ZEITGESCHICHTE Hoher Preis
Die neue Heimat verlieh ihnen die höchsten Auszeichnungen, Sportarenen und Musikpaläste tragen ihren Namen, und für ihre technologischen Ersttaten wurden sie als »Pioniere« und »Väter« des Raumfahrtzeitalters gerühmt. Ohne ihr Wissen, Organisationstalent und Engagement stünde wahrscheinlich keine »Pershing 2« auf westdeutschem Boden, das Programm der amerikanischen Mondlandung wäre in Verzug geraten.
Mit Hilfe der deutschen Wissenschaftler, Raketenbauer, Techniker, Mediziner und Biologen, die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Amerika importiert wurden, haben sich die USA, so urteilt die amerikanische Journalistin und TV-Produzentin Linda Hunt, auf einen beispiellosen »wissenschaftlichen Siegesfeldzug« begeben - allerdings gegen einen »hohen moralischen Preis«.
Linda Hunt hat 18 Monate lang eine bislang undurchsichtige Episode der Nachkriegszeit durchleuchtet: die »Operation Paperclip« (Operation Büroklammer), in deren Verlauf zwischen 1945 und 1955 insgesamt 765 deutsche und österreichische Wissenschaftler in die Vereinigten Staaten geschafft oder von US-Dienststellen in Europa angeheuert wurden, ausschließlich zu dem Zweck, so Linda Hunt, »das Wissen dieser Spezialisten auszubeuten«.
Die amerikanischen Militärs, so fand die Journalistin, waren so versessen auf die Nazi-Spezialisten, daß sie sich weder um die Proteste »anderer Regierungsstellen noch um geltendes US-Recht« scherten.
Linda Hunts Recherchenbericht wird am Montag dieser Woche im ältesten Anti-Atomrüstungs-Magazin der Welt veröffentlicht, dem 1945 unter dem Hiroschima-Schock gegründeten »Bulletin of the Atomic Scientists«.
Bislang geheimgehaltene Paperclip-Dokumente belegen nach Ansicht der Autorin die doppelte Moral der Siegermacht Amerika. Während amerikanische Staatsanwälte in Nürnberg Wehrmachtsführer, Parteibonzen, Euthanasie-Ärzte, KZ-Kommandanten und Industrielle des Dritten Reiches anklagten, war eine dem US-Führungsstab unterstellte Geheimdienst-Truppe, die »Joint Intelligence Objectives Agency« (JIOA), eifrig damit beschäftigt, die braune Vergangenheit einiger Dutzend Wissenschaftler zu vertuschen.
Der JIOA war vor allem daran gelegen, denjenigen Wissenschaftlern Persilscheine zu beschaffen, die bereits in den Staaten für die Army arbeiteten, anfangs noch in militärischem Gewahrsam. Ihnen sollte nachträglich eine offizielle Einwanderung in die USA ermöglicht werden. Dazu war die Zustimmung des US-Außenministeriums und der Einwanderungsbehörde erforderlich.
Beide Behörden waren an eine Einschränkung gebunden, die Präsident Truman für das Paperclip-Projekt verordnet hatte: Keine Person, die nach Kenntnis des US-Oberkommandos in Europa »ein Mitglied der Nazi-Partei gewesen oder in deren Aktivitäten mehr als marginal verwickelt war oder die den Nazismus oder Militarismus aktiv unterstützt hatte«, so dekretierte Truman, »darf in die USA gebracht werden«.
Diesen Erlaß jedoch verstanden die Manager im US-Kriegsministerium trickreich zu umgehen. Linda Hunt: »Die Lösung war sehr einfach.«
Zu den Aufgaben der US-Militärregierung im besetzten Deutschland gehörte es damals, für die JIOA-Behörde zu erforschen, ob die betreffenden deutschen Wissenschaftler sich Kriegsverbrechen schuldig gemacht oder Nazi-Organisationen angehört hatten. Diese Recherchen, die von den rund 2500 Angehörigen der Spionage-Abwehrtruppe CIC durchgeführt wurden, bildeten die Grundlage eines Sicherheitsreports. Als entscheidendes Kriterium galt, ob die jeweilige Person als »überzeugter Nazi« einzustufen sei.
