standen bis zum Jahre 1945 noch zu sehr unter dem allgemeinen Einfluß der Bismarck-Begeisterung ihrer Zeit, um den Sagenschatz der »Gedanken und Erinnerungen« daraufhin zu untersuchen, was an ihm Wahrheit und was Dichtung ist. Erst der in der linksliberalen Anti-Bismarck-Tradition aufgewachsene ehemalige Rechtsanwalt am Berliner Kammergericht, Erich Eyck, schrieb in seinem Londoner Exil gegen Ende des vergangenen Weltkrieges ein Werk über Bismarck, das bei aller Bewunderung für den Kanzler auch mancher historischen Wahrheit zu ihrem Recht verhalf.
Ein solches Buch mußte freilich der Legende, an der Bismarck fleißig gesponnen hatte, einigen Abbruch tun. »Von keinem anderen Staatsmann«, so urteilte der Münchner Ordinarius für Geschichte, Franz Schnabel, über Eycks dreibändige Bismarck-Biographie, »auch nicht von Talleyrand, besitzen wir ein so gründlich durchgearbeitetes Sündenregister. Bismarck hat auch darin Unglück, daß er einen Geschichtsschreiber gefunden hat, der dem alten Sünder bis in die letzten Schliche nachgeht.«
Mit detektivischem Spürsinn sezierte Eyck die Bismarck-Erinnerungen. Er fand: »Als Geschichtsquelle darf man sie nicht betrachten. Daß sie von vielen Personen ein ganz verzerrtes Bild geben, ist noch nicht das Entscheidende. Aber auch die Tatsachen sind so gedreht und gewendet, wie sie dem Verfasser in seinen Kram passen.«
Freilich gesteht auch Eyck ein, daß die »Gedanken und Erinnerungen«, wenn
schon keinen historischen, so doch einen außerordentlichen literarischen Wert haben: »Aber, wie glänzend sind ... sie formuliert, wie tief ist überall aus einer politischen Erfahrung ohnegleichen geschöpft! ... Wie reich und präzis ist die Sprache, wie ganz individuell, mit der keines anderen deutschen Schriftstellers vergleichbar.«
»Darum«, fährt Eyck fort, »werden die 'Gedanken und Erinnerungen' fortleben, auch wenn die Mächte und Institutionen, als deren Vorkämpfer Bismarck sich empfand, restlos der Vergangenheit angehören und dem Leser nicht mehr bedeuten, als die Kämpfe der Weißen und Roten Rose dem Leser von Shakespeares Königsdramen bedeuten.«
Einem Leser aber haben die »Gedanken und Erinnerungen« entschieden mehr bedeutet: dem Münchner Textildirektor und Sonntags-Schriftsteller Ludwig Reiners. Ohne Zweifel hat auch ihn zunächst Bismarcks unbestrittene Fähigkeit fasziniert, in blendendem Stil zu schreiben. Reiners hat in seinen Büchern, seiner »Stilkunst« und in seinem Lehrbuch über die »Kunst der Rede« immer wieder Bismarck zitiert: »Daß Reiners eines Tages ein Buch über den Kanzler schreiben würde, war vorauszusehen«, wußte die »Süddeutsche Zeitung«.
Weniger vorauszusehen war, was für eine Art Bismarck-Buch Reiners schreiben würde. Ob sich nun Reiners über die Diskrepanz zwischen dem - auf Eycks Forschungen gestützten - recht negativen Bismarck-Bild der Gegenwart und dem Edelmann geärgert hat, als der Bismarck in seinen eigenen (von Reiners in Zettelkästen gesammelten) Kernworten erschien - oder ob der Sonntagshistoriker Reiners andere Gründe wußte: Jedenfalls hat er sich auf ein abenteuerliches Unternehmen eingelassen. Reiners will offenbar mit Bismarcks eigenen Worten und mit seinen »Gedanken und Erinnerungen« den kritischen Bismarck-Biographen Eyck widerlegen.
