»Ich bin doch nur das Echo«
April 82.
Im Bierdunst des Münchner Löwenbräukellers sind die Genossen furchtbar lustig. Mit schwitzenden Gesichtern schieben sie aneinander vorbei. Johannes Rau hat eine fröhliche Rede gehalten, der Bundes-Parteitag amüsiert sich.
Aber der Lack ist dünn. Als Regierungspartei wirkt die SPD wie ein geschminkter Leichnam. Karl Weinhofer, als Gast, nicht als Delegierter dabei, schreit seine Einschätzung über die von ihm mitgetragene Regierung durch den Lärm: »Die pumpen und pumpen, wie die Maikäfer. Aber da tut sich nichts mehr. Die schaffen''s nicht.«
»Die« - sagt er. Zu Recht fühlt er sich nicht dazugehörig in den nun beginnenden letzten Krisenphasen der Koalition. »Mein Gott«, sagt er, »es wird soviel gelogen.«
Tatsächlich wird die Krise allein in den Chefetagen der Regierung und der Parteien gemanagt. Die Abgeordneten werden - wenn überhaupt - nachträglich und unvollständig eher eingestimmt als informiert. »Der Genscher hätte am liebsten eine Kaderpartei«, beschwert sich die Liberale Helga Schuchardt. Karl Weinhofer schimpft: »Es ist tatsächlich so. Die große Politik für die Nation wird von 15 Leuten gemacht. Wir hängen im luftleeren Raum.« Auch in der Union sind sich die Abgeordneten über die Strategie ihrer Spitzenleute im unklaren.
Die längst zur festen Struktur gewordenen hierarchischen und autoritären Züge der Bonner Parteiendemokratie treten in dieser Krisensituation besonders schroff zu Tage.
Weinhofer fällt es im Verlauf des Sommers immer schwerer, seine eigene Frustration und Empörung aus den glatten Reden in der Öffentlichkeit herauszuhalten, die lahm mit der Aufforderung zu enden pflegen, nur ja den »kritischen Optimismus hochzuhalten«.
Vor dem Verein der Kriegsopfer in Neuburg verteidigt er im April schwunglos die Sparmaßnahmen der Koalition, die »bei zwei Millionen Arbeitslosen gezwungen ist, Prioritäten zu setzen«. Unvermittelt und heftig fügt er hinzu: »Denn die goldene Kuh, den Militärhaushalt, darf man ja nicht kürzen.«
»Parteienverdrossenheit« mache sich in der Bevölkerung immer mehr bemerkbar, sagt er im Juli im »Wagnersaal« von Beilngries den Genossen. Es ist ja wahr, aber was Weinhofer bei diesen Ausführungen überzeugend macht, ist die eigene Verdrossenheit mit seiner Partei.
Wettrüsten, Umweltzerstörung, soziale Ungerechtigkeiten, Unmenschlichkeit eines immer zentralistischeren Systems sind Themen, die der Abgeordnete in Bonn behandelt wissen möchte. »Aber die Oberen, die taumeln da rum wie betäubt.«
»Der Schmidt«, sagt Weinhofer grimmig, »nimmt nichts mehr wahr.« Willy Brandt »ist sich der Endlichkeit der Dinge bewußt«. »Die anderen« - er zögert, merkt wohl, daß er auch über sich selbst urteilt - »die anderen wollen überleben und hinterher auf dem Podest ein Stück höher stehen.«
Nur, wie überlebt man? In einer Abrüstungsdiskussion mit Alfred Mechtersheimer ärgert ihn dessen »moralischer Rigorismus«. Er weiß aber warum: »So möcht'' ich auch reden können.«
Er traut sich nicht, weil er Angst hat, von den Rechten »weggeschossen« zu werden. Noch steht die Landesliste nicht, trotz seines Oberbürgermeister-Engagements kann er noch auf dem 32. Platz landen, statt auf der sicheren Nummer 26. Bis 1983 will er warten, sehen, »wo dann die Bataillone sitzen«.
So macht er »eine Schaukelpolitik, da kenn ich mich selbst nicht mehr«. Er verachtet sich dafür, bestraft sich mit bösen Charakterisierungen seines Verhaltens: »Hopplahopp-Politik« mache er, »Für-jeden-etwas«-Politik, »Maulaufreißen-statt-Handeln«-Politik.
Aber sein lustvoller Sarkasmus hilft nicht. In jedem Ortsverein fragen sie ihn, wo er eigentlich stehe. Er beantwortet die Frage nicht, verteilt statt dessen den Bonner Prachtband »Das Parlament«, mit den Autogrammen der »drei Heiligen« - Helmut, Willy und Onkel Herbert.
Oft schlagen seine Selbstbezichtigungen um in Vorwürfe gegen die Genossen an Basis und Spitze. »Die haben kein Feindbild, also bin ich der Prügelknabe.«
Weinhofer lacht zu oft in seiner Hilflosigkeit. Er weiß es. Er findet sich und sein Tun abgeschmackt. Die CSU-Honoratioren in Eichstätt ziehen ihn auf: »Jetzt ist die Partei gleich kaputt. Kummst dann doch noch zu uns?« Dem Schön-Gustl, dem CSU-Landtagsabgeordneten, dem hinterfotzigen, sagt er daraufhin am Stammtisch, »daß er a Drecksau ist«.
Mal ist Weinhofer aggressiv, mal larmoyant. Fragt ihn einer, wie es geht, sagt er nur: »Beschissen.« Der Abgeordnete rutscht - je weiter der Sommer ins Land _(Im April 1982 beim bayrischen Abend des ) _(SPD-Parteitags im Münchner ) _(Löwenbräukeller. )
geht - um so tiefer in eine schwere Krise. »Der Charly kommt jetzt gestreßter daher als damals im Wahlkampf. Das ist doch nicht das Normale«, wundert sich ein Lokalredakteur in Schrobenhausen. Normal? »Wie ein Exot« kommt sich Weinhofer vor: »Wie ein Desperado renn ich rum.« Diesmal ist es nicht nur taktisches Jammern.
