ZWEITES HITLER-BUCH Hunger und Liebe
Im Mai 1945 händigte der Münchner Verlagsangestellte Josef Burg dem amerikanischen Hauptmann Paul M. Leake, der als Besatzungsoffizier deutsche Archive beschlagnahmte, ein Buchmanuskript aus, über das der Amerikaner seiner vorgesetzten Dienststelle berichtete: »Es wurde vor über 15 Jahren geschrieben und in einen Tresor geschlossen. Herr Burg hatte strengste Befehle, nach denen das Manuskript weder gedruckt noch irgend jemandem gezeigt werden durfte.«
Hauptmann Leake hielt ein Paket von 324 Schreibmaschinenseiten in den Händen, das 17 Jahre lang vom NS-Zentral-Verlag Franz Eher Nachfolger als geheime Verschlußsache gehütet worden war - seit Kriegsbeginn im Luftschutzkeller. Kaum ans Licht gehoben, verschwand das Manuskript noch einmal für weitere 15 Jahre in der Abteilung »II. Weltkrieg« des amerikanischen Nationalarchivs in Washington.
In diesen Wochen nun, 32 Jahre nach der Niederschrift, wird das Manuskript von dem amerikanischen Universitätsprofessor Gerhard L. Weinberg in der Bundesrepublik veröffentlicht. Im Vorwort seiner Publikation überläßt Professor Weinberg dem Verfasser alle Ehre: »Der Herausgeber übernimmt die alleinige Verantwortung für die Einleitung und den Kommentar, während der ... Inhalt des Dokuments, wie
sich versteht, allein dem Autor zur Last fällt.«
Der Autor, dessen Werk nach so langer Zeit gedruckt wird: Adolf Hitler. Der Inhalt des bisher unbekannten
zweiten »Führer«-Buches nach »Mein Kampf": die Grundsätze einer nationalsozialistischen Außenpolitik.*
Der Vorsitzende der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) hat das Buch, wie Weinberg schlüssig rekonstruieren konnte, in den Sommermonaten des Jahres 1928 seinem Kriegskameraden und NS-Zentralverlagsleiter Max Amann in die Schreibmaschine diktiert, ein Schnellverfahren, mit dem der schlechte Stil des deutschen Erweckers und die Schwierigkeiten, die er mit der Grammatik hatte, allein freilich nicht erklärt werden können.
Ein schönes, aber nicht seltenes Beispiel für Hitlers Umgang mit der Sprache ist sein Lehrsatz über politische Zauderer. Verfasser Hitler über die Unentschlossenen:
»Weil eine politische Operation im Erfolg nicht ganz sicher ist oder im Resultat nicht restlos befriedigend sein wird, verzichten (die zaudernden Politiker) nicht nur auf die Durchführung, sondern erwarten im Falle diese trotzdem stattfindet, daß sie zumindest nur mit zurückgehaltenen Kräften erfolgt, ohne vollständige Hingabe in der stillen Hoffnung, sich vielleicht ein Hintertürchen des Rückzugs offen halten zu können, das ist der Soldat, der auf freiem Felde von einem Tank angegriffen wird und in Ansehung der Unsicherheit des Erfolges seines Widerstandes diesen von vornherein auch nur mehr mit halber Kraft führt.«
Wichtiger als die Indizien dafür, daß der Führer des deutschen Volkes nicht zu denen gehörte, die ihr Bestes als Stilisten gaben, sind jedoch die Aufschlüsse über Hitlers außenpolitischen und strategischen Wortschatz, dessen geringer Umfang ohne Zweifel ein Grund des hitlerischen Erfolgs war.
Der Messias des depossedierten Kleinbürgertums verfügte, wie jetzt auch in seinem zweiten Buch noch einmal nachgelesen werden kann, genau über jene politischen und strategischen Sprichwörter, mit denen immer die ganz großen Pläne ausreichend erläutert werden können.
Hitlers Repertoire für einen Aufriß der nächsten hundert Jahre europäischer und universeller Geschichte umfaßte an gängigen Redensarten: das Clausewitz-Wort vom Krieg als der »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln«, das Moltke-Zitat über das Glück, das »auf die Dauer nur beim Tüchtigen« zu finden ist, die wohlinformiert klingende Bezeichnung der Deutschen Bucht als »nasses Dreieck«, aus dem heraus England maritim nicht zu schlagen ist, und- die »schimmernde Wehr«, mit der am Ende alles zu machen sein wird.