Die Abwehrspezialisten des Führungsstabs sahen das weniger eng. In einem geheimen Memorandum mahnte JIOA-Direktor Bosquet Wev im Juli 1947, eine mögliche Rückkehr der deutschen Wissenschaftler nach Deutschland stelle »ein weit größeres Sicherheitsrisiko dar als jede frühere Nazi-Mitgliedschaft oder auch Nazi-Sympathien, die sie immer noch haben mögen«.
Entsprechend verfuhr die Wev-Truppe. Die Dienststellen in Europa erhielten Weisung, »Dossiers mit belastenden Informationen zurückzuhalten«, sie jedenfalls nicht »an das Außen- oder an das Justizministerium« zu schicken.
Doch auch wenn das Außenministerium den Wunsch der JIOA nach einer Einwanderungsbewilligung aufgrund von belastenden Unterlagen schon abgeschlagen hatte, gaben Wev und seine Leute nicht auf. Sie schickten die Sicherheitsdossiers nach Europa zurück - mit der Anweisung, die Einstufung als _(Oben: mit General Dornberger in ) _(Peenemünde; ) _(unten: bei Unterdruckversuchen. )
»überzeugter Nazi« noch einmal zu überarbeiten. So konnte auch V-2-Entwickler Wernher von Braun »legal« in Amerika eingebürgert werden.
Über den Peenemünder von Braun (Aktennummer P 0030) hieß es noch in dem Sicherheitsreport vom 18. September 1947, er sei zwar »kein Kriegsverbrecher«, aber immerhin »Major in der SS« gewesen, wenn auch nur »ehrenhalber«. Auch würden die Informationen nicht ausreichen, den Raketenpionier als »überzeugten Nazi« zu bezeichnen. Gleichwohl stufte der Militärgouverneur den Raketeningenieur 1947 als »mögliches Sicherheitsrisiko« ein.
Wegen der unter diesen Umständen nur »geringen Wahrscheinlichkeit«, vom State Department ein Einwanderungsplazet zu erhalten, schickte die JIOA das von-Braun-Dossier zusammen mit den Beurteilungsunterlagen weiterer 13 Wissenschaftler retour. Im Begleitschreiben malte die JIOA die Folgen einer möglichen »Rückkehr des Spezialisten nach Deutschland« aus: »Ihr Können und Wissen« sollte dem Zugriff »anderer Nationen verweigert werden«. Im übrigen seien die negativen Beurteilungen »unverständlich«, weil keiner »der betreffenden Spezialisten als politisch aktiv beschrieben« worden sei.
Der Rüffel genügte. Alle 14 Dossiers wurden verändert. Fünf Monate später konnte die JIOA einen »gereinigten« von-Braun-Report präsentieren. Seine »Partei- und SS-Zugehörigkeit« wurden in der Neufassung als bloßer »Opportunismus« - wie ohnehin »bei der Mehrheit wahrscheinlich« - ausgelegt. Und da von Braun sich während seines damals bereits zweijährigen Aufenthaltes in den USA »vorbildlich verhalten«, insbesondere »nicht gegen US-Interessen verstoßen« habe, könne er »nicht als Sicherheitsrisiko eingestuft« werden.
Mehr als 130 solcher ursprünglich belastenden Sicherheitsbeurteilungen hat Linda Hunt überprüft. Alle waren nachträglich geändert, aus allen war die einschlägige Einstufung als Sicherheitsrisiko entfernt worden.
Von der Methode der Paperclip-Leute, belastende Aussagen getrennt von den Beurteilungsunterlagen aufzubewahren oder die Dossiers ändern zu lassen, profitierte auch der einstige Direktor der V-2-Produktion, Arthur Rudolph, den seine Vergangenheit im letzten Jahr dann doch noch einholte: Er gab seine US-Staatsbürgerschaft auf, kehrte in die Bundesrepublik zurück, um einem Verfahren in Amerika zu entgehen.
»100prozentiger Nazi. Gefährlicher Typ, Sicherheitsrisiko ... Internierung empfohlen« heißt es im ersten, unmittelbar nach Kriegsende erstellten Dossier der US-Militärs über Rudolph, der schon am 1. Juni 1931 der Hitler-Partei beigetreten war (Mitgliedsnummer: 562 007).
