KERNKRAFTWERKE Hochgradiges Risiko
Sechs Jahre lang bauten Ingenieure und Monteure der Mülheimer Kraftwerk Union (KWU) an Österreichs erstem Atomkraftwerk. Seit einem Jahr ist der Meiler betriebsbereit, doch ob dieses Produkt deutscher Ingenieurkunst je Strom liefern wird, scheint höchst zweifelhaft.
Atomlaien wie Wissenschaftler in Österreich trauen dem Kernkraftwerk nicht. Sie fürchten, daß sie mit der Atomfabrik, die ihnen die Deutschen 35 Kilometer nördlich Wiens bei Zwentendorf in die Donauniederung pflanzten, unkalkulierbare Risiken importiert haben.
Wiens regierende Sozialdemokraten, von widersprüchlichen Expertenurteilen zusehends verwirrter, haben die Entscheidung darüber, ob das Werk je in Betrieb genommen werden soll, derweil delegiert -- an die Wähler. In einem Volksentscheid dürfen sie am 5. November darüber befinden, ob der Meiler Made in Germany Strom erzeugen oder die erste komplette Atomruine der Welt werden soll.
Das österreichische Atomtheater, in der Bonner Republik kaum registriert, könnte zum Lehrstück geraten -- nicht zuletzt für die Bundesdeutschen und ihre Atomindustrie.
Es sind gewichtige Anwürfe, die sich die Siemens-Tochter KWU im Nachbarstaat anhören muß. Die österreichische Atomkritik zielt auf ein zentrales Bauelement jedes Kernkraftwerks dieses Typs: das sogenannte Druckgefäß, den eigentlichen Reaktorkessel, in dem die Kernspaltung abläuft. Dieser Super-Kessel, so der Vorwurf, sei nicht explosionssicher.
Wenn dieser Verdacht zu Recht besteht, wenn der Reaktorkessel tatsächlich ein hochgradiges Sicherheitsrisiko darstellt, dann müßten in der Bundesrepublik Atomkraftwerke gleich reihenweise abgeschaltet werden.
Denn Zwentendorf ist überall. Siedewasser-Reaktoren wie im österreichischen Donautal hat die KWU an der Elbmündung bei Brunsbüttel und an der Weser bei Würgassen gebaut. Und auch die Kessel anderer Reaktortypen, die noch höherem Druck standhalten müssen, wären dann nicht betriebssicher -- gleichsam atomare Zeitbomben.
Der Reaktordruckkessel vom Typ Zwentendorf arbeitet bei Temperaturen von 286 Grad Celsius und bei einem Innendruck von 72,4 atü, dem 35fachen Druck eines Autoreifens. Explodiert der Kessel, dann wird radioaktives Inventar, das mehreren hundert Hiroshima-Bomben entspricht, in die Atmosphäre geschossen; Strahlentote und Atomkrüppel wären unvermeidlich, Hunderte von Quadratkilometern auf viele Jahre strahlenverseucht.
In der Bundesrepublik wurde schon diverse Male bei Genehmigungsverfahren die Sicherheit von Kesseln vor Gericht verhandelt. In einem Fall machten sich Richter bereits die Einwände der Atomgegner zu eigen: Im Wyhl-Prozeß verordnete das Freiburger Verwaltungsgericht die Auflage, um den Druckbehälter herum einen meterdicken Betonberstschutz zu ziehen.
Daß die. Zweifel an der Sicherheit der Atomkessel nur zu berechtigt sind, belegen nun auch Dokumente, die aus gutem Grund vertraulich gestempelt wurden: Bedenken der Reaktorsicherheitskommission (RKS), eines Wissenschaftlergremiums des Bonner Innenministeriums.
Die RSK-Wissenschaftler hatten 1969 über die Sicherheitsvorkehrungen für das Kernkraftwerk Biblis A beraten. Sie fanden den bis dahin vorgesehenen Sicherheitsaufwand zu dürftig und forderten in einem vertraulichen Bericht vom 6. November 1969 »im Hinblick auf ein mögliches Versagen des Reaktordruckhehälters ... Vorschläge der Herstellerin für geeignete Maßnahmen zur Beherrschung eines solchen Störfalls«.
Das Reaktorgebäude, so präzisierten die Wissenschaftler, sei so auszulegen, daß es »mit Sicherheit den Drücken und Temperaturen standhält, die infolge eines vollständigen Kühlmittelverlust-Unfalls durch Leitungsbruch oder Bersten des Reaktordruckgefäßes auftreten können (Auslegungsunfall)«.
Der Reaktorblock Biblis A ist gegen den » Auslegungsunfall« dennoch nicht geschützt worden, wie auch kein anderer der seither gebauten oder geplanten Atommeiler. Die Reaktorsicherheitskommission flüchtete sich mittlerweile in die Sprachregelung vom »hypothetischen Störfall«, ein Unfall mithin, der nicht sein kann, weil er nicht sein darf.
