»ICH BIN EIN LUMP, HERR STAATSANWALT!«
»Niemals ist in unserem Europa weder eine Macht noch auch eine Lehre, am wenigsten eine politische zu vollkommener Alleinherrschaft gediehen.« (Leopold von Ranke, Geschichte der Päpste)
Als im Jahre 1945 der zweite Weltkrieg zu Ende ging, waren die Kommunisten in allen südosteuropäischen Ländern, die von der Roten Armee besetzt worden waren, in der Minderheit. Der Kreml aber entwickelte einen satanischen Plan. In mehreren großen Wellen wurden die bäuerlichen und bürgerlichen Führungskräfte ausgerottet. Der erste Schlag traf Bulgarien, dann kamen Rumänien und Ungarn an die Reihe. Die Tschechoslowakei, deren demokratische Traditionen tiefer verwurzelt waren als die der anderen südosteuropäischen Staaten, war die letzte Bastion, die genommen wurde.
4. Fortsetzung
In den Staaten Südosteuropas vollzog sich die Tragödie des Übergangs von der Demokratie zur »Volksdemokratie« nach strengen dramaturgischen Regeln. Im ersten Akt des Dramas mußte der Tod einer profilierten nichtkommunistischen Persönlichkeit über die Bühne gehen. Nur die Modalitäten unterschieden sich in den verschiedenen Ländern voneinander. Hier wurden die Opfer gehängt, dort wurden sie erschossen, anderswo lebendig in Zuchthäusern begraben. In der Tschechoslowakei warf man das Opfer aus einem Fenster.
Am 10. März 1948, kurz nach fünf Uhr morgens, klingelte bei dem Prager Polizeiarzt Dr. Teply das Telephon. Er möge sofort ins Palais Czernin kommen, forderte der Polizeidezernent des Innenministeriums den schlaftrunkenen Doktor auf. Aber schnell, ein Auto sei schon zu ihm unterwegs.
Eine dreiviertel Stunde später fuhr Dr. Teply durch den Torbogen des Prager Außenministeriums. Zwei Doppelposten standen davor. Im Innenhof lungerten Geheimpolizisten und Trupps der uniformierten Sicherheitspolizei herum. Man führte Dr. Teply an der Front des alten Palais entlang. Die Augen der Polizisten folgten ihm. Kein Wort wurde gesprochen.
Man stand vor einer ausgebreiteten Decke. Der Offizier der Sicherheitspolizei zog sie weg: ein Toter. Im Schlafanzug. Dr. Teply erkannte ihn sofort. Der Tote war Jan Masaryk, der Außenminister der Tschechoslowakei.
Erschrocken blickte der Arzt den Sicherheitsoffizier an. Der sagte kein Wort, sondern schaute demonstrativ an der Palastfassade nach oben. Teply folgte dem Blick und sah, daß ein Fenster im dritten Stock weit offen stand. Genau unter diesem Fenster (siehe Bild) lag die Leiche des Außenministers Jan Masaryk.
Dr. Teply kniete nieder und begann seine Arbeit. Er ließ den Körper anheben und umdrehen Er öffnete die Schlafanzugjacke. Die Untersuchung dauerte 20 Minuten. Was in dem Befund stand, wurde nie veröffentlicht. Der Polizeiarzt selbst war wenige Monate später tot. Man fand ihn zusammengebrochen über seinem Schreibtisch. Als Todesursache wurde Vergiftung angegeben.
Die offizielle Lesart der kommunistischen Regierung Gottwald über das mysteriöse Ende des nichtkommunistischen Außenministers Jan Masaryk wurde am Vormittag des 10 März verkündet, nachdem mehrere Stunden lang alle Telephon- und Telegraphenverbindungen zwischen Prag und dem Ausland gesperrt waren. Das Kommuniqué lautete: »In den frühen Morgenstunden des 10. März setzte Außenminister Dr. Jan Masaryk seinem dem Lande und der tschechoslowakischen Nation gewidmeten Leben ein Ende. Er litt an einer schweren Erkrankung, die mit Schlaflosigkeit verbunden war. Vermutlich beschloß er in einem Augenblick nervöser Anspannung, seinem Leben ein Ende zu setzen, indem er sich aus dem Fenster seiner offiziellen Residenz in den Hof des Czernin-Palastes hinunterstürzte. Über die Einzelheiten seines tragischen Endes wird eine Untersuchung durchgeführt werden.«
Was bei dieser Untersuchung - wenn sie überhaupt stattfand - herauskam, hat die Welt bis heute nicht erfahren.