Knapp zwei Jahre ist er jetzt im Bundestag. Ernsthaft trägt er sich mit dem Gedanken, den Bettel hinzuschmeißen. Er hat ein Angebot aus der Immobilienbranche. Vorsichtshalber besorgt er sich einen Gewerbeschein. Das hilft, lindert den existentiellen Druck.
Er denkt auch an Auswandern. Kanada, das wär was. Lachse fischen in British Columbia war schon immer sein Kindertraum. Daß er ihn sich im Herbst dann auf einer Dienstreise als Abgeordneter erfüllen kann, machte ihn wieder schwankend in seinen Aussteigerplänen. »Faszinierend« findet er seinen neuen Beruf trotz allem.
Seine Selbstzweifel machen Karl Weinhofer zu einem scharfen Beobachter. Er sieht das Land und die Bürger in überspitzer Schärfe, böse - nicht falsch. Wie die Leute frömmeln. Auf Schützenfesten freut er sich immer auf den Augenblick, da einer sagt: »Liebe Schützenbrüder und -schwestern, wir wollen jetzt mit dem Festgottesdienst beginnen. Bitte das Bier unter den Tisch zu stellen.«
Wie die Leute fressen und saufen. »Angst«, sagt er, »Kriegsangst; selbst bei den Pionieren hab ich die gespürt.«
Als Weinhofer mit einer Abgeordnetengruppe im März in die DDR reist, »da hab ich auf einmal die innere Furcht gehabt, daß die uns mal einsacken, bei all ihrer Armseligkeit«. Auf einem Bummel durch Ost-Berlin ist ihm dieser Gedanke gekommen, als er die wiedererbaute preußische Pracht sah.
»Die setzen auf den Historismus, die haben was zum Festhalten. Wir haben doch nur den Konsum. Wenn der Strauß sagte, ich garantiere euch genug zu fressen, dafür müssen wir aber der 51. Bundesstaat der USA werden, dann würden doch alle mitmachen.«
In seine Reden hat der Abgeordnete Weinhofer jetzt eine düstere Passage aufgenommen: »Ihr fahrt ja jetzt im Urlaub immer weit weg. Zu den Mayas oder nach Ägypten, um die Reste untergegangener Kulturen zu besichtigen. Ja, glaubt ihr denn, liebe Genossinnen und Genossen, unsere Kultur bleibt?«
Auf überraschende Weise gewinnt der Abgeordnete Gewicht in seiner Krise, nicht nur äußerlich. Seine Urteile werden sicherer, sein Zynismus ist durch bayrischen Charme gemildert. Die jungenhafte Zappeligkeit tritt zurück. Er wirkt zunehmend sicherer, wächst sich zu Honoratioren-Format aus, im Guten wie im Bösen. »Langsam«, sagt er einmal mit ungewohntem Ernst, »ist die Ich-Findung beendet.«
Dezember 82.
Vor den Männern und den wenigen Frauen der »Vertreterversammlung für den Bundeswahlkreis 202 Ingolstadt« der SPD liegt ein Papierstoß auf dem Tisch, auf dessen Deckblatt der Abgeordnete Karl Weinhofer neben Helmut Schmidt abgebildet ist. Davor bläst einer pausbäckig in die Posaune.
Es hat sich aber ausposaunt. Helmut Schmidt ist durch Helmut Kohl abgelöst worden. Neuwahlen stehen an, Karl Weinhofer stellt sich wieder zur Nominierung. Das Papier ist sein Rechenschaftsbericht über »zwei Jahre Bonn - Lehrjahre, die noch keinen Abschluß fanden«.
Wohl kaum einer der Genossen hat den Bericht gelesen. Weinhofer hat ihnen das Papier rechtzeitig, aber doch reichlich spät zugestellt. Das hat er in Bonn gelernt, wo »timing«, wie sein Lehrmeister Schöfberger ihm beigebracht hat, ein Herrschaftsinstrument ist. Wer den Zeitpunkt bestimmt, bestimmt zumeist auch den Inhalt. Für Änderungen ist es entweder »noch viel zu früh« oder plötzlich »leider schon zu spät«.
Tatsächlich gibt es über Weinhofers Bericht, wie erwartet, keine Diskussion, zumal der Abgeordnete zusätzlich eine lange Rede hält: »Dann wollen hinterher alle nach Hause.«
Dabei hätte er eine Aussprache nicht zu scheuen brauchen. Sein Bericht ist knapp und korrekt und weist dennoch reichliche Tätigkeitsbelege auf. Allein 1982 hat Weinhofer 113 Termine im Wahlkreis wahrgenommen. Davon entfielen 66 auf die Partei - Ortsverein, Kreisverband, Unterbezirk -, 26 auf »Verbandsarbeit«, 21 auf Repräsentationspflichten bei Einweihungen, Empfängen und dergleichen. Sein Oberbürgermeisterschafts-Wahlergebnis hat »überregionale Beachtung« gefunden.
Vier Bonnfahrten von Besuchergruppen aus dem Wahlkreis waren ein Erfolg. Bürgerbüros scheiterten an »mangelnder Besucherfrequenz«, werden aber durch direkte Kontakte »im Bierzelt« oder in der Wohnung aufgewogen. Viele Anfragen konnten »zur Zufriedenheit der Bürger erledigt werden«. In _(Ehepaare Traute und Hans Matthöfer, Loki ) _(und Helmut Schmidt. )
Bonn ist Weinhofer zunächst in zwei Ausschüssen tätig gewesen, »auf Drängen der bayrischen Landesgruppe und auf eigenen Wunsch« gehört er seit März 82 dem Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung an. Zweimal hat er im Plenum geredet.
Der übersichtliche Bericht verspricht, er wolle »Durchsicht« auf die Tätigkeit des Abgeordneten ermöglichen. Zu diesem Zweck ist er angereichert mit viel Material: Eine Dokumentation über die Koalitionskrise, eine Aufstellung der Einnahmen und Ausgaben, Redeprotokolle, Pressenotizen.