Warum ein Bersten des Druckkessels so gänzlich hypothetisch behandelt werden mußte, warum die wirklichen Risiken behend beiseite geschoben wurde, dokumentiert der Brief eines RSK-Mitglieds an seine Kollegen. Der Diplomphysiker Dr. Otto Schaffer von der Kernforschungsanlage in Jülich schrieb damals:
Der eigentliche Grund dürfte meines Erachtens wohl darin zu suchen sein, daß eine Beherrschung der als hypothetisch bezeichneten Störfälle selbst mit aufwendigen Mitteln als recht fragwürdig angesehen wird. Bei genauerem Hinsehen wird einem nämlich ohne weiteres klar, daß es eigentlich keinen stichhaltigen Grund dafür gibt, das Versagen eines Druckbehälters mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit zu belegen als zum Beispiel das einer druckführenden Rohrleitung im primären Kühlsystem ... Bekanntlich ist auch ein noch so sorgfältig hergestellter Druckbehälter niemals völlig fehlerfrei. Ähnlich äußerte sich der Direktor des Hahn-Meitner-Instituts für Kernforschung in Berlin, Karl-Erik Zirnen. Er schrieb am 8. 9. 1969 an seine RSK-Kollegen: »Das Bersten eines Reaktor-Druckgefäßes läßt sich niemals mit Sicherheit ausschließen. Bei einer Erzeugung von etwa 5 kg Spaltprodukten + Pu pro Tag, wie es einem KKW von 1 GW el.* entspricht, hätte das Entweichen von nur 1% des Spaltprodukt-Inventars aus dem Contaimnent eine katastrophale Wirkung auf die weitere Umgebung des KKW.«
Hat Experte Schaffer, der seine Warnung nie in die Öffentlichkeit trug, recht, dann wäre ein solcher »Störfall«, das Platzen eines Druckkessels, nicht weniger wahrscheinlich als andere atomare Unfälle, die es bereits gab: Die apokalyptische Vision einiger notorischer Kernkraftgegner rückte in greifbare Nähe.
Dabei kennen die Atomkritiker in Österreich die Bedenken der deutschen RSK-Experten bisher noch nicht. Sie stützen ihre Kritik vornehmlich auf die laxen Sicherheitsauflagen ihrer heimischen Behörden.
So wirft eine Wissenschaftlergruppe vom Wiener Institut für Festkörperphysik den österreichischen Genehmigungsbehörden vor, beim Druckbehälter des Kraftwerks Zwentendorf weniger strenge Maßstäbe angelegt zu haben als bei herkömmlichen, nicht-nuklearen Dampfkesseln: Die Behörden hätten die strengen Vorschriften der österreichischen Dampfkesselverordnung in mehreren wichtigen Punkten durch eine Ausnahmebewilligung außer Kraft gesetzt.
Nach der geltenden Verordnung sei es zum Beispiel verboten, daß Schweißnähte in »biegespannungsgefährdeten« Zonen verlaufen, also vor allem in jenen Bereichen, wo der Kessel konstruktionsbedingt besonders stark beansprucht wird. Genau dort aber sind die Schweißnähte beim KWU-Reaktorkessel zu finden.
* Giga-watt (1000) Megawatt) elektrische Leistung; zum vergleich: das Kraftwerk Biblis B hat eine Leistung von 1240 Megawatt; Pu = Plutonium, KKW = Kernkraftwerk.
Österreichs Bauminister Josef Moser, verantwortlich für die Sondererlaubnis, versuchte die Kritik abzubiegen: Das konstruktive Manko sei durch ein Mehr an Materialprüfungen, Fertigungskontrollen und betriebsbegleitender Überwachungstechnik wettgemacht. Mosers Rechtfertigungsversuch entspricht offenkundig der von einem amerikanischen Atomexperten kürzlich angeprangerten Übung, »in die Atomtechnik gewissermaßen Sicherheit hineinzuinspizieren«.
Doch selbst mit den Inspektionen steht es bei dem österreichischen Kernreaktor nicht zum besten. Die Wiener Physiker fanden heraus, daß die wichtigste Zuverlässigkeitsprüfung für Druckkessel, die sogenannte »kalte Wasserdruckprobe«, für den einmal in Betrieb genommenen KWU-Reaktor nicht mehr vorgesehen ist. Bei diesem Test wird kaltes Wasser mit einem Druck in den Kessel gepumpt, der um ein Drittel höher als der Betriebsdruck liegt.
Während die Genehmigungsbehörde bei Atomkesseln den strapaziösen Härtetest »aus betriebstechnischen Gründen nicht für opportun« hält, ist er bei konventionellen Dampfkesseln regelmäßig, alle drei bis sechs Jahre, vorgeschrieben.
Welchen Eindruck derlei Einwände auf die österreichische Wählerschaft machen, ist bislang völlig offen. Doch sollte sich eine Mehrheit der Österreicher am 5. November gegen den Betrieb des Kernkraftwerks Zwentendorf entscheiden, es wäre ein bitterer Tag für die deutsche Atomindustrie.
Draußen, bei der Kundschaft in aller Welt, wäre die Publizität dem Absatz überaus abträglich. Und daheim in Deutschland erhielten die Atomkraftgegner noch mehr Auftrieb.