Der geheimnisvolle Tod des Jan Masaryk war ein Ausrufezeichen hinter der kurzen Episode der tschechoslowakischen Demokratie. Denn natürlich glaubte kein Mensch im Lande noch sonst irgendwo in der westlichen Welt, daß Jan Masaryk als Selbstmörder gestorben sei.
Der tschechoslowakische Außenminister war 1886 als Sohn des tschechischen Staatsgründers und Humanisten Thomas Garrigue Masaryk und seiner amerikanischen Frau geboren worden. Er war ganz im westlichen Geiste erzogen, vertrat als Politiker allerdings die These, daß der tschechoslowakische Staat außenpolitisch nur durch enge Bindungen an die Sowjet-Union zu sichern sei. Aber das war eine außenpolitische Überzeugung, keineswegs eine politische Ideologie und hing nicht mit seiner Lebensart zusammen, die völlig westlich war.
Jan Masaryk hatte - wie sein Vater - eine Amerikanerin geheiratet Er führte ein luxuriöses und genußreiches Leben, und niemand, der ihn gekannt hatte, vermutete je, daß dieser lebensfrohe und weitgewandte Mann seinem Leben jäh ein Ende setzen würde.
Daß er unter den Kommunisten zu leiden hatte, war sicher. Aber war das für einen Jan Masaryk ein Grund zum Selbstmord? Die Kommunisten: Prags waren zwar auf demselben Wege zur totalen Macht, den sie in allen Hauptstädten Ost- und Südosteuropas beschritten hatten. Sie waren dabei, die letzten
Bastionen der tschechischen Demokratie zu zertrümmern. Aber Staatspräsident Benesch und Außenminister Masaryk, die jene letzten demokratischen Bastionen verkörperten, hatten ja gerade nach dem Staatsstreich im Februar 1948 ihre Posten gehalten, um den Kommunisten den Weg nicht frei zu geben. Und da sollte 14 Tage später der eine von ihnen freiwillig aus dem Fenster gesprungen sein?
»Cui bono?« lautet die alte Frage der Kriminalisten, wenn ein Toter vor ihnen liegt und der Verdacht besteht, daß er ermordet wurde. Cui bono - wem nützt es. Nun, es war im Fall Jan Masaryk kein Zweifel, daß er den Kommunisten sehr gelegen starb. Das war auch die Meinung aller Nichtkommunisten in der Tschechoslowakei. Und hätte ein Theaterdirektor den Mut gehabt, in jenen Tagen »Maria Stuart« aufzuführen, dann hätte das Publikum bei den Worten »Graf! Dieser Mörtimer starb Euch sehr gelegen« wahrscheinlich genauso demonstrativ und frenetisch Beifall geklatscht wie im Dezember 1947, wenige Monate vor Masaryks Tod, als in der Prager Oper Smetanas »Libussa« aufgeführt wurde. In ergreifender Demonstration hatten sich die Zuhörer von ihren Plätzen erhoben, als Böhmens legendäre Fürstin ihr sorgenerfülltes Lied über die Zukunft der Nation sang. Da rollte der Beifall minutenlang durch das Haus.
Wie gesagt, kein Mensch in Prag glaubte an Masaryks Selbstmord. Alle wußten:
Das ist das Zeichen, jetzt wird es Ernst. Jetzt wird Benesch der Wechsel präsentiert, den er am 25. Februar unterschrieb, als er der Gewalt des kommunistischen Staatsstreichs wich, der kommunistischen Vergewaltigung nachgab und eine Regierung der »kommunistischen Konzentration« ernannte. Benesch hatte den kommunistischen Ministerpräsidenten zwar noch zwingen können, Masaryk wieder als Außenminister zu akzeptieren. Aber nun war Masaryk tot. Es blieb dem Westen vorbehalten, sich weiterhin der Täuschung hinzugeben, daß alles halb so schlimm stand. Klassisch kam das in einer amerikanischen Wochenzeitung zum Ausdruck: »Die Tschechoslowakei, wie auch Benesch, waren in der letzten Woche krank und verwirrt; aber, wie Benesch, hat das Land noch immer eine Chance, auf die Straße des Westens zurückzufinden.«
Wie starb Masaryk wirklich? Bis heute kann es niemand mit Bestimmtheit sagen. Zwar tauchen immer wieder Zeugen auf, die angeblich letzte Informationen - sei es von Masaryk selbst oder von Dr. Teply oder von hohen kommunistischen Funktionären - erhalten haben wollen. Aber was sie berichten, ist widerspruchsvoll.
