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Spiegel des 20. Jahrhunderts Hormone und Heldentaten

PORTRÄTS
aus DER SPIEGEL 14/1999

Frederick Banting und Charles Best

Die Entdecker des Insulins

Um die Bauchspeicheldrüse ("Pankreas"), ein geheimnisvolles Organ, haben sich zwei Medizinstudenten besonders verdient gemacht: 1869 entdeckte der 22jährige Deutsche Paul Langerhans die »Inselzellen« der Drüse, 1921 isolierte der gleichaltrige Kanadier Charles Best das Hormon dieser Zellen: »Insulin« - den körpereigenen Wirkstoff, der den Zuckerhaushalt reguliert.

Insulinmangel läßt den Blutzuckerspiegel steigen, Diabetes mellitus stellt sich ein. »Schmecke den Urin des Patienten«, riet der Leibarzt des englischen Königs Charles II., »ist er süß wie Honig (lateinisch: mellitus), wird er hinschwinden, schwächer werden, einschlafen und sterben.«

Ein paar Hunde wurden von Charles Best und seinem Kompagnon Frederick Banting im Sommer 1921 zu Forschungszwecken umgebracht. Aus den entfernten Bauchspeicheldrüsen der Tiere und aus Schlachthofdrüsen ungeborener Kälber isolierten die beiden Nachwuchswissenschaftler einen Extrakt, den sie für Insulin hielten. Tapfer injizierten sie sich die farblose Flüssigkeit selbst, um die Verträglichkeit zu testen. Der Selbstversuch öffnete den Weg, durch Hormongabe eine sonst tödlich verlaufende Krankheit erstmals wirksam zu behandeln. An der Zuckerkrankheit leiden allein in Deutschland derzeit rund fünf Millionen Menschen. »Insulinpflichtig«, so das Fachwort, sind fast zwei Millionen Patienten. Das Hormon wird seit einigen Jahren nach gentechnischen Verfahren hergestellt.

Am 11. Januar 1922 wurde der 14jährige Leonhard Thompson in Toronto als erster schwerkranker Diabetiker mit Insulin-Injektionen vor dem sicheren Tod gerettet. Im Jahr darauf erhielt Banting gemeinsam mit dem Laborleiter John Macleod den Nobelpreis für Medizin. Der Professor teilte das Geld mit seinem Studenten, denn: »Ich bekam den Nobelpreis nicht für meine Entdeckung des Insulins, sondern für meine Entdeckung Bests.«

Ferdinand Sauerbruch

Cholerisches Genie

Den Krieg hielt er für einen »blutigen Lehrmeister«, sein Handwerk für eine Kunst. Was immer er tat, es geschah »auf des Messers Schneide«. Tausende von Totenscheinen hat er unterschrieben, Zehntausenden Patienten das Leben gerettet.

Ferdinand Sauerbruch, 1875 als kleiner Leute Kind im Rheinland geboren, galt in der ersten Hälfte des Jahrhunderts als ein chirurgischer Titan. Jeder Deutsche kannte seinen Namen. Hunderte von Geschichten wurden über Sauerbruchs Heldentaten kolportiert. Ausländische Potentaten boten eine Million Mark, nur um von ihm operiert zu werden.

Daß dem Chirurgen soviel Zuneigung entgegengebracht wurde, lag nicht nur an seinem bemerkenswerten handwerklichen Geschick, sondern vor allem an seinem nimmermüden Engagement. Schon als 26jähriger Jungmediziner in einer thüringischen Landarztpraxis war er rastlos unterwegs. Später operierte er, wenn es sein mußte, Tag und Nacht.

Die Chirurgie verdankt dem cholerischen Operateur zwei grandiose Verfahren: die Unterdruckkammer, 1903 gebaut, ermöglichte erstmals Lungenoperationen am geöffneten Brustkorb, letzte Rettung für viele Tuberkulöse; und eine bewegliche Prothese, die »Sauerbruch-Hand«, nutzte die Muskeln des Amputationsstumpfes und gab Kriegsopfern ein wenig Selbständigkeit zurück.