Das ist guter Bonner Stil. Bonner Stil ist auch, wenngleich kein guter, daß »Durchsicht« nur formal möglich wird, daß die Tätigkeit des Abgeordneten blutleer und wirklichkeitsarm auf ein statistisches und formales Gerippe schrumpft.
Man muß eingeweiht sein, muß die Schlüsselvokabeln und Kürzel kennen, um der Aufstellung zumindest eine Ahnung davon zu entlocken, was der noch immer junge Mann, der jetzt allein - ist das Zufall? Wenn nicht, was bedeutet es? Isolierung? Selbstabsonderung? - blaß und sehr ernst an einem Einzeltisch vor der Versammlung sitzt, was Karl Weinhofer tatsächlich gemacht und durchgemacht hat in und wegen Bonn.
Seine Genossen halten ihn für einen Routinier, was er auch ist. Aber Lampenfieber hat er doch.
Als er den Bericht zu formulieren begann in seiner »Mönchsklause« in Bonn, dem kleinen Arbeitszimmer im 15. Stock des »Langen Eugen« hoch über den Wählern und ihren Problemen, hat ihn ein Augenblick der Teufel geritten: »Soll ich da mal meine ganzen Selbstzweifel reinschreiben?«
Aber wo soll er da anfangen? Was ist eigentlich die Leistung eines MdB? Seine Anwesenheit im Plenum? Die Zahl seiner Anfragen?
Was ist Erfolg? Ein kerniger Zwischenruf? Eine minimale Textänderung in einem Gesetzentwurf? Lobende Erwähnung in der Lokalpresse?
An meßbaren und sichtbaren Kriterien besteht Mangel, und die feinen Leistungsmaßstäbe, die innerhalb des Hohen Hauses gelten, sind den Menschen draußen im Lande sehr schwer oder gar nicht zu vermitteln.
Kaum einer der Ingolstädter Genossen kann daher ermessen, wieviel verborgener Stolz sich hinter Weinhofers Hinweis auf seine »zwei Reden« verbirgt. Ein Neuling, aus den großen Fraktionen, der in zwei Jahren zweimal im Plenum spricht, ist fast ein Sonderfall.
Bei der zweiten Rede, zum innerdeutschen Reiseverkehr am 4. Februar 1982 in der 83. Sitzung, war sogar »der Onkel drin«. Nicht nur saß er im Plenum, für Weinhofer hat Herbert Wehner auch die CSU-Schreier niedergebrüllt: »Was haben Sie getan? Sie meckern hinterher, das ist alles, was sie können.« Staatssekretär Kreutzmann aus dem Innerdeutschen Ministerium hat Weinhofer gelobt: »Das war gut.«
Davon steht nichts in dem Bericht, natürlich nicht. Umgekehrt bleibt dem Leser auch verborgen, mit wieviel Ohnmacht und Zorn die Bewertung aufgeladen ist, im »A- und S-Ausschuß« sei er »vorgeschobener Beobachter« gewesen. Wie das Wort »Lehrjahre« enthält diese Formel Weinhofers Protest gegenüber den Gestandenen in Bonn, ist auch Ausdruck seines unterschwelligen Schuldgefühls, weil er »nichts bewegt hat« in Bonn, nicht einmal im Kleinen, vom »großen Wurf«, der manchmal in seinen Wünschen auftaucht, ganz zu schweigen.
Kann einer die Zahl der Wutausbrüche und Familienkräche erahnen, das Ausmaß von Zumutungen und Behelligungen, das in der Bemerkung steckt, die Bürger suchten den »direkten Kontakt« zu ihrem Abgeordneten in dessen Wohnung? Spürt jemand, wieviel Neid auf den CSU-Kollegen Seehofer aus der Formulierung über die »vielen Anfragen« spricht, die er zur Zufriedenheit der Bürger erledigen konnte? Denn wie vielen hat Weinhofer wirklich geholfen? »Vielleicht vierzig.« Und Seehofer? »Bestimmt tausend, die Schwarzen sitzen doch hier überall am langen Hebel.«
Die ganze Unsicherheit des Bonner Abgeordneten, sein Leerlauf, sein Kompetenzmangel,
seine Verunsicherung und sein Bestreben, das alles nach außen zu vernebeln, schlägt sich in Weinhofers Darlegungen über die Ausschüsse nieder.
»In zwei Ausschüssen«, sagt er, »wurde ich als ordentliches Mitglied benannt.« Erst ist er stolz darüber. Jetzt hält er es für ein Gerücht, daß in den Ausschüssen die eigentliche Arbeit getan werde, daß dort sachlich zwischen den Parteien gerungen werde, wie die gängige Bonner Ritual-Formel lautet. »Ausschüsse«, ist sein Eindruck, »sind wichtig für dein standing«. Sonst nichts.
»Die Zielvorgaben kommen von der Bürokratie, gegen die du nicht ankannst. Die politischen Absprachen treffen die Obleute und die Fraktionsführung hinter verschlossenen Türen.«
Nie hat er in seinen Ausschüssen erlebt, daß ein Vertreter der einen Partei ein Argument eines Vertreters der anderen aufgegriffen hätte. Auch in den Ausschüssen, besetzt mit 13 bis 33 Abgeordneten, frühstücken die Kollegen, lesen Zeitung und halten Protokollreden.
Die in keiner Geschäftsordnung direkt festgeschriebene, aber eisern eingehaltene Hierarchie tritt in diesen Gremien besonders deutlich zutage. So verbirgt sich hinter Weinhofers Hinweis auf die »spezifischen Strukturen und Eigenheiten« des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung, die einem Neuling das Einarbeiten erschwerten, nichts anderes als eine besonders rigide »Hackordnung«. Nicht nur Weinhofer hat den Eindruck, daß in diesem Ausschuß die älteren Mitglieder, die alle Gewerkschafter sind, besonders hartnäckig auf ihre Herrschaftsrechte pochen. Nichtmitglieder haben den Eichstätter gewarnt, daß die A- und S-Leute »besonders unsolidarisch sind«.