Die einen wollen wissen, daß der Polizeiarzt Dr. Teply am Hinterkopf Masaryks eine Einschußwunde aus einer Pistole Kaliber 7,65 entdeckte, Kratzwunden am Körper feststellte und in seinem Gutachten erklärte, die gebrochenen Knöchel könnten nicht von einem Sturz herrühren, sondern der Bruch sei gewaltsam durch einen schweren eisernen Gegenstand bewirkt. Diese Darstellung ist von der englischen Presse weitgehend vertreten worden.
Andere Berichte besagen, Masaryk sei auf einem geheimen Flugplatz, von dem er in den Westen fliehen wollte, erschossen und erst als toter Mann auf den Hof des Czernin-Palais geschafft worden. Ein 1949 nach England geflüchteter tschechischer Offizier stützt diese These. Ein Bordmechaniker der Fluchtmaschine habe den Plan in einer Bar ausgequatscht, sei wenige Stunden vor dem Abflug verhaftet und durch einen Mann des Geheimdienstes ersetzt worden. Masaryk sollte beim Betreten des Flugplatzes verhaftet werden, versuchte jedoch zu fliehen und wurde erschossen.
Für diese These liegt außer dem Zeugnis des tschechischen Offiziers noch ein anderes sehr eindrucksvolles Indiz vor: Ein Freund Masaryks, der englische Schriftsteller Bruce Lockhart, berichtet, daß er von Masaryk eine Nachricht über seine bevorstehende Flucht erhalten habe. Sie habe ihn am selben Tage erreicht, da in Prag die offizielle Mitteilung über den Tod des Außenministers veröffentlicht wurde.
Allerdings scheint der Gedanke etwas abenteuerlich, daß die Kommunisten nach der Erschießung Masaryks ein so umständliches Schauspiel in Szene gesetzt haben sollten, nämlich den Toten erst in einen Schlafanzug zu kleiden, ihn dann in den Hof des Czernin-Palais zu schaffen, um ihn dort vielen Augenzeugen und der Untersuchung eines offenbar nicht gerade kommunistisch zuverlässigen Polizeiarztes auszusetzen.
Der Legendenkranz um Masaryks Ende wird noch bunter, wenn man vernimmt, daß andere »Augenzeugen« bei dem Toten eine Schuß- oder auch eine Stichverletzung an der Schläfe festgestellt haben wollen, wieder andere einen Herzschuß. In Prag selbst gab und gibt es um den mysteriösen Tod des Außenministers Masaryk nur eine Version. Man spricht dort einfach von dem »Prager Fenstersturz« und glaubt, daß Masaryk tatsächlich - aber nicht freiwillig - aus dem Fenster seines Palais stürzte, genauer: gestürzt wurde. Wer sollte auch einen Fall aus etwa 15 Meter Höhe auf den gepflasterten Hof überstehen'
Eine solche Methode des Mordes hätte in Prag immerhin Tradition. Sie wurde im Zusammenhang mit den sozialen, nationalen und religiösen Unruhen und Aufständen gegen die deutsche Oberschicht beim historischen ersten »Prager Fenstersturz« am 30. Juni 1419 geübt und beim zweiten »Prager Fenstersturz« am 23. Mai 1618, den die Geschichtsbücher als den Beginn des Dreißigjährigen Krieges verzeichnen, wiederholt. Dank der damaligen hygienischen Verhältnisse kamen allerdings die 1618 aus dem Fenster geworfenen Opfer - Graf von Martinitz, der Statthalter Slawata und der Schreiber Fabricius - mit dem Leben davon. Sie fielen auf einen Misthaufen.
Masaryk hatte am Nachmittag des 9. März den tschechischen Präsidenten Benesch auf dessen Landgut besucht. Was dort besprochen wurde, hat Benesch mit ins Grab genommen. Anschließend empfing der Außenminister Besuche. Um 20 Uhr aß er in seinem Schlafzimmer im dritten Stock des Czernin-Palais zu Abend. Gegen 21 Uhr schickte er seinen Diener ins Bett und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er muß Briefe geschrieben haben, denn die Mappe mit seinen Privatbriefbogen war bis auf einen einzigen leer. Es gibt auch Zeugen, denen Masaryk am Tage zuvor erklärt hatte, er arbeite an einem wichtigen Schreiben. Daß diese Briefe verschwunden sind, ist kein Wunder, denn die ersten, die den Raum nach Masaryks Tod betraten, waren der kommunistische Innenminister Nosek und Staatssekretär Clementis.
