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SCHWEIZ Hitlers »kleine Gesandte«

Nicht nur Bankiers, Industrielle und Politiker sympathisierten mit dem Dritten Reich, auch Professoren buckelten - am schlimmsten die Germanisten.
aus DER SPIEGEL 19/1997

Der VÖLKISCHE BEOBACHTER erwähnte den prominenten Schweizer Gelehrten, der am 8. Oktober 1937 eines der Eröffnungsreferate bei der Reichstagung der nationalkirchlichen Deutschen Christen in Eisenach hielt, auf der Frontseite. Daß ein angesehener Neutraler in seinem Vortrag die »Verbundenheit von staatlich-völkischem und religiöschristlichem Denken« beschwor, war für die Nazis ein Prestigeerfolg.

Zu Hause rechtfertigte der Zürcher Literaturprofessor Emil Ermatinger, damals 63, seinen Einsatz im Reich als »Verständnisarbeit« und pries die fromme Gefolgschaft Adolf Hitlers als »sehr ernst zu nehmende religiöse Macht«.

Während bürgerliche Schweizer Blätter den Auftritt von Ermatinger als »Entgleisung« kritisierten, erinnerte die linke Presse an seine notorischen Nazi-Sympathien. Im Wintersemester 1934/35 hatte er an der Zürcher Technischen Hochschule ein Kolleg über »Das Dritte Reich und die Literatur« gehalten und dabei aus Hitlers »Mein Kampf« vorgelesen.

Seinem Renommee tat das keinen Abbruch, denn im Grunde teilten die maßgebenden Schweizer Germanisten Ermatingers Haltung, wie Julian Schütt, 33, in der ersten umfassenden Untersuchung über die »Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus« (Untertitel) nachweist*. Die Deutschkundler verstanden sich als »Führer und Bildner des geistigen Geschehens« und als Diener deutscher Innerlichkeit.

Bisher drehte sich bei der Neubewertung der jüngeren Schweizer Geschichte alles um Geld und Gold, um Handel und Handreichungen. Nun zeigt Schütt, daß es einen weitgehenden Konsens der bürgerlichen Elite sowohl in der Bewunderung für den Führerstaat, beim Antisemitismus als auch in der Betonung nationalpatriotischer Werte gab. An der Germanistik, so die WELTWOCHE, »wird der Geist und Ungeist faßbar, der ... die Schweiz eben heute wieder in Verruf gebracht hat«.

Im Gleichklang mit den Kollegen im Reich disqualifizierten die Schweizer Germanisten die Werke der »Literaten« der Weimarer Republik als »steril«, als »marxistische Begriffsklapperei« ohne »Blut und Boden«. Robert Faesi, Ermatingers Zürcher Kollege, rechtfertigte noch 1945 die Bücherverbrennungen der Nazis, weil damals »der Geist ... sein Ansehen, seine Würde, seine Macht verwirkt« habe und »zur Nurliteratur, zu verbrennbarem Papier geworden war«. Der Nationalsozialismus habe wenigstens »rücksichtslos die Spreu vom Weizen« getrennt.

Ermatingers Schüler Emil Staiger, der nach dem Krieg mit seiner garantiert politikfreien »Kunst der Inter-

* Julian Schütt: »Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus«. Chronos Verlag, Zürich; 344 Seiten; 49 Mark.

pretation« (Buchtitel) auch in der Bundesrepublik Schule machte, schloß sich 1933 in Zürich für kurze Zeit der faschistischen Nationalen Front an - als »heilsames Gegengewicht gegen sterilen Ästhetizismus«, wie er seinem Lehrer Ermatinger schrieb, der die Aufbruchstimmung der Jugend ausdrücklich begrüßte.

Eine selbstverständliche deutschnationale Einstellung einte nach dem Ersten Weltkrieg die deutschsprachigen Philologen. Ein Gelehrter von hoher Reputation wie Fritz Strich hielt die »deutsche Frage« für das »tiefste und schwerste Problem der Weltgeschichte überhaupt« - zu einer Zeit, als er in seiner Heimat für einen Germanistik-Lehrstuhl nicht mehr in Frage kam, weil er Jude war.

1929 ging Strich ins provinzielle Bern und pflegte dort freundschaftlichen Umgang mit dem Mediävisten Helmut de Boor. Der war bekennender Nazi, spitzelte für die deutsche Botschaft und forderte seine studierenden Landsleute auf, »als die kleinen Gesandten des Dritten Reiches« zu wirken. Seine Kollegen hinderte das nicht, ihn noch 1944/45 zum Dekan der philosophisch-historischen Fakultät zu wählen.

Die Ausweisung de Boors nach Kriegsende war die Folge parlamentarischen Drucks, nicht ein Akt der Hochschul-Selbstkritik. Geschadet hat das de Boors Laufbahn nicht: 1949 erhielt er einen Lehrstuhl an der Freien Universität Berlin.

Über keinen anderen Wissenschaftler aber wurde in der Schweizer Regierung, im Parlament und vor Gericht so oft verhandelt wie über den Berner Extraordinarius Jonas Fränkel.

In einer armen jüdischen Kaufmannsfamilie in Krakau aufgewachsen, war Fränkel schon als Gymnasiast durch Schwerhörigkeit derart behindert, daß er sich den Lehrstoff, auch die deutsche Sprache, selbst aus Büchern beibringen mußte. Über Wien kam er 1898 als Student nach Bern und erregte mit gescheiten Publikationen und Arbeiten auf dem schwierigen Feld der Editionstechnik Aufsehen.