Weinhofers Rechenschaftsbericht ist voll von verschlüsselten Stoßseufzern. Aber sein ganzes unterschwelliges Unbehagen über den Bonner Betrieb, seine Unfähigkeit, sich im unübersichtlichen Gelände des Bundestages zu einem klaren Selbstverständnis durchzuringen, ballt sich in den verschwiemelten Satz: »Das aufgeführte Maß an Aktivitäten kann trotzdem nicht hinterfragen, was letztlich als das Leistungsprofil eines Mandatsträgers bezeichnet werden kann.«
Es liegt nicht an Karl Weinhofer, daß er in diesem »bescheuerten Beruf« (Carola von Braun-Stützer) auch nach tausend Tagen noch nicht weiß, ob er als Bundestagsneuling nun am Ende oder am Anfang einer Laufbahn steht.
Daß der Abgeordnete einen Beruf ausübt, nicht nur ein Amt bekleidet, hat das Bundesverfassungsgericht 1975 mit dem Diätenurteil festgestellt. Aber Rolle und sozialer Status, Qualifikation und Leistung, Machtbefugnisse und Privilegien sind unklar und widersprüchlich geblieben. Die meisten Abgeordneten gewöhnen sich an, diese Verschwommenheit als Freiheit zu rühmen, wie Karl Weinhofer darin einen »großen Spielraum« zu erblicken.
Im gelebten Alltag schlägt sich diese Freiheit aber als Streß und Frust nieder, führt zu einer wachsenden Kluft zwischen Handeln und Überzeugungen.
Der Anspruch der Verfassung und das Selbstverständnis der Abgeordneten sind hoch. »Gesetzgeber« werden sie genannt, als Teil-»Souveräne« verstehen sie sich, ganz im Sinne des verstorbenen Bundestagsvizepräsidenten Hermann Schmitt-Vockenhausen: »Der Souverän repräsentiert das Ganze, die Einheit des Staats; er verfügt zugleich über die staatliche Gewalt. Heute ist das Volk der Souverän. Seine Souveränität übt es über die Volksvertreter im Parlament aus.«
Eine hehre Einschätzung. Karl Weinhofer ist nicht frei davon. Mit der Vorstellung, »eine Möglichkeit zum Gestalten« vorzufinden, ist er gekommen. Und hat er nicht - zugleich mit der Eisenbahnfahrkarte erster Klasse - einen »Ausweis zur Führung von Staatsgesprächen« erhalten? Wie das klingt!
Es ist aber nur ein Papier, das zum kostenfreien Telefonieren berechtigt. Die Öffentlichkeit läßt sich auch nicht täuschen. In der Bevölkerung ist der Volksvertreter nicht sonderlich angesehen. Obwohl das Parlament sich überrepräsentativ akademisiert hat (75 Prozent), ist die Wertschätzung etwa des Arztes und Professors nicht auf den Abgeordneten übergegangen. In der Praxis wird er oft nur insofern als »einer von denen da oben« angesehen, als man ihn zum Prellbock für den Volkszorn brauchen kann. Weinhofer stöhnt schon nach wenigen Wochen: »Ich muß mich immer stärker rechtfertigen.«
Immer aufs neue muß er vor allem seine Diäten verteidigen. Er ist selbst unsicher. Kann er seine »Leistungen« vergleichen mit denen der Oberbürgermeister von Großstädten, der Landräte aus Kreisen mit 250 000 Einwohnern, oder von Geschäftsführern in Gesellschaften mit fünf Millionen Mark Jahresumsatz? An denen haben die »Gesetzgeber« sich selbst bei der Zumessung der Diäten orientiert.
Weinhofer sagt, ihm sei das Salär recht. Bei seiner Wiedernominierung versichert er: »Bundestagsabgeordnete verdienen gut.« Insgeheim aber klagt er doch: »Es bleibt nichts übrig.«
Hohe Bezüge erscheinen ihm schon deswegen angemessen, weil unter einer 70- bis 80-Stunden-Woche kaum ein Abgeordneter zurecht kommt. Viele arbeiten 90 Stunden und mehr. Jeder Abend und fast jedes Wochenende sind vollgepflastert mit Terminen. Und selbst wenn der Abgeordnete Weinhofer sich in einer sitzungsfreien Woche mal mittags auf seinem Sofa ausstreckt, fühlt er sich unter Rechtfertigungsdruck.
Andererseits: Die Effizienz dieser hochbezahlten Arbeitszeit ist überaus gering, der Leerlauf groß. Dabei scheint es Weinhofer keinen großen Unterschied zu machen, ob er sich nun in Bonn gegen die übermächtige Bürokratie als eine Art »Gegenbeamter« zum Experten spezialisiert, oder ob er sich als Dekoration für wichtigtuerische Vereinsmeier im Wahlkreis verheizen läßt.
Hin- und hergerissen zwischen seinen Verbindlichkeiten gegenüber der Heimatpartei und der Bonner Fraktion, der _(Bei Faschingsfeier mit Neuburger ) _(Gardemädchen. )
allgemeinen Öffentlichkeit und einer speziellen Klientel - in seinem Fall der IG Metall -, flüchtet sich der Volksvertreter in eine vage Unentschiedenheit. Verhandeln und Vermitteln sind seine Haupttätigkeiten, wobei sich häufig die Politik auf die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen verkürzt.
Soziologen und Politikwissenschaftler wie Maria Mester-Grüner charakterisieren den Abgeordneten als »Randpersönlichkeit«, der mit den »Beziehungsfallen« und »Doppelbindungen« seines Berufes nur durch Verzicht auf engagierte Teilnahme fertig wird.
Gerade ein Hinterbänkler wie Weinhofer soll so vieles und so Unvereinbares, seine Rolle ist so unklar, sein Status so verwackelt, daß der Leistungsdruck ihn geradezu zur Flucht in Floskeln und Rituale und zur Abschirmung gegen den Einblick Nichteingeweihter zwingt.
