Paraguay Hitler im Brunnen
MartIn Almada hat sich ein untrügliches Gedächtnis antrainiert. Nachdem die Schergen des paraguayischen Diktators Alfredo Stroessner den ehemaligen Schuldirektor 1974 wegen »kommunistischer Subversion« verhaftet hatten, bewahrte ihn der Denksport vor dem Zusammenbruch.
Almada prägte sich alles ein: die Gesichter seiner Folterer, die ihm die Zehennägel ausrissen und die Haut mit Elektroden verbrannten; die Zelle in einem Kommissariat der berüchtigten »Untersuchungsabteilung« der Bundespolizei bei Asuncion; die Stimmen und Gerüche.
Später, als er in das Konzentrationslager »La Emboscada« verlegt wurde, ordnete der Lehrer seine Erinnerungen: »Ich legte sie an wie die Kapitel eines Buches, das ich täglich erweitert habe.« 1977 entließ ihn die Diktatur schließlich auf internationalen Druck hin ins französische Exil.
In Paris stieg Almada zu einem Direktor der Unesco auf. Unermüdlich sammelte er weiterhin Informationen über das Gewaltregime in seiner Heimat. Anhand von Polizei-Zeitschriften, die ihm Bekannte aus Paraguay mitbrachten, rekonstruierte er die Karrierewege der Offiziere und merkte sich die Fotos von Gefängnissen und Kasernen. Er schärfte seine Erinnerung wie eine Waffe mit dem einzigen Ziel: Rache zu nehmen an seinen Peinigern.
Die Stunde der Revanche kam am 22. Dezember vergangenen Jahres. Mit einem jungen, unerschrockenen Richter und einigen überlebenden Opfern der Diktatur erschien Almada vor dem Kommissariat in Lambare, einem Vorort von Asuncion, und forderte die Herausgabe seiner Polizeiakte. Sie sollte der Schlüssel sein zu einer Anklage gegen Diktator Stroessner, der nach einem Palastputsch im Jahr 1989 nach Brasilien geflüchtet war.
Die Polizei hatte immer bestritten, daß überhaupt ein Archiv existiert. Doch die Erinnerung an seine Zelle führte Almada auf die richtige Spur. In einem Hinterzimmer wurde er fündig: Hunderte von rot eingebundenen Aktenordnern, Kassetten und Videos stapelten sich bis unter die Decke. Bilder von Adolf Hitler und faschistische Pamphlete entdeckte er in einem nahen Brunnen.
Reporter einer Fernsehgesellschaft stellten ihren Lastwagen zur Verfügung, um das brisante Material in den Justizpalast zu schaffen, bevor die Polizei Dokumente verschwinden lassen konnte. Die Öffnung des nahezu kompletten Archivs, das nun im Justizpalast von Asuncion lagert, löste Schockwellen bis hin nach Chile, Argentinien, Brasilien, Uruguay und in die USA aus.
Denn akribisch hatten die Schergen der Stroessner-Diktatur in mehr als 100 000 Dokumenten festgehalten, wie sie Zehntausende Menschen festnahmen, folterten und verschwinden ließen. Die bürokratische Gründlichkeit, mit der die Polizei die 35 Jahre währende Terrorherrschaft (1954 bis 1989) des deutschstämmigen Diktators aufschrieb, erinnert Richter Jose AgustIn Fernandez »an das schreckenerregende Preußentum der Nazis«.
Anfang des Jahres öffnete die Justiz auch das Archiv der berüchtigten »Technischen Abteilung« des Innenministeriums, eine von der Polizei unabhängige Geheimpolizei und Folterzentrale. Weitere Akten wurden bei den Streitkräften aufgespürt und die der Einwanderungsbehörden sichergestellt. Die »Archive des Schreckens« offenbaren das Röntgenbild einer der grausamen Diktaturen Lateinamerikas und ihrer internationalen Verbindungen.