Die negative Beurteilung des Raketenbauers, der im unterirdischen Mittelwerk »Dora« bei Niedersachswerfen im Harz für den Zusammenbau der »Vergeltungswaffe« V 2 verantwortlich war, wurde zwei Jahre später noch bekräftigt.
Im Kriegsverbrecherverfahren »U.S. Army gegen Kurt Andrae et al.« verstrickte sich Rudolph, der als Zeuge gegen seinen Mitarbeiter, Dora-Generaldirektor Georg Rickhey, vernommen wurde, in widersprüchliche, ihn selber belastende Aussagen. So gab er zuerst beispielsweise an, nie gesehen zu haben, daß Arbeiter der Raketenfabrik »bestraft, geschlagen, gehängt oder erschossen« worden seien.
Im Kreuzverhör des Army-Anwalts Major Eugene Smith mußte Rudolph dann jedoch einräumen, daß er zwölf an einem Kran aufgehängte Kriegsgefangene bemerkt habe. Nach Ansicht des damaligen Staatsanwalts Eli Rosenbaum hätte Rudolph »neben Rickhey auf die Anklagebank gehört«. Ebenso steht für Rosenbaum fest, daß Rudolph »unmittelbar befaßt war mit Einsatz und Mißbrauch Abertausender von KZ-Insassen, von denen viele sich unter seiner direkten Aufsicht buchstäblich zu Tode schufteten«.
Doch die an Rudolph interessierten Raketenbauer der U.S. Army verschafften dem engen Mitarbeiter von Brauns tadellose Papiere. Rudolphs Prozeßaussage, sogar sein Zeugenauftritt wurden vergessen. Der »saubere Sicherheitsreport« des ehedem gefährlichen Typen »segelte« Ende 1948 anstandslos »durch Außen- und Justizministerium«, schreibt Linda Hunt. Der Direktor aus dem Dora-Werk wurde amerikanischer Staatsbürger.
Von den Arbeiten Siegfried Ruffs, ehemals Leiter des Fliegermedizinischen Instituts der deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt, waren die Amerikaner so angetan, daß sie ihn gleich im Aero Medical Center der U.S. Army in Heidelberg gemeinsam mit seinen Kollegen Hermann Becker-Freysing und Konrad Schaefer anstellten. Die drei setzten ihre Forschung fort, wo sie sie bei Kriegsende unterbrochen hatten.
Ruff etwa setzte in Heidelberg eine Unterdruckkammer wieder in Betrieb, in der während des Krieges 80 Dachauer KZ-Häftlinge bei Druckversuchen ihr Leben verloren hatten. Und Schaefer vervollständigte - diesmal für ein US-Handbuch - seine Studie über die Trinkbarkeit von Salzwasser in Seenotfällen. Dabei kamen ihm die einschlägigen Erfahrungen zupaß, die er gemeinsam mit Becker-Freysing an Dachau-Insassen hatte gewinnen können. In den Nürnberger Militärprozessen wurde Becker-Freysing »grausamer Versuche an Menschen« für schuldig befunden. Ruff und Schaefer wurden freigesprochen. Daß sie als »Verdächtigte festgenommen« worden waren, hätte in ihren Führungszeugnissen mehr als nur einen Schönheitsfleck hinterlassen, ihren Einsatz für die U.S. Army jedenfalls erschwert. Die ließ denn auch diesen Umstand schlicht verschwinden.
»Kein Zweifel« besteht für Linda Hunt, daß »die US-Militärs in der Beschäftigung von Kriegsverbrechern nichts Ehrenrühriges haben finden können«. Den Militärs schien es wichtiger, so die der Operation Paperclip zugrundeliegende Idee, die deutschen Experten in der eigenen Rüstung einzusetzen, als sie in der Heimat zu belassen: Dort hätten sie womöglich an einer heimlichen Wiederbewaffnung mitarbeiten können, oder - schlimmer noch - sie wären dem Zugriff der Sowjets ausgesetzt gewesen.
Oben: mit General Dornberger in Peenemünde;unten: bei Unterdruckversuchen.