Partei- und Parlamentsverdrossenheit erscheinen zwangsläufig: »Der Rollenstreß von Bundestagsabgeordneten zieht Konsequenzen für die Politik nach sich, sofern er zu einem Informationsdefizit, zur Abwehrhaltung gegenüber jedem Neuen aus dem Gefühl der Überforderung heraus und zum Verlust des globalen Überblicks führt« (Mester-Grüner).
Der Anspruch von Verfassung und Öffentlichkeit auf Transparenz wird durch bloßen Anschein befriedigt. An die Stelle der unübersichtlichen und unattraktiven Wirklichkeit tritt eine sterile und zunehmend unglaubwürdige Fiktion. Mit Hilfe des Fernsehens hat sich ein Bundestagsritual von stereotyper Scheindramatik herausgebildet, bei dem 90 Prozent der Abgeordneten nicht mitwirken.
Im »Studio Bundestag« (ARD-Korrespondent Ernst Dieter Lueg) inszenieren die Spitzenpolitiker der Fraktionen bei Plenardebatten ein Politikschauspiel, das ihrem eigenen Bedürfnis nach Bedeutung und dem des Bundesbürgers nach politischer Idylle entspricht.
Einer wie Weinhofer kommt darin nur aus Zufall vor. »Muß das alles sein?« fragt auch Kollege Horst Lorenz Seehofer, der sich wie Weinhofer zur Wiederwahl stellt. Kopfschüttelnd ist sich die »Hofer-Koalition« wieder einmal einig.
Den Gefolgsleuten in den heimischen Parteien sind solche Skrupel, Zweifel und Verunsicherungen ihrer Abgeordneten nicht nur unbekannt, sie wollen sie auch nicht wissen. Den Delegierten der Nominierungskonferenz im Gewerkschaftshaus von Ingolstadt ist es recht, wie Karl Weinhofer sein Amt zu verstehen scheint: »Für mich ist dieses Mandat Verpflichtung, mein Bestes für die Partei einzubringen.«
An diesem 12. Dezember 1982 hält der SPD-Abgeordnete eine mitreißende Rede. Sie wird, obwohl für die Umgebung überaus links, mit starkem Beifall aufgenommen. Weinhofer sagt: »Ein Land, das sich in unserer Situation und unserer geographischen Lage befindet, ist zur Friedenspolitik verurteilt. Da kann es, da darf es keine Paktrücksichten geben. Es gibt nichts auf der Welt, das den Völkermord und den Völkerselbstmord rechtfertigt.«
Man darf annehmen, daß solche Sätze, wäre Helmut Schmidt noch an der Regierung, nicht so heftig beklatscht worden wären. Aber Karl Weinhofer hat sie auch schon früher gesagt, wenngleich nicht so enthusiastisch und nicht ganz so öffentlich. In der Opposition hat es ein Abgeordneter eben leichter. Der Seehofer-Horst von der CSU wird''s auch bald merken.
Dann wird Weinhofer nominiert für den 10. Deutschen Bundestag. Von 118 Delegierten, die ihre Stimmzettel in den Pappkarton der »Bäckerei Westfalia« werfen, stimmen 114 mit Ja. Weinhofer hat''s gewußt und ist doch erleichtert. Das Bonner Amt ist ihm wichtig geworden, trotz allem.
Hinterher, in einem jugoslawischen Restaurant an der Ecke, gratulieren ihm ein paar Jusos. Da kommen die Undeutlichkeiten der letzten Monate doch noch zur Sprache. »Zwischenzeitlich habe ich dich für ziemlich schwach gehalten«, sagt die Genossin Inge: »Auf einmal warst du völlig auf der Schmidt-Linie.« »Ja mei«, sagt Weinhofer, »das war schon ein Gewissenskonflikt.«
Die Genossin bohrt nach: »Ich habe eigentlich wenig Informationen über dich. Du warst für uns ziemlich unerreichbar.« Weinhofer lahm: »Das lag aber auch ein bißchen an euch.« Inge: »Das hat sich geändert.« Der Abgeordnete: »Wir haben wohl ein bißchen zu wenig geredet.«
Aber so wird es auch bleiben.
Februar 83.
In der mit 1500 Menschen gut gefüllten Ingolstädter Stadthalle sind alle Scheinwerfer auf Karl Weinhofer gerichtet: »Charly« lächelt schief von Dutzenden Plakaten. Im hellen Licht wirkt sein Gesicht flach und blaß.
Am Ehrentisch sitzt er selbst - mit rotem Kopf und sichtlich nervös. Alle Augenblicke wischt er sich den Schweiß von der Stirn. Es ist ein großer Abend für ihn: Neben ihm schreibt Willy Brandt Autogramme.
Die Stimmung hat, wie meist auf politischen Großveranstaltungen in Bayern, volksfesthafte Züge. Die Blasmusi spuilt, das Bier läuft. Sepp Raith, »unser Charly wird''s nicht übelnehmen«, singt wieder das Lied vom Hinterbänkler: »Nur oa Legislaturperiodn no, zwengs da Pension«.
Weinhofer ist ganz Hausherr, zeigt auf die roten Ballons: »Sieht schön aus, was?« Er winkt nach rechts, schüttelt Hände, grüßt nach links. Mit seinem Vorsitzenden redet er kaum. Brandt wirkt sehr weit weg. Das Gruppenphoto mit Weinhofer und Frau Irmtraud wird linkisch und umständlich gestellt. Alle lächeln verkrampft, bei Brandt wird man''s auf dem Foto aber nicht merken.
Um 21.22 Uhr dröhnt ein Tusch durch den Saal. Karl Weinhofer besteigt die Bühne. Er wird überaus herzlich begrüßt, mit Hurrarufen und »Charly«-Geschrei.