Vertrauliche Briefe von Interpol, dem Bundeskriminalamt und dem FBI an die paraguayische Polizei beweisen, daß der Pufferstaat zwischen Argentinien und Brasilien zum Zufluchtsort für politische Täter und gewöhnliche Kriminelle aus aller Welt geworden war. Sie konnten sich hier, stimmte der ideologische Grundkonsens, sicher fühlen.
Das galt auch für ehemalige Nazi-Größen. Dossiers über KZ-Arzt Josef Mengele und Martin Bormann heizten neue Spekulationen über das Schicksal des Hitler-Stellvertreters an. Doch während der Aufenthalt Mengeles in Paraguay in den Archiven genau dokumentiert ist, entspringt ein Polizeiprotokoll über die angebliche Flucht Bormanns nach Paraguay, das unter den Mengele-Akten gefunden wurde, offenbar dem übersteigerten Geltungsbedürfnis _(* In Brasilien: Eine an den Füßen ) _(aufgehängte Indianerin wird mit der ) _(Machete zerhackt. ) eines Polizeikommissars.
Die Akten lassen darauf schließen, daß mehrere Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad, die Mengele in Paraguay aufspüren und nach Israel entführen sollten, von Stroessners Geheimagenten ermordet wurden.
Erregender noch sind Belege über die Rolle der amerikanischen Regierung: Die offiziell als Paria geächtete Diktatur Stroessners wurde von Washington als Bollwerk gegen den Kommunismus hofiert und beim Aufbau ihres Terrorapparats unterstützt.
Die Regierung Eisenhower sandte Berater zur Errichtung der Folterzentren, kooperierte beim Informationsaustausch und schulte paraguayische Offiziere in der Kanalzone von Panama.
In einem Dankesschreiben aus dem Jahr 1958 an den damaligen paraguayischen Innenminister lobte der US-Entsandte, Robert Thierry, der die Diktatur beim Aufbau der gefürchteten »Technischen Abteilung« des Innenministeriums beraten hatte, die »Effizienz« dieser »kleinen, aber schlagkräftigen Einheit«.
Erstmals läßt sich auch die stets vermutete, bislang aber nie bewiesene und von den Streitkräften des südlichen Südamerikas geleugnete »Operation Condor« nachvollziehen: Unter diesem Namen arbeiteten die Militärdiktaturen Argentiniens, Brasiliens, Uruguays, Chiles und Paraguays in den siebziger Jahren bei der Verfolgung linker Guerrilleros und zahlreicher Unschuldiger zusammen, die sie der »Subversion« verdächtigten (siehe Kasten).
Zeitlebens litt Stroessner unter panischer Angst vor Verschwörungen und Anschlägen. Das ganze Land überzog er mit einem Netz von Spitzeln. Die »psychologische Kontrolle aller Paraguayer« sei ein »wesentliches Element« bei der Bekämpfung des Kommunismus, verkündete ein Papier der rechtsextremistischen »Antikommunistischen Weltliga«, die 1979 in Asuncion tagte. Zu diesem Zweck schulte das Regime zahlreiche Lehrer, die Paraguays Jugend in der Schule indoktrinieren sollten.
Rivalitäten zwischen den verschiedenen Geheimdiensten spielte der Alleinherrscher geschickt aus. Er ließ Freunde und Minister bespitzeln. Auch zahlreiche Dissidenten in der eigenen Partei wurden gefoltert und umgebracht.
Beim Zuschnitt des Terrorapparats in den fünfziger Jahren war auch das Spanien des Despoten Franco ein Modell. »Der spanische Botschafter war in den ersten Jahren der Diktatur eine Schlüsselfigur«, sagt Francisco Jose de Vargas, Menschenrechtler und Vorsitzender des Verbandes der Opfer der Diktatur.
Wer nur den Anschein der Opposition erweckte oder von Spitzeln denunziert wurde, mußte mit dem Schlimmsten rechnen. Selbst bei Jugendlichen und schwangeren Frauen kannten Stroessners Schergen keine Gnade.