Der leidenschaftliche Bismarck-Verehrer Reiners kreiert damit eine höchst eigenwillige Methode der Geschichtsschreibung, zu der sein Münchner Verlag C. H. Beck bemerkt: »Im Gegensatz zu den meisten Bismarck-Biographen läßt Reiners Bismarck selbst in starkem Maße zu Worte kommen: nur so lassen sich viele Vorurteile ausrotten ... Durch diese Bismarck -Biographie werden die meisten Leser ein ganz neues Bild von dem Menschen Bismarck erhalten.«
Das neue Bismarck-Bild erweist sich indes bald als ein recht altes, das spätestens seit dem Erscheinen der »Gedanken und Erinnerungen« bekannt ist. Reiners bekennt sich nämlich auf jeder Seite seiner Arbeit als der eifrige Ehrenretter, der seinen Helden gegen die Vorwürfe der modernen Bismarck-Forscher in Schutz nimmt.
Anders als in seinen früheren historischen Büchern hat Reiners diesmal in einem ausführlichen Anhang die Quellen genannt, die er benutzt hat. Aber er weist diesen Quellen oft nur die Aufgabe zu, die Angaben Bismarcks und seiner orthodoxen Interpreten zu erhärten. So wird Eycks Werk nur einmal als Quelle - zugunsten Bismarcks - zitiert, während Bismarck zum Beispiel für hundert Seiten Reiners-Text 73mal als Kronzeuge herangezogen wird. Die Porträts der Gegenspieler Bismarcks - von dem »posierenden, unpreußischen« General von Radowitz bis zu der »intriganten, kaltherzigen« Kaiserin Augusta - stammen fast ausschließlich aus der Feder des »Eisernen Kanzlers«.
Mit entschlossener Nibelungen-Treue folgt Bismarck-Biograph Reiners den Spuren seines Helden. Im Jahre 1847 tritt Bismarck zum ersten Male im Preußischen Landtag auf und gerät mit den Liberalen
in ein heftiges Wortgefecht. Mehr als hundert Jahre später ist auch Reiners zur Stelle und kämpft noch einmal den Kampf Bismarcks gegen die liberalen Königsverächter, wobei er ihnen Äußerungen in den Mund legt, die sie zwar (laut »Vossische Zeitung« vom 22. Mai 1847) nie getan haben, von denen aber Bismarck behauptet, daß sie gefallen seien.
Auch dem preußischen Ministerpräsidenten Bismarck bleibt sein neuester Biograph treu zur Seite. Als der Premier wegen seiner Vereinbarung mit den Russen über die Eindämmung des polnischen Aufstandes von 1862 im Preußischen Landtag attackiert wird, muß der Chronist Reiners Betrübliches vermelden: »Ja, die Linke ging noch weiter; sie forderte in kaum verhüllter Form Frankreich auf, über Preußen herzufallen.« Das hatte die »Linke« zwar niemals getan, aber es war in der Tat der rhetorische Vorwurf, den Bismarck in jener Landtagssitzung den Liberalen gemacht hatte.
Reiners übersieht dabei obendrein, daß Bismarck sich später selbst über sein rhetorisches. Donnerwetter lustig machte. Der König sei gerade zu jener Zeit, erzählte Bismarck leutselig zwei liberalen Abgeordneten im Jahre 1866, über die Zukunft der preußischen Monarchie tief verzweifelt gewesen, und so habe er, Bismarck, dem König demonstrieren wollen, wie ein royalistischer Ministerpräsident mit seinem Landtag umspringen kann. Deshalb also seine herausfordernde Sprache gegenüber der liberalen Opposition. Und dabei lachte Bismarck schallend über seinen Einfall.
Wie einseitig eine moderne Bismarck-Biographie wird, die auf Bismarcks »Gedanken und Erinnerungen« fußt, zeigt die Darstellung des Historikers Reiners über eine der psychologisch aufschlußreichsten Affären im Leben des Reichsgründers.
Es begann in einem kalten Dienerzimmer des Potsdamer Stadtschlosses in den Revolutionstagen von 1848, als Preußens König* vor den aufrührerischen Bürgern der Berliner März-Demokratie kapituliert und ihnen bedeutende Zugeständnisse (Redefreiheit, Pressefreiheit) gemacht hatte. Reiners berichtet, der märkische Junker Bismarck habe etwas für seinen ohnmächtigen König tun wollen. Da der König aber in der Hand der Revolution gewesen sei, habe er sich an den Thronfolger Prinz Wilhelm wenden wollen, um eine Gegenaktion zu starten. Der Prinz sei jedoch nicht aufzutreiben gewesen, und so habe Otto von Bismarck sich zu dessen Gemahlin, der Prinzessin Augusta, begeben, um den Aufenthalt des Prinzen Wilhelm zu erfahren.