Der Kandidat strahlt entspannt. Er ist auf dem Wege zum Lokalstar, wenigstens in den eigenen Reihen. Willy Brandt findet freundliche Worte für ihn. Zwei Stunden vorher, in Erlangen, hat er sie für den dortigen Kandidaten ähnlich benutzt, wie schon Hunderte Male vorher. Aber Brandt kann sie bringen, als seien sie maßgeschneidert für Weinhofer: »Darum muß Charly Weinhofer wieder nach Bonn, wo wir ihn gut brauchen können, weil wir wissen, wie gewissenhaft und kenntnisreich er seinen Wahlkreis vertritt.«
Im »Schloßkeller« zieht der Kandidat Bilanz. Er ist aufgeräumt, der Abend war ein voller Erfolg. »Bei dem Blüm, letzte Woche«, sagt Frau Irmtraud, »waren nur 500 Leute da.«
Auch der Vorsitzende des SPD-Bezirks Südbayern Jürgen Böddrich ist voll des Lobes für »Charly": Er sei realitätsbezogener geworden. Gute Ideen habe er immer gehabt. Böddrich ist auch voll des Lobes für sich selbst: »Deshalb hab'' ich den auch gut auf die Liste placiert.«
Weinhofers Freunde freuen sich ehrlicher für ihn. Die Genossin Gerda Büttner sagt nachdenklich: »Ich gönn''s ihm. Er macht sich ja kaputt. Wir verlangen wohl auch zuviel von ihm. Ich wünsche ihn mir linker, anderen ist er zu links. Wir halten uns einen Abgeordneten für unsere Wünsche. Und er ist viel zu freundlich, will es allen recht machen.«
Am nächsten Morgen ist - wieder einmal - die Euphorie verflogen. In der Innenstadt von Ingolstadt haben die Grünen, die FDP und die CSU ihre Infostände aufgebaut. Ein frierender, stark verschnupfter Horst Lorenz Seehofer verteilt Kohl-Wahlzettel und kann sich in Ermangelung von Konkurrenz liberal verkaufen. Einem rechten CSU-Haudegen verweist er dessen Jugendschelte: »Ja, wenn die Jungen nicht mal mehr kritisch sind, dann können wir doch gleich einpacken.«
Wo ist die SPD? Die Genossen sitzen im Parteihaus »und fressen«, so Weinhofer später wutentbrannt, »die Würstchen, die wir für die Wähler bereitgehalten haben«. Am frühen Morgen schon ist er dagewesen, aber seinen Parteifreunden hat es zu sehr geregnet. Stocksauer ist Weinhofer nach Kösching weitergefahren, dann nach Gaimersheim. Er verteilt dort Flugblätter am Infostand.
Weinhofer wirkt erschöpft. Es ist - die OB-Kampagne in Eichstätt und die bayrische Landtagswahl mitgerechnet - sein vierter Wahlkampf in drei Jahren. »Die Partei ist ausgelaugt«, sagt er. Er auch.
Um 13.30 Uhr sitzt er am Vorstandstisch des Bezirksbildungstages der Katholischen Arbeitnehmer-Bewegung (KAB) im Pfarramt von Schrobenhausen zu einer Diskussion über »Neuerungen in der Renten- und Krankenversicherung«. Es ist sein vierter Termin an diesem Tage. Er ist schlecht vorbereitet und gereizt. Um 6.30 Uhr am Morgen hat er versucht, sich ein bißchen einzulesen: »Aber ich hab'' nur viel Papier dabei und nix im Kopf.«
Die Begrüßung schleppt sich hin, Berichte aus Arbeitskreisen ziehen sich zäh in die Länge. Fachkauderwelsch, Bürokratenmuff. Es ist eine erschreckend typische deutsche Politveranstaltung: Zu einem Thema, das alle angeht, reden ein paar so, daß keiner etwas versteht.
Weinhofer blickt ungeduldig zur Uhr seines Nachbarn. Um 15.30 spätestens _(Auf einer SPD-Veranstaltung am 25. ) _(Januar 1983 in Ingolstadt. )
muß er weiter. Mit zunehmendem Zorn bemerkt er, wie unter dem »sachlichen« Deckmantel von Fachbeiträgen CSU-Propaganda auf die Versammelten niedergeht. Sein Rivale Seehofer, der CSU-Heimatabgeordnete im Landtag, der KAB-Bezirksvorsitzende, der Innungsobermeister der Kreishandwerkerschaft, der Vertrauensarzt der Kassenärztlichen Vereinigung, der Mensch von der Landesversicherungsanstalt - alle reden »schwarz«. Bald verkürzt sich das Thema auf den Paragraphen 218 und darauf, daß - wie Seehofer sagt - »die Krankenversicherung das Töten von Kindern bezahlt«.
Weinhofer, nur unterstützt vom DGB-Kreisvorsitzenden Büttner, hat längst wieder einen roten Kopf. Spitz verlangt er vom Vertrauensarzt, die »hier geäußerte Moralität auch beim Abrechnen der Gebühren« anzuwenden. Der Vorsitzende rügt ihn, bittet doch sachlich zu bleiben. »Wie die andern auch«, knurrt der Sozi. Von den 120 Zuhörern bekommt er kaum Beifall.
Um 15.40 Uhr sagt Seehofer: »Jetzt zur Vermögensbildung.« Weinhofer rutscht wütend auf seinem Stuhl herum. Nach einem kurzen Schlußwort geht er abrupt. Im Auto knurrt er vor sich hin. Er ist erregt. »Wenn ich die da schon sitzen sehe mit ihren fröhlichen Kolpinggesichtern.« Er könnte viel erzählen, was sich hinter den Kulissen abspielt. Brummelnd gibt er Gas. »Die mit ihrer Heuchelei über den Paragraphen 218, Klerikalfaschisten san''s«, schimpft er.
Aus dem Fenster deutet er auf sein Wahlplakat. Irgendwer hat seinem freundlichen Gesicht Teufelshörner aufgemalt. »Ja, so sans«, sagt er. Früher haben sie ihn immer mit einem roten bolschewistischen Kommissarstern geschmückt. Nach einer Raserei über 40 Kilometer durch Nebel und Schnee kommt er mit einer halben Stunde Verspätung im »Gasthaus Lukas« in Lenting an. Die ersten Veranstaltungsbesucher wollen gerade gehen, Weinhofer kann sie noch auf der Straße abfangen.