Carl Spitteler, 1919 Nobelpreisträger und bedeutendster Schweizer Literat des ersten Jahrhundertdrittels (Hauptwerk: »Olympischer Frühling"), machte den eigenbrötlerischen Philologen zu seinem Vertrauten. Fränkel sollte seine Werke herausgeben, die Biographie schreiben und später seinen Nachlaß verwalten.

Doch als Spitteler 1924 starb, stand davon nichts im Testament. Seine Familie bestritt jede privilegierte Stellung Fränkels und begann mit Hilfe der Bundesbehörden einen jahrelangen Rechtsstreit - schadenfroh unterstützt von den tonangebenden Literatur-Ordinarien und deren publizistischen Claqueuren.

Sie interpretierten die unverblümte Kritik des scharfzüngigen Kollegen schon früh als mangelnden Anpassungswillen und drohten dem »Literaturjuden« und »hergewehten Asiaten« (so der Basler SAMSTAG) mit Ausweisung: »Wer Wert darauf legt, sich bei uns niederzulassen«, belehrte ihn der Genfer Ordinarius Gottfried Bohnenblust, den Fränkel böse verspottet hatte, »wird sich mit den Grundtatsachen unseres Geisteslebens ... abfinden müssen.«

Der Haß steigerte sich ins Groteske, als sich Fränkel 1931, allem Widerstand Ermatingers und anderer nationaler Literaturwarte zum Trotz, den Auftrag für eine eigene Edition der Werke Gottfried Kellers ergatterte. Neben der philologischen Arbeit halste sich der Wissenschaftler auch noch die verlegerische Betreuung auf - bis das Projekt seine Kraft überforderte. »Der Emigrant«, hieß es nun, »blockiert unsere Nationaldichter.«

Jahrelang diente Fränkel der Schweizer Philologenzunft und vielen Politikern als probater Prügelknabe. Seine Weigerung, sich im Zeichen der geistigen Landesverteidigung in die Einheitsfront der bürgerlichen Elite einzuordnen und die autoritäre Staatsführung zu unterstützen, machte ihn praktisch vogelfrei.

In der Einleitung zum 14. Band seiner Keller-Edition hatte Fränkel 1936 die Berliner Stadtvogtei des 19. Jahrhunderts als idyllische »Vorläuferin deutscher Konzentrationslager des 20. Jahrhunderts« bezeichnet. Die »unnütze Glosse«, befanden Politiker 1941, sei ein Beweis für »hebräische Bosheit«; seine »unvorsichtigen Bemerkungen« hätten »im Reich böses Blut gemacht«; er habe zu verantworten, daß Kellers Werk in Deutschland »vollständig gesperrt« sei.

Fränkel war wie vor den Kopf geschlagen: »Wie muß wohl ein Eidgenosse geistig organisiert sein, der schon im Auftauchen des Wortes Konzentrationslager eine Staatsgefahr wittert!«

Als der Krieg überstanden war, blieben die Hitler-Sympathisanten an den Universitäten ebenso obenauf wie jene Unternehmer, die mit dem Dritten Reich kollaboriert hatten.

Emil Staiger gab im Rückblick auf die Zeit seiner Nazi-Begeisterung »manche Irrfahrt« zu, mehr nicht. Über Ermatingers geschäftstüchtige Beteiligung an Publikationen wie Reclams monumentaler »Deutscher Literatur in Entwicklungsreihen«, die eine »Auswahl des für die nationale Wiedergeburt unseres Volkes wesentlichsten Erbgutes aus der deutschen Dichtung« darstellen sollte, breitete sich der Mantel gnädigen Vergessens.

Auch die bereitwillige Teilnahme an Nazi-Veranstaltungen war am Kriegsende kein Thema mehr, ebensowenig die Mißachtung von Hilfsgesuchen emigrierter Literaten.

Wohl nicht ganz zufällig entwickelte Staiger in dieser Zeit des Verdrängens und Vergessens seine Methode der »werkimmanenten Interpretation«. Sie eröffnete auch den Nazi-Philologen, die in der Bundesrepublik schnell wieder an ihre alten Katheder zurückkehrten, die Möglichkeit, Literaturbetrachtung zu einer Sache reiner Textauslegung zu machen, frei von jeder politischen oder gesellschaftlichen Analyse.

Doch am 17. Dezember 1966, als ihn seine bürgerlichen Freunde mit dem Literaturpreis der Stadt Zürich ehrten, bereitete der Zürcher Schöngeist seiner eigenen These von der angeblich objektiven »Stilkritik« ein Ende. Der distinguierte Literatur-Lord verlor seine gewohnte Contenance, die alten Vorurteile gegen die »Asphaltliteratur« wurden wieder lebendig: Die Werke der Gegenwart, rief er der Festgemeinde zu, »wimmeln von Psychopathen, von gemeingefährlichen Existenzen, von Scheußlichkeiten großen Stils und ausgeklügelten Perfidien«.

Max Frisch reagierte sarkastisch: »Endlich darf man wieder sagen, daß es eine entartete Literatur gibt.« Und die ZÜRCHER WOCHE staunte damals, daß »ein Mann solchen Ranges ... seine eigene Abdankungsrede spricht«.

Es war die Abdankung einer ganzen Generation von Germanisten - doch keineswegs der Auftakt zur kritischen Bewertung ihrer Geschichte. Die Zunft, erfuhr Julian Schütt bei der Arbeit an seiner Dissertation, halte bis heute dicht. »Daß alles so gewesen ist«, bestätigten ihm Zeitzeugen »nur hintenherum«.

* Julian Schütt: »Germanistik und Politik. SchweizerLiteraturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus«.Chronos Verlag, Zürich; 344 Seiten; 49 Mark.

bürgi

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