Von ähnlicher Eindringlichkeit war denn auch der philosophische Hintergrund: »Politik ist werdende Geschichte. Geschichte selbst ist die Darstellung des Verlaufs des Lebenskampfes eines Volkes ... Das Leben selbst (ist) ein ewiger Kampf gegen den Tod. Die primitivste Kreatur kennt nur den Selbsterhaltungstrieb des eigenen Ichs, für Höherstehende überträgt er sich auf Weib und Kind, für noch Höhere auf die gesamte Art ... Der Größe des Triebes der Selbsterhaltung entsprechen die beiden mächtigsten Triebe des Lebens: Hunger und Liebe.«
Der Denker Hitler faßt diese Erkenntnisse, die den gläubigen Mitdenker mit einer - von Selbstbewunderung nicht freien - Scheu vor der Allgewalt des menschlichen Trieblebens erfüllen, schließlich dahin zusammen: »Das, was aber für den einzelnen Menschen gilt, gilt auch für Völker ... Dieselben Gesetze, die das Leben des Einzelnen bestimmen und denen diese unterworfen sind, haben damit ihre Geltung für das Volk. Selbsterhaltung und Forterhaltung sind die großen Antriebe zu jeglichem Handeln ... Wenn für jede Kreatur auf dieser Erde der Selbsterhaltungstrieb ... die elementarste Gewalt darstellt, die Möglichkeit der Befriedigung jedoch begrenzt wird, dann ist die logische Folge dessen der Kampf (der Völker) in all seinen Formen.«
Geschichte ist Triebleben, Politik ist Kampf »in all seinen Formen": Der Schritt zum Steinzeitmenschen als dem talentiertesten - weil bedenkenlosen - Politiker ist getan.
So darf ein Volk denn auch keine Bedenken kennen, wenn es gilt, seinen »Lebensraum« zu erweitern. Hitler: »Die sicherste Grundlage für die Existenz eines Volkes war zu allen Zeiten der eigene Grund und Boden ... Es gibt nun im Völkerleben einige Wege, das Mißverhältnis zwischen Volkszahl und Grundfläche zu korrigieren. Der natürlichste ist der einer Anpassung des Bodens von Zeit zu Zeit an die gewachsene Volkszahl. Dies erfordert Kampfentschlossenheit und Bluteinsatz.« Damit ist latent der Eroberungskrieg ausgerufen.
Der Anlaß für Hitler, im Sommer 1928 ein zweites Buch zu verfassen, war geringer, als es die umfassende Gedankenkonstruktion von den Trieben als Motor der Menschheitsgeschichte vermuten läßt: Es war die Südtirolfrage.
Im Jahre 1928, als die NSDAP ihr erstes Dutzend Reichstagssitze errang, erregte sich die deutsche Öffentlichkeit über das Schicksal der 200 000 deutschstämmigen Südtiroler, die durch den österreichischen Friedensvertrag zu italienischen Staatsbürgern geworden waren.
Für Hitler und seine Partei war die Südtirolfrage im Frühjahr 1928 ein unbequemes Wahlkampfthema gewesen: Die geistige Verbundenheit mit dem ersten faschistischen Staatschef Europas, Benito Mussolini, hielt Hitler von der Protestfront der übrigen deutschen Parteien fern.
Das Buch sollte eine Antwort auf die im Wahlkampf vor allem von den Deutschnationalen erhobenen Vorwürfe sein, die NSDAP habe die Südtiroler Brüder im Stich gelassen: Hitlers sehr eigenes Maß an geistiger Selbstdisziplin machte daraus einen Brei unvergorener Gedanken und dumpfen Fühlens rassereiner Geschichtsgesetze.