Im Hinterzimmer unter Kruzifix und einem großen roten SPD-Luftballon sitzen 28 Personen. Zwei Frauen sind dabei. In seinem Wahlkreis gibt es 7000 arbeitslose Frauen, hat Weinhofer erzählt, »aber die kommen nicht zu uns. Zu uns kommt mal die Frau Apotheker, aber nur, wenn der Koschnick redet. Wählen tut sie dann CSU. Oder neuerdings grün. Die SPD ist ihr zu muffig«.
Keiner murrt über die Verspätung. Der Ortsvereinsvorsitzende erinnert nur milde daran, daß Weinhofer in den letzten zweieinhalb Jahren - sprich: seit dem letzten Wahlkampf - nicht hier gewesen sei. »Aber wir drängeln nicht, wir haben uns gesagt, der soll in Bonn eine vernünftige Arbeit machen.«
Der Abgeordnete nickt dankbar und beginnt seinen Standardvortrag. Er hat kein ausgearbeitetes Konzept - »dazu bin ich bisher nie gekommen« -, aber so ungefähr dasselbe sagt er natürlich überall. Er ist noch wütend über die KAB-Veranstaltung und redet im Stehen und unnötig laut.
Den ersten Beifall erhält er, als er empört fragt, warum Politiker eigentlich immer über einander schimpfen, »anstatt gemeinsam für das Gemeinwohl zu arbeiten«. Dann schimpft er auf die CSU, die »unfähig ist zum sozialen Frieden«.
Weinhofer war schon mal besser, aber die Leute hören aufmerksam zu. Nach einer halben Stunde beginnt die Diskussion. Einer fragt - langatmig und in gespreiztem Hardthöhen-Stil - nach Unterschieden zwischen den amerikanischen und russischen Raketen. Weinhofer unterbricht ihn resolut, als die anderen zu murren beginnen: »Das ist alles Quatsch, das ist militärische Fachidioten-Sprache.«
Die Aussprache über einen drohenden Atomkrieg ist lebhaft. Ein Alter sagt: »Wenn''s soweit kommt, was bleibt denn von der Welt noch übrig?« Weinhofer nickt. Da fährt der Alte fort: »Wahrscheinlich nur ein paar Neger, weil''s sich nicht lohnt, dahin zu schießen.« Weinhofer nickt nicht mehr. Einem ist die SPD
nicht radikal genug in Sachen Abrüstung, ein anderer weiß, daß allein in jedem Jahr 650 Milliarden Mark auf der ganzen Welt für die Rüstung ausgegeben werden. Er weiß auch: »Der Reagan ist für mich ein Schauspieler, heute noch mehr als früher.« Laut und vernehmlich klingt Beifall für den Genossen aus dem Hintergrund: »Der kann das besser als der Charly.«
Der Abgeordnete will gehen, aber sie halten ihn: »Wenn du hier eine halbe Stunde zu spät kommst, kannst du wenigstens eine Viertelstunde länger bleiben.«
Auf der Fahrt zum Altenkaffee in Ingolstadt sagt Weinhofer nur: »Die waren alle schon katholisch.«
Es ist entschieden nicht sein Tag heute. Als er endlich vor dem Alten-Treffpunkt ankommt, verabschieden sich gerade die letzten. Eine resolute Dame fröhlich: »Schade. Wir haben alle so gewartet.«
Bis zur nächsten Veranstaltung bleibt auf diese Weise Gelegenheit für eine kurze Brotzeit. Im Wirtshaus »Josef Haas« in Karlskron feixt ihm ein Seehofer-Prospekt auf der Theke entgegen. Der SPD-Abgeordnete wird tuschelnd beobachtet. Alle kennen ihn, keiner spricht ihn an. Erst als er geht, sagt einer am Stammtisch: »Bleib doch gleich hier, kannst die Versammlung auch hier machen.«
Er muß aber ins »Bierstüberl« nach Grillheim, dort tagt ein Ortsverein, der 51 Mitglieder zählt. Die Dörfler im armen Donaumoos sind seit früheren Zeiten einander nicht grün. Deshalb gibt es auch keine gemeinsame Parteiveranstaltung. Jedes Nest macht seine eigene Wahlplanung - immer auf Kosten des Abgeordneten.
Das »Bierstüberl« erweist sich als eine überaus kleine Pinte. Gamsgeweihe und Fasane schmücken die Wände. Die Decke ist niedrig. Die Kneipe hat kein Hinterzimmer, die Versammlung findet in der Gaststube statt. Da sitzen nicht nur Genossen, auch geht die Stimmung schon hoch.
Weinhofer steht mitten im Raum, eine Hand in der Tasche. Er wendet sich zunächst an einen Tisch, an dem sechs Jugendliche sitzen. Seit seinem Eintreffen haben sie kein Wort miteinander gesprochen. Er könne ihnen keine »Spitzenkarrieren im öffentlichen Dienst versprechen«, sagt er, »aber ihr lernt bei uns den aufrechten Gang«. Sie reagieren mit keiner Miene. Im Hintergrund macht einer »Hoho«.
Nun kommt der allgemeine Teil mit der Abteilung Wachstum. »Kaufen Sie sich einen dritten Fernseher?« donnert Weinhofer in den kleinen Raum. Aber dies ist kein Ort für rhetorische Fragen, lernte er, hier kommen Antworten. »Also, na«, sagt einer bedächtig, bevor Weinhofer fortfahren kann, »ich hab'' an farbigen und an schwarzweißen. Warum soll i?«
Der Abgeordnete will jetzt weiterreden. Aber da kommt Widerspruch. Was denn, keine Diskussion? Was für eine Demokratie ist das denn? Weinhofer beschwichtigt: »Freili tun mer sauber diskutieren, aber erst nacha.« Also: Waldsterben. Einer schreit von hinten aus dem Dunst: »Hat da eine Partei schuld? Oder ist das die allgemeine Umweltverschmutzung?«
Unter ständigem Gemurmel spricht der Abgeordnete unbeirrt über die »schicksalhafte Weichenstellung«, die am 6. März bevorstehe. Wenn''s zu laut
wird, fährt die Wirtin dazwischen: »Sei mal ruhig, sapperlot.«
Immer wenn einer austreten muß, und das ist oft, werden in dem kleinen Lokal viele Stühle gerückt, viele Entschuldigungen gemurmelt und lautstark angenommen. Der Abgeordnete, der längst hektische Flecken im Gesicht hat und Schweißperlen auf der Stirn, ist jetzt beim »sozialen Netz«, und wie die Schwarzen daran säbeln.