15jährigen, die der »Subversion« verdächtig waren, wurden die Finger verbrannt, Schwangeren das Kind aus dem Leib gerissen. Der sadistische Polizeichef Pastor Coronel, so belegen die Akten, teilte eigenhändig Pistolen und Munition an Untergebene aus und befahl ihnen, Regimegegner umzubringen.
In zahlreichen Memoranden informierte Coronel den Diktator über die Verhöre von Regimegegnern. Augenzeugenberichten zufolge soll Stroessner bei mehreren Folteraktionen anwesend gewesen sein.
Die Archivfunde könnten dem Diktator jetzt zum Verhängnis werden: Überlebende Opfer haben insgesamt 45 Prozesse wegen Folter und Mordes gegen ihn angestrengt. Sie drängen auf die Auslieferung Stroessners, 80, der seit 1989 im Nachbarland Brasilien lebt. Dort hatte er für zunächst vier Jahre Asyl erhalten.
Der ehemalige Polizeichef Pastor Coronel wurde bereits Ende vergangenen Jahres wegen Mordes zu 25 Jahren Haft verurteilt. Weitere vier Polizeioffiziere sind ebenfalls hinter Gittern.
Bislang hat kein Land Lateinamerikas dermaßen rigoros mit seiner Vergangenheit abgerechnet wie das kleine Paraguay. Nirgendwo hatten die Militärs für ihre Verbrechen aber auch so gute Beweise hinterlassen.
»Die Folterknechte vernichteten ihre Archive nicht sofort nach dem Putsch 1989«, meint Francisco Jose de Vargas, »weil sie immer damit gerechnet haben, wieder an die Macht zurückzukehren.«
Tatsächlich rechneten sich die »Stronistas« noch bis vor kurzem gute Chancen für ein Comeback aus. Vor allem auf dem Land hat der Altdiktator noch viele Anhänger. Die Mehrheit der Colorado-Partei unterstützt deshalb den ehemaligen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, LuIs Argana, als Kandidaten bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am kommenden Sonntag.
Der interne Streit um die Kandidatenaufstellung hat die Colorados gespalten und ihre Wahlchancen geschmälert. Den meisten Umfragen zufolge hat jetzt der unabhängige Kandidat Guillermo Caballero Vargas die besten Chancen auf das Präsidentenamt.
Caballero Vargas sind bislang keine Korruptionsskandale nachzuweisen, und sein Verhalten während der Stroessner-Diktatur scheint respektabel gewesen zu sein. Der wortgewandte Kandidat verspricht eine Aufarbeitung der Vergangenheit, ohne die Colorados ganz zu verprellen - solch moderate Töne machten ihn auch zum Favoriten der USA, Argentiniens und Brasiliens.
Die Regierungen der beiden mächtigen Nachbarstaaten und der USA gaben Präsident Andres RodrIguez diskret zu verstehen, daß sie einen erneuten Putsch oder massiven Wahlbetrug nicht dulden würden. RodrIguez, der mit seinem Coup gegen Stroessner das Ende der Terrorherrschaft eingeleitet hatte und dann selbst von den Pfründen der Macht profitierte, ist daran interessiert, als Friedensstifter und Reformer in die Geschichte einzugehen. So versprach er, der Justiz bei der Aufarbeitung der Stroessner-Epoche freie Hand zu lassen.
Die amerikanische Botschaft stiftete 40 000 Dollar für die Auswertung der Schreckensarchive. Bislang ist aber erst ein Zehntel der Dokumente gesichtet. In drei Monaten jedoch sollen dann alle Vorgänge und Exzesse erfaßt sein. »Bis dahin«, so Almada, »müssen wir auf Überraschungen gefaßt sein.«
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_165_ Paraguay
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* In Brasilien: Eine an den Füßen aufgehängte Indianerin wird mitder Machete zerhackt.