Einem Sekundaner-Aufsatz nicht unähnlich, in dem alle frühgenossenen Lesefrüchte mit den Ergebnissen eigener, hausgemachter Weltanschauung unbekümmert zusammengekocht worden sind, reicht Hitlers Buch vom unterschiedlichen Wert der verschiedenen »Rassenseelen« über einen kurzgefaßten Lehrgang der Außenpolitik aller wichtigeren europäischen Staaten in den letzten 300 Jahren bis zum »Wesen des jüdischen Volkes, das die produktiven Kräfte zum Aufbau und zur Erhaltung eines eigenen Raumstaates vermissen läßt.«
Als Ziel einer künftigen nationalsozialistischen Außenpolitik propagiert, der NS-Führer ein deutsch-italienisch-englisches Bündnis, dessen Abschluß der Global-Planer für möglich hielt, weil er auf Spannungen zwischen Rom und London einerseits und Paris andererseits spekulierte - eine Prognose, die im Hinblick auf die damals konkurrierenden Mittelmeermächte Italien und Frankreich nicht fernlag.
Die britische Regierung meinte Hitler gewinnen zu können, weil nach seiher Auffassung Frankreichs überseeische Interessen London mehr stören müßten als das proklamierte außenpolitische Ziel der NSDAP, der Raubzug nach Osten. Hitler: »In Europa ist der ... für England gefährlichste Staat Frankreich ... Eine Veranlassung zu einer Verewigung der englischen Feindschaft gegen Deutschland ist demgegenüber nicht vorhanden. Ansonsten wäre die englische Außenpolitik nunmehr durch Motive bestimmt, die fern aller Logik liegen.«
Hitler verrät auch, warum Rußland der natürlichste Verbündete Frankreichs ist: »Die harte Gründlichkeit sowie die kalte Logik, das nüchterne Denken (des deutschen Menschen) sind dem wirklichen Russen innerlich unsympathisch und zum Teil auch unverständlich ... Das leichte, oberflächliche, mehr oder weniger weibische französische Leben vermag den Slawen mehr zu fesseln, weil es ihm innerlich verwandter ist als die Härte unseres deutschen Existenzkampfes.«
Es war nicht Selbstkritik, die Hitler abhielt, sein Werk dem deutschen Volk zu unterbreiten. Parteitaktische Erwägungen, die bald nach Fertigstellung des Manuskripts von der NS-Führung angestellt werden mußten, bewogen ihn, das Buch unter Verschluß zu halten.
Die Absicht, sich gegen deutschnationale Angriffe wegen der Südtirolfrage zu wehren, hatte zwangsläufig das nationale Bürgertum in die Schußlinie des Schriftstellers Hitler gebracht. Bei dieser Gelegenheit entwickelte der Blut-und -Boden-Politiker sogar einen kargen Humor. Spottete Hitler über die vaterländisch gesinnten Bürgerkreise:
»Sie werden durch die Flut ihrer Proteste und das Dröhnen ihres Hurra -Geschreies den Widerstand der anderen Welt teils ersticken, teils zum Einsturz bringen. Und dann werden sie ohne jeden Verbündeten, ja, auch ohne alle Waffen, nur gestützt auf die Protestfestigkeit ihres Mundwerks, die geraubten Gebiete zurückholen, England noch nachträglich durch den lieben Gott strafen lassen, Italien aber züchtigen und der gebührenden Verachtung der gesamten Welt preisgeben.«
Im Jahr darauf verbündete sich Hitler mit Alfred Hugenberg, auf dessen bürgerliche Deutschnationale Volkspartei dieser Hohn gemünzt war, im Kampf gegen den Young-Zahlungsplan für die deutschen Reparationen: Aus Rücksicht auf den neuen Bundesgenossen mußte das Buch beim Franz-Eher-Nachfolger-Verlag eingeschlossen werden.
Den Deutschen wird daher auch jetzt erst bekannt, was Adolf Hitler 1928 in die Maschine diktierte: »Es ist für ein Volk keine nationale Ehre, von Wahnsinnigen regiert zu werden.«
* Gerhard L. Weinberg: »Hitlers zweites Buch« - Ein Dokument aus dem Jahre 1928. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart; 1960; 19,80 Mark.
NSDAP-Chef Hitler, Parteifreund (1926)
Die Schutzschrift für den Duce ... Faschisten-Chef Mussolini, König (1927)
... wurde im Panzerschrank verborgen
Amann