»Was sagt den dei Alt''n, wenn du weniger nach Haus bringst?« spricht er einen Arbeiter an. »Die sagt, gut, hast du weniger zum Saufen«, ruft ein anderer dazwischen. Der Raum birst vor Lachen. Keine Fernsehgesellschaft würde eine solche Versammlung als politische Parodie ins Programm nehmen, wegen der Übertreibungen.
Weinhofer macht einen letzten Anlauf, fragt die Frauen im Raum, vier oder fünf, ob sie nicht eine Frage hätten. Vom Ecktisch röhrt es aufmunternd: »Rührt''s euch, Männer«. Die Frauen haben keine Fragen.
Schlaff sackt der Abgeordnete auf einen Stuhl. »Es hat keinen Zweck. Das sind fast alles Arbeiter, aber die haben festgefahrene Einstellungen, da kannste nix machen.« Einer der heftigsten Zwischenschreier kommt auf ihn zugewankt und schlägt ihm anerkennend auf die Schultern: »Hast guat geredt. Aber in allem hast'' nicht recht g''habt.« Dann beugt er sich vertraulich vor und flüstert: »Woaßt, i bin so schwarz, mir laaft der Ruaß aus den Ohrwascherln naus.«
Unfreundlich wird der sozialdemokratische Abgeordnete nicht verabschiedet. Auch der Ortsvereinsvorsitzende ist keineswegs unzufrieden mit den Darbietungen des Gast-Redners: »Es läuft hier nicht schlecht.« Karl Weinhofer steigt kopfschüttelnd ins Auto.
Nächstes Dorf, nächste Veranstaltung. In einer großen öden Schankstube in Brunnen sitzen der Ortsvereinsvorsitzende, der Wirt, dessen Schwager, der auf Besuch ist, und vier Genossen am Stammtisch. Die Versammlung findet nicht statt.
Statt dessen entsteht ein freundlicher Plausch. »Wissens, Herr Seehofer«, sagt der Wirt, »politisch ist hier nichts los, samstags abends schon gar nicht.« »Weinhofer heiß ich«, sagt der SPD-Abgeordnete müde.
Auf der Heimfahrt - es ist 23 Uhr - rechnet er zusammen. Er ist 14 Stunden unterwegs gewesen, war auf sieben Veranstaltungen, ist 305 Kilometer gefahren. Wie viele Wähler hat er gewonnen? »Null.«
Nach einem solchen Tag kommen Karl Weinhofer ernste Zweifel an der Zukunft der königlich bayrischen Sozialdemokratie. Man müßte, sinniert er, an andere Wählerschichten ran, vor allem an die Jungen. »Aber dann packen die am Morgen in Ingolstadt ihren Infostand zusammen und gehen ins Parteihaus. Ich habe die Schnauze voll vom Wahlkampf.«
Er hat überhaupt die Schnauze voll. Um vier Uhr morgens muß er schon wieder in Ingolstadt sein, um den Genossen zu helfen, die »ZaS« zu verteilen, die Wahlkampfzeitung der SPD. Darin steht, daß es aufwärtsgeht mit der Partei.
Weil er das aber aus eigener Erfahrung nicht bestätigen kann, ist Karl Weinhofer zunächst nicht allzu überrascht über die ersten, deprimierenden Hochrechnungen am Abend des 6. März. Mit seiner Familie hockt er vor dem Apparat. »Scheiße«, sagt Tochter Eva.
Als dann jedoch Weinhofers frühere Lehrer-Kollegen aus Nürnberg anrufen und halb besorgt, halb schadenfroh anfragen, ob sie jetzt sein Namensschild wieder an die Tür nageln sollen, sitzt ihm der Schock längst tief in den Knochen. Sein todsicherer 26. Listenplatz hat sich auf einmal in einen »Wackelstuhl« verwandelt.
Erregt schaltet Weinhofer von einem Programm aufs nächste, rechnet und vergleicht mit anderen Bundesländern. Erst 50 Minuten nach Mitternacht erlöst ihn ein Telephongespräch mit dem Statistischen Landesamt in München: Als letzter SPD-Bayer ist er wieder reingerutscht in den Bundestag, obwohl er 3,4 Prozent Erst- und 3,9 Prozent Zweitstimmen verloren hat.
Was er gemacht hätte, wäre er durchgefallen wie sein Büro-Partner Peter Feile? »Große Zelte hab'' ich ja in Bonn nicht abzubrechen. Ich hätt'' mei Matratzen genommen und wär in Urlaub gefahren.« Seine Matratze steht jetzt hinter dem Sofa in seinem Büro. Ein Zimmer hat er nicht mehr in Bonn.
Aber ganz so wurstig, wie er die mögliche Niederlage gern abtun möchte, hätte Karl Weinhofer sie wohl doch nicht ertragen. »Einer muß ja der Letzte sein«, gibt er sich sportlich in der Heimatzeitung. Aber er ist nicht gern der Letzte, ganz und gar nicht.
Und außerdem: »Politik macht süchtig.«
Ende
Im April 1982 beim bayrischen Abend des SPD-Parteitags im MünchnerLöwenbräukeller.Ehepaare Traute und Hans Matthöfer, Loki und Helmut Schmidt.Bei Faschingsfeier mit Neuburger Gardemädchen.Auf einer SPD-Veranstaltung am 25. Januar 1983 in Ingolstadt.