Seltsame Leichenflecke
Kurz nach vier Uhr hatte die Wache im Czernin-Palais die Runde um das Gebäude gemacht. Sie stellte keine besonderen Vorkommnisse fest. Um fünf Uhr fand die Wache dann Masaryk tot auf dem Hof. Kurze Zeit darauf untersuchte der Polizeiarzt Dr. Teply die Leiche, öffnete die Jacke des Schlafanzuges und entdeckte Leichenflecke, die frühestens sechs Stunden, bestimmt aber zwölf Stunden nach Eintritt des Todes am Körper eines Toten auftreten. Die Leichenflecke waren nicht nur für den Polizeiarzt erkennbar, sondern auch für zwei Angehörige der Sicherheitspolizei, die außer bei der kommunistischen Regierung in Prag auch noch in anderen Diensten standen.
Über diesen Anhaltspunkt hinaus erkundeten die Geheimdienste Englands und der USA noch mehr Einzelheiten, die so eindeutig gewesen sein müssen, daß der britische Politiker und Diplomat Lord Vansittart und der ehemalige Präsident der Vereinigten Staaten, Harry S. Truman, die These von einem Mord an Masaryk öffentlich vertraten.
Vansittart schrieb in einem vielbeachteten Artikel in der »Daily Mail« am 4. Mai 1948, es gebe nach seinen Feststellungen - und das heißt nach den Feststellungen des britischen Geheimdienstes - keinen Zweifel, daß Masaryk in seiner Wohnung ermordet und dann auf den Hof geschafft wurde.
Vansittart berichtet auch von einem - noch durch andere Informationen bestätigten - Sprengstoffanschlag auf Masaryk am 11. September 1947. Der Anschlag wurde mittels eines Päckchens gemacht, das als persönliche Geschenksendung mit der Aufschrift »Parfüm« an Masaryk »persönlich« adressiert war. Aber gerade diese Aufschrift erregte Verdacht. Beim sachgemäßen Öffnen kam eine Bombe zum Vorschein, die beim Aufreißen eines Fadens explodiert wäre. Es war die gleiche Methode, mit der acht Jahre später der slowakische Exilpolitiker Cernak in München ermordet wurde.
Präsident Truman gab für seine These vom Mord an Masaryk zwar keine detaillierte Begründung, dafür aber brachte er sie in einer außerordentlich eindrucksvollen Demonstration vor die Öffentlichkeit, was er als Staatsoberhaupt zweifellos nicht getan hätte, ohne handfeste Beweise zu besitzen. Er erklärte am
25. August 1951, als ihm der neue tschechoslowakische Botschafter Vladimir Prochaska sein Beglaubigungsschreiben überreichte: »Die Beziehungen zwischen unseren Ländern haben sich seit der Ermordung Jan Masaryks ständig verschlechtert.«
Die geheimnisvollen Umstände um den Tod Masaryks mögen weiterhin ungeklärt bleiben. Was aber war in der Tschechoslowakei im Frühjahr 1948 geschehen? Was machte den Mord an Masaryk zu einem politischen Symbol? Diese Frage umreißt eines der eindrucksvollsten Kapitel des kommunistischen und sowjetischen Kampfes um die Macht in Osteuropa.
Benesch und Masaryk waren die Vertreter des nationalliberalen europäischen Gedankengutes, die nach dem zweiten Weltkrieg die Kollaboration und die Koexistenz von Demokratie und Kommunismus, von West und Ost, in ihrem Lande, in der Tschechoslowakei, am eifrigsten verfochten und am längsten mit Erfolg praktizierten. Von beiden sagte man, daß sie im östlichen wie im westlichen Lager ungeschmälertes Vertrauen besäßen.
Benesch war der Ankergrund, der Leitstern aller im Abwehrkampf gegen die Kommunisten stehenden liberalen Kräfte Südosteuropas. Benesch war der Trost für die Verzweifelnden. Der Mann, den Roosevelt einst in seinem engeren Beraterkreis gehabt hatte, der das Ohr Londons wie kaum ein zweiter besaß, auf den Paris hörte und der von Stalin und seinen Kommunisten mit Achtung behandelt wurde, schrieb noch im ersten Band seiner Memoiren, die 1947 erschienen: »Die Entwicklung eines neuen Sowjet-Imperiums, das in seiner Dezentralisierung jeder der Sowjet-Nationen ihren sicheren Platz gewährt, ist zweifellos im Fortschreiten begriffen. Die Sowjet-Union wird alle slawischen Völker führen und so eine neue Position in der Welt erringen. Ihr Siegesbewußtsein ist allumfassend.«
Eine Reliquie im Safe des Czernin-Palastes
Außenminister Masaryk ergänzte diesen Optimismus fünf Tage vor seinem Tod in einer Rede, in der er erklärte: »Unser Platz ist an der Seite der Sowjet-Union. Wir müssen dankbar sein, wenn sie uns diesen Platz einräumt. Die grundsätzliche Linie unserer Außenpolitik heißt bedingungsloses Zusammengehen mit der Sowjet-Union und Wachsamkeit gegenüber Deutschland.«
Benesch und Masaryk stützten ihre Politik der »bedingungslosen Zusammenarbeit mit der Sowjet-Union« und die Hoffnung, dabei die nationale Selbständigkeit trotzdem bewahren zu können, auf ein Papier. Es lag als eine Art Reliquie im Safe des Czernin-Palastes und trug die Unterschrift Stalins.
Es wurde 1943 in Moskau unterzeichnet und erhielt die Zusage für Benesch, daß sein Land unabhängig bleiben und daß Moskau sich in die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei nicht einmischen werde. Die Tschechoslowakei als mitteleuropäische Brücke zwischen West und Ost war in diesem Vertrag als Maxime der sowjetischen Politik deklariert. Prag war die zur politischen Wirklichkeit gewordene Koexistenz. Mit Brief und Siegel hatte es Stalin gegeben.
Natürlich kostete die Koexistenz mit den Kommunisten manches Zugeständnis: Benesch und Masaryk hatten die Augen zugemacht, als das kommunistische Dreigestirn Gottwald. Zapotocky und Slansky nach dem Zusammenbruch der deutschen Wehrmacht in Prag zum großen politischen Reinemachen schritt. Präsident Benesch, der einer der eifrigsten Prediger der Humanitas und des liberalen Gedankengutes war, ließ zu, daß der Prälat Tiso, der Staatschef der 1939 durch Hitler selbständig gewordenen Slowakei, zum Tode verurteilt und im Priesterrock am Galgenpfahl erdrosselt wurde.
Benesch gab der Ausweisung von mehr als einer Million Deutschen sogar eine staatspolitische und moralische Begründung, indem er diesen Schritt als »für den Bestand des Staates unumgänglich nötig« erklärte. Er wies die Proteste der sudetendeutschen Sozialdemokraten zurück, die damals versuchten. Benesch zum Einschreiten gegen diese Orgie des Hasses zu bewegen. Er fiel dem Generalsekretär der tschechischen KP, Rudolf Slansky, nicht in den Arm als der aus dem »humanen Transfer« der Deutschen, wie ihn die Westmächte gefordert hatten, einen fürchterlichen Massenmord machte, dem über 300 000 Menschen zum Opfer fielen. Sie starben in den 51 Konzentrationslagern und wurden erschlagen oder auf Zwangsmärschen zu Tode gehetzt*.
Das alles nahm Eduard Benesch in Kauf. Er warf den Sowjets die Karpato-Ukraine (siehe Karte) hin, pries die rote Weltmacht, glorifizierte Stalin und kämpfte zeit seines Lebens für eine Verständigung zwischen den westlichen Demokratien und der Sowjet-Union. Er machte Klement Gottwald zum kommunistischen Ministerpräsidenten, nachdem der sozialdemokratische Renegat Fierlinger als Ministerpräsident von 1945 bis Juni 1946 seine Kerenski-Pflicht erfüllt hatte. Er ließ den Altstalinisten und Tischlergesellen Gottwald aus dem mährischen Dorf Dedice regieren und meinte noch 1947 zu seinem englischen Besucher Lockhart: »Gottwald ist korrekt, vernünftig, ich ziehe ihn dem Sozialdemokraten Fierlinger vor.«
Benesch ließ einen fanatischen Innenminister, den ehemaligen Bergmann und skrupellosen Stalinisten Nosek, wirken, obgleich er noch im Frühjahr 1945 in London erklärt hatte, die Kommunisten würden das Innenministerium nur über seine Leiche erhalten. Er ließ einen gewissenlosen und dogmatischen Generalsekretär der KP, Rudolf Slansky, alias Salzmann, am Prager Pulverturm mit einem Agentenzentrum, mit Terrortrupps und Schwarzhandelsorganisationen eine Art Gegenpräsidium aufrichten. Er sah Antonin Zapotocky zu, der die mächtige Gewerkschaftsbewegung des tschechischen Industriestaates zu einer straff gelenkten kommunistischen Organisation machte. Alles das hatte Benesch konzediert, in der Illusion, sein Land trotzdem als Brücke zwischen West und Ost erhalten zu können.
Bei alledem repräsentierte Benesch auf dem Hradschin bis zum Februar 1948 doch noch eine Demokratie. Die Tschechoslowakei war das einzige Land Osteuropas, in dem die Kommunisten bei den Wahlen 1946 regulär mit 37,9 Prozent der Wählerstimmen zur stärksten Partei wurden. Mit den Sozialdemokraten (12,2 Prozent) hatten sie eine knappe Mehrheit über den bürgerlichen Block, in dem Beneschs Volks-Sozialisten 18,3 Prozent, die Katholische Volkspartei 15,6 Prozent und die slowakischen Demokraten 13,8 Prozent der tschechischen Wähler repräsentierten.
Die Kommunisten hatten 114 von 300 Sitzen. Zusammen mit den 39 Sitzen der von Fierlinger geführten Sozialdemokraten besaßen sie eine winzige Mehrheit über den antikommunistischen Flügel. Trotzdem waren die Kommunisten in ein Allparteien-Kabinett gegangen, natürlich mit Gottwald als Ministerpräsidenten und mit Kommunisten in einigen Schlüsselministerien.
Aber alle Zugeständnisse nützten Benesch nichts. Seine Schlauheit, sein Nimbus, sein Optimismus und sein Papier wurden zu nichts, als Stalin den Augenblick für gekommen hielt, sein
Großreich um das industrielle Herzstück Böhmens zu vergrößern, so wie Petkoffs Heldentum an Stalins Entschlossenheit scheiterte, aus Bulgarien eine rote Provinz zu machen.
Im Frühjahr 1948 sollten Parlamentswahlen stattfinden. Die Kommunisten spurten, daß sich bei diesen Wahlen der Sieg von 1946 nicht wiederholen würde. Dabei war die wirtschaftliche Lage der Tschechoslowakei 1947 weit besser als die aller anderen ost- und südosteuropäischen Länder. Noch bestanden Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zum Westen. Stalin war 1947 sogar noch bereit, Masaryk als Ersatz für die Marshallplanhilfe großzügige sowjetische Wirtschaftshilfe zuzusagen. Stalin hielt sogar teilweise sein Versprechen. Es mag interessant sein, wie taktisch gerissen Stalin mit Masaryk und Benesch - noch ein Jahr vor dem kommunistischen Umsturz in der Tschechoslowakischen Republik - paktierte. Unter dem Einfluß Beneschs und Masaryks hatte sich die Regierung Gottwald im Sommer 1947 damit einverstanden erklärt, daß die Tschechoslowakei die Marshallplanhilfe annimmt. »Ob es Moskau paßt oder nicht!«, soll Gottwald in einer Anwandlung nationalen Trotzes zu Marsaryk gesagt haben.
Das war eine echte Sensation. Der Beitritt der Tschechoslowakei zum Marshallplan hätte bedeutet, daß das amerikanische Hilfswerk, das als Initialzündung für eine europäische Zusammenarbeit gedacht war, den Eisernen Vorhang durchstieß.
Genau fünf Tage dauerte die Freude. Dann war der Westen in aller Härte mit Stalins unbeugsamem Willen konfrontiert, in seinem Machtbereich keinen westlichen Einfluß zu dulden: Jan Masaryk wurde mit Gottwald nach Moskau zitiert.
Stalin holte die beiden zu sich, und Ministerpräsident und Außenminister telegraphierten nach Prag, daß die Zustimmung zum Marschallplan sofort zu widerrufen sei. Begründung: Eine Teilnahme am Marschallplan könnte als eine Handlung gegen die Sowjet-Union ausgelegt werden.
Als Masaryk am 12. Juli 1947 aus Moskau nach Prag zurückkehrte, soll er seinem englischen Freund Bruce Lockhart gesagt haben: »Ich bin als Außenminister eines souveränen Staates nach Moskau gereist, ich komme als Lakai der Sowjetregierung zurück.«
Aber Masaryk glaubte offenbar, auch als Lakai noch wirken zu können. Er gab nach seiner Rückkehr auch dem Präsidenten der amerikanischen Handelskammer, Eric Johnston, in einer vertraulichen Unterhaltung Informationen über den Verlauf der Konferenz. Sie klingen nicht so pessimistisch wie das von Lockhart überlieferte Zitat.
Nach Johnston, der die Unterhaltung sofort zu Papier brachte, nahm diese Konferenz folgenden Verlauf: Stalin argumentierte gegen Masarky: »Warum schielt ihr nach Westen? Ihr seid doch Slawen. Haltet euch doch an uns. Wir geben euch gern, was ihr braucht.«
Masaryk antwortete: »Wenn wir uns bestimmen lassen, nicht nach Paris zu den Verhandlungen über den Marshallplan zu fahren, brauchen wir die Hilfe von anderer Seite. Wir benötigen allein 300 000 Tonnen Getreide.« Stalin erwiderte, Rußland habe eine gute Ernte gehabt. Es könne deshalb - wenn auch nicht 300 000 Tonnen - so doch 200 000 Tonnen liefern, und zwar sofort.
»Unter uns gesagt«, gestand Masaryk dem Johnston, »wir brauchten nicht mehr als 200 000 Tonnen. Aber ich kannte Stalin. Ich wußte, daß er gern feilscht. Ich gab ihm dann eine lange Liste von Dingen, die wir haben mußten: Gummi, Eisenerz, Metalle. Aber die Liste imponierte ihm in keiner Weise. Mikojan, der Volkskommissar für den Außenhandel, werde sich sicher freigebig zeigen, meinte er nur. Und Mikojan war freigebig. Der kleine Armenier, sonst scharf wie ein Rasiermesser, hatte eben seinen Befehl und führte ihn aus. Er wollte uns beweisen, daß Rußland genauso aus dem vollen schöpfen kann wie Amerika.«
Masaryk erzählte weiter: »Am nächsten Abend waren wir zu einem Bankett geladen. Der Alkohol floß in Strömen. Ich hielt mich an den Wodka, da ich weiß, daß er keinen schweren Kopf macht. Aber die Russen, vor allem die Mitglieder des Politbüros, waren wie die Kinder. Sie griffen nach den grellgefärbten Schnäpsen, aus Freude darüber, daß wir nicht nach Paris zu fahren brauchten. Beim Fisch - einem vorzüglichen Gericht, dem sich Stalin mit großem Eifer widmete - hatte ich Gelegenheit, ihm auf den Zahn zu fühlen. Ich wies darauf hin, Rußland sei nun gezwungen, uns zu liefern, was wir brauchten, denn sonst müßten wir uns dem Westen zuwenden. Auf das 'müßten' legte ich einen besonderen Ton. Stalins Antwort war kurz: 'Das brauchen Sie nicht. Sie werden erhalten, was notwendig ist!' In seinen Worten lag eine spürbare Schärfe. Sie machte mir deutlich, daß er überzeugt war, uns in der Hand zu haben. Als wir die Probleme im einzelnen besprachen, schlug ich vor, Fertigwaren gegen Rohmaterial auszutauschen. Vor allem bot ich Schuhe an, einen Artikel, den wir im Überfluß erzeugten. Aber die Kommissare hoben abwehrend die Hände: 'Bloß keine Schuhe!' Das wunderte mich, denn jedermann konnte mit eigenen Augen sehen, daß Millionen Russen Lappen um die Füße binden mußten. Stalin, gut gelaunt, löste das Rätsel: 'Eure Schuhe sind zu schön. Sie bringen die russischen Erzeugnisse in Mißkredit. Besonders die Frauen bekommen dadurch zu seltsame Vorstellungen über den Westen.' In diesem Augenblick erkannte ich blitzartig, daß die Russen stark an Minderwertigkeitskomplexen litten, daß sie fühlten, wie weit sie hinter dem Westen zurück waren. Deshalb fürchteten sie ihn. Deshalb machten sie uns, einem Volk des Westens, Zugeständnisse. Sie wagen ganz einfach nicht, uns mit der gleichen Härte zu behandeln wie die Polen und Rumänen. Sie fühlen, daß wir uns nie beugen werden!« Armer Masaryk!
Natürlich wurden die Versprechungen nur halb erfüllt. Die wirtschaftliche Lage des Landes verschlechterte sich zusehends. Die tschechische Industrie wurde auf die sowjetischen Bedürfnisse ausgerichtet. Die Preise wurden gedrückt - man kennt die Entwicklung aus Jugoslawien, aus Bulgarien, aus Ungarn. Nur ein Unterschied bestand: In Prag saß zu der Zeit, als in Belgrad, Budapest, Sofia und Bukarest der Widerstand gegen Stalins Kolonisationspolitik von kommunistischen Staatsspitzen, von Nationalkommunisten geführt wurde, ein Benesch an der Spitze des Staates, ein Masaryk im Palais Czernin und ein nur mit halbem, Herzen kommunistischer Svoboda im Verteidigungsministerium. Der nationalkommunistische Kampf gegen Stalin blieb daher in Prag aus. Er wurde dort zum Kampf des Kreml gegen die nationaldemokratische Opposition. Eine Tatsache, die bis auf den heutigen Tat ihre Bedeutung hat: Es gibt in Prag keine nationalkommunistischen Märtyrer.
Mitten im Kriege gegen Hitler-Deutschland hatte Jan Masaryk in einer Rundfunkansprache von London aus den Widerstandskämpfern zu Hause die zündende Parole gegeben: »Lieber stehend sterben, als kniend leben.« Viele hatten sie befolgt. Im Februar 1948 war es auch für Jan Masaryk soweit, sich daran zu halten. Aber er entschied sich anders.
Stalins Lieferungen hatten mit dem Ende des Jahres 1947 die ständige Schrumpfung des Wirtschaftsverkehrs mit dem Westen nicht ausgleichen können. Die Tschechen murrten. Sie murrten über das schlechte Essen und den Feigenkaffee. Sie knurrten über den Mangel an Zucker, der durch Sacharin ersetzt werden mußte, über die immer geringer werdende Fleischration, über den schwarzen Markt und das Leben der roten Bonzen. Ihre Laune wurde nicht besser, wenn ihnen die kommunistischen Zeitungen und Agitatoren täglich vorhielten, daß jeder Tscheche »dreimal in der Woche Sowjetknödel, Sowjetbrot und Sowjetsemmeln« ißt.
»Wo kamen denn früher unsere weißen Semmeln und unser guter Kaffee her?« fragten sie.
Vor dieser Kulisse des kommunistischen Paradieses war bei den Wahlen für Gottwald und den Kreml kein Sieg zu erwarten. Benesch wußte es, und er hoffte auf einen mächtigen Aufschwung seiner Partei. Aber auch Gottwald, Slansky und der Kreml wußten es, und sie wollten auf keinen Fall eine Niederlage.
Sehr bald nach der Jahreswende 1947/48 ging das Geraune durch die Prager Gassen: »Umsturz! Staatsstreich!« Der Ton der kommunistischen Reden wurde schärfer, Slanskys Parolen aggressiver. Vom Pulverturm wurde scharf gegen den Hradschin und noch schärfer gegen das Palais Czernin geschossen, wo Masaryk unter der Kontrolle seines kommunistischen Staatssekretärs Clementis wirkte.
Aber auch Beneschs Anhänger blieben nicht tatenlos. Seine Volkssozialisten organisierten ihre Kader auf dem Lande. Die große nationale Sportorganisation, der Sokol, war entschlossen, die nationale Freiheit zu verteidigen. Bei den Sozialdemokraten regte sich der Widerstand gegen den kommunistischen Kollaborateur Fierlinger vom linken Flügel.
Die Fronten formierten sich. Hier demokratische Parteien, nationale Organisationen und ein Teil der Armee mit dem stellvertretenden Generalstabschef Pika - der Verteidigungsminister General Svoboda und der Generalstabschef Botschek waren laue Opportunisten - und über allen die Figur Beneschs, auf dessen Zeichen man wartete.
Auf der anderen Seite der Front stand Gottwald, der rabiate »Volksmann«, der Mann der Aktion, der sich so gern als biederer Vater der Arbeiter gab. Er hatte zweifellos viele Sympathien bei den Massen, wenn sie auch ihre Witze über ihn machten, und
mehr noch über seine Frau, die so gar nicht in die eleganten Kleider und die feudale Villa paßte. Gottwald war alter Kommunist und hatte schon 1926, mit 29 Jahren, im Zentralkomitee der tschechischen KP gesessen.
Neben Gottwald stand Zapotocky, der Chef der Gewerkschaften mit ihren rund zwei Millionen Mitgliedern. Er hielt den Generalstreik als Waffe in der Faust. Und der Bauernsohn mit dem biederen Gesicht eines Sparkassenkassierers ließ keinen Zweifel, daß er diese Drohung wahrmachen würde. Er war der Apostel des Klassenkampfes.
Der dritte Mann im kommunistischen Generalstab Prags aber war der Gefährlichste: Rudolf Slansky. Sein richtiger Name war Salzmann. Er stammte aus einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie und war als junger Intellektueller zu den Kommunisten gestoßen. Wie so oft, bekam auch bei diesem Mann mit der unproletarischen Herkunft der Fanatismus des Klassenkampfes und der Haß gegen »die Klassenfeinde« einen besonderen Hitzegrad.
Slansky war seit 1945 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Er hatte die Säuberungen in den Ministerien geleitet. Er führte die Listen der Staatsfeinde. Er stand hinter der Vernichtung von 300 000 Deutschen nach 1945, deren Einzelheiten er bereits im Sommer 1943 in der Studienkommission beim Sekretariat der KPdSU(B) in Moskau festgelegt hatte. Arrogant, zynisch, gewissenlos und brutal, dabei von brillanter Intelligenz, war er das beste Instrument des Kreml in der Tschechoslowakei.
Er war eigentlich der Chef. Weder Gottwald noch Zapotocky wagten, gegen ihn aufzumucken. Gottwald gegenüber ließ Slansky bei jeder Gelegenheit merken, daß er ihn für einen beschränkten Proleten halte, der sich gerade eben als Aushängeschild für die Arbeiter eigne, im Parlament und auf der Straße mit populären Reden auftrumpfen dürfe, der aber in parteitheoretischen und dogmatischen Fragen zu parieren