Und nun erzählen Bismarck und Reiners eine rührende Geschichte. Im Potsdamer Schloß habe Augusta den königstreuen Bismarck mit der Mitteilung überrascht, Prinz Wilhelm befände sich auf der Flucht nach England, und nun wolle sie, Augusta, ihren Sohn zum König von
Preußen ausrufen lassen. Also Hochverrat gegen König und Thronfolger, schoß es Bismarck durch den Kopf. Er lehnte das Ansinnen der Prinzessin ab, die ihm ohnehin wegen ihrer liberalen Gesinnung verdächtig war. Als Kavalier aber - meint Reiners - verschwieg er den Treuebruch Augustens ihrem Gatten. Die spätere Kaiserin Augusta konnte dagegen ihre Niederlage nie verwinden.
Reiners aber verschweigt, daß über jene Unterredung eine Aufzeichnung aus der Umgebung Augustens existiert, in der die Geschichte völlig anders erzählt wird. Danach kam Bismarck im Auftrage des Prinzen Karl, mit dem Bismarck eine Gegenrevolution inszenieren wollte, zu der Prinzessin und machte ihr den Vorschlag, ihren Sohn- den späteren Kaiser Friedrich III. zum König proklamieren zu lassen:
»Herr von Bismarck-Schönhausen«, so besagt die von der späteren Kaiserin Augusta legitimierte Version, »ist in den Märztagen von 1848, kurz nach der Abreise des Prinzen (Wilhelm) von Preußen nach England, bei seiner Gemahlin im Auftrag des Prinzen Karl erschienen, um die Ermächtigung zu erlangen, sowohl den Namen des abwesenden Thronerben als auch seines Sohnes zu einer Contrerevolution zu benutzen, durch welche die bereits vollzogenen Maßregeln des Königs nicht anerkannt, und dessen Berechtigung respektive Zurechnungsfähigkeit beanstandet werden sollte.«
Hier stünde Version gegen Version, wenn nicht der Historiker Eyck auf einen Umstand aufmerksam gemacht hätte, der die Bismarcksche Lesart suspekt macht. Die Unterredung, die von beiden Beteiligten, von der Kaiserin Augusta und von Bismarck, so verschieden wiedergegeben wird, hatte nämlich einen Mitwisser, den Freiherrn von Vincke. Diesen preußischen Liberalen hat Bismarck später zu einem Duell gefordert.
Eyck: »Bismarck hat ein Vierteljahrhundert später seine Unterredung mit Augusta als die eigentliche Ursache des Duells erklärt. Aber wenn nun die Unterredung so verlaufen wäre, wie Bismarck selbst sie darstellt, so wäre sie für ihn unmöglich ein Grund gewesen, Vincke deshalb zu zürnen, weil er von ihr wußte. Legt man hingegen Augustas Darstellung zugrunde, so mußte ihm die Erinnerung an seine Niederlage im Potsdamer Stadtschloß peinlich sein, und es versteht sich leicht, daß ihn tiefe Abneigung gegen den Mann erfüllte, der vielleicht ihr einziger Mitwisser war.«
Die Reiners-Biographie über Bismarck ist auf drei Bände geplant, und alle Kritiker, die bisher über den ersten Band referierten, haben dem Autor sein Talent bestätigt, faßlich und in einem vorbildlichen Deutsch zu schreiben. »Der erste Band«, resümierte die »Süddeutsche Zeitung«, »schließt mit dem Jahre 1864. Aber schon dieses Präludium rechtfertigt die Feststellung, daß hier nicht, wie angekündigt, ein neues Bild, sondern ein historisches Plakat von Bismarck entsteht.«
* Ludwig Reiners? Bismarck«, Erster Band. Verlag C. H. Beck, München; 467 Seiten; 17,50 Mark.
* Es handelt sich um König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen (1840-1861), der in geistiger umnachtung endete. Sein Bruder Wilhelm bestieg 1861 den preußischen Königsthron und wurde 1871 als Wilhelm I. deutscher Kaiser. Dessen ältester Sohn aus der Ehe mit der Weimarer Prinzessin Augusta war der krebskranke Friedrich II., der Im Jahre 1888 nur 90 Tage regierte, Prinz Karl war der jüngste Bruder des Königs Friedrich Wilhelm IV.
Bismarck-Biograph Reiners
Zitate im Zettelkosten
Memoirenschreiber Bismarck
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Bismarck-Forscher Eyck: »Das gründlichste Sündenregister«