Sechsmal wechselte der Professor seinen Wirkungsort - Breslau, Greifswald, Marburg, Zürich, München, Berlin (ab 1928) - , überall waren seine Vorlesungen überfüllt. Den Studenten war Sauerbruch Verheißung und Heimsuchung zugleich: Prüflinge, die er während einer Autofahrt examinierte, setzte er, falls ihm deren Wissen dürftig schien, unterwegs am Straßenrand aus.

In beiden Weltkriegen war der Professor Generalarzt. 1945 setzten die Russen den Direktor der Charité als Berliner Gesundheitsstadtrat ein, denn Nazi war er nie gewesen. Die Verfilmung seines Lebens mit dem Alt-Star Ewald Balser wurde in den fünfziger Jahren ein großer Erfolg. Nach heutigen Normen hätte Sauerbruch nicht mal Medizin studieren dürfen, sein Abiturzeugnis war miserabel. Der große Arzt starb altersverwirrt 1951 an einem Schlaganfall.

Franco Basaglia

Der Revolutionär

»La libertà è terapeutica«, Freiheit heilt, hieß die Maxime des venezianischen Psychiaters Franco Basaglia, der es sich zur Lebensaufgabe machte, Italiens gefängnisartige psychiatrische Kliniken zu schließen und die dort Internierten wieder ins Alltagsleben einzugliedern.

In der norditalienischen Provinzhauptstadt Görz (Gorizia) hatte Basaglia 1961 die Leitung der örtlichen Nervenheilanstalt übernommen - und in der Klinik »ungeheuerliche Zustände« vorgefunden: In dem verwahrlosten Massenasyl für Geistesverwirrte vegetierten die Patienten, zum Teil seit Jahrzehnten, elend und entrechtet wie Gulag-Häftlinge dahin. Basaglia beschloß, den psychiatrischen Kerker zu öffnen und den Insassen die verlorene Freiheit zurückzugeben.

Um sie wieder an die Außenwelt zu gewöhnen, schickte er sie zu Einkäufen oder Café-Besuchen in die Stadt. Alle Klinikangelegenheiten ließ er auf Anstaltsvollversammlungen gemeinsam von Patienten, Ärzten und Pflegern diskutieren. Der »camerino«, die geschlossene Abteilung, wurde aufgelöst, Besucher hatten jederzeit freien Zutritt.

Als Chef der Nervenklinik von Triest setzte Basaglia sein Befreiungswerk in den siebziger Jahren fort - und wurde zur Leitfigur der »psichiatria democratica«, einer Reformbewegung, die schließlich ganz Italien erfaßte: Allenthalben wurden Heilanstalten geschlossen, die Patienten in ihre Familien zurückgeschickt oder in psychiatrisch betreuten Wohngemeinschaften untergebracht.

Unterstützt von Italiens Kommunisten, aber auch von christdemokratischen Politikern, erwirkten die Basaglia-Anhänger 1978 ein Gesetz, das ihr Reformvorhaben nun auch offiziell durchsetzen sollte. Doch das Gesetz, das die Abschaffung der großen Heilanstalten und eine gemeindenahe Versorgung in den Allgemeinen Krankenhäusern vorsah, wurde vor allem im italienischen Süden von den Behörden sabotiert. Viele Ärzte und nicht zuletzt Familien, die mit den heimgekehrten Patienten nicht zurechtkamen, protestierten gegen die Reform: 1990 wurde das Gesetzeswerk überarbeitet und entschärft.

Basaglia, der 1980 an einem Gehirntumor starb, hatte seine Reformarbeit stets als Experiment mit ungewissem Ausgang betrachtet. »Wir dürfen nicht an Schablonen festhalten«, meinte der Psychiater, der von seinen deutschen Kollegen wenig hielt: »Wenn man die hört«, fand er, »könnte man glauben, das Leben besteht aus sturen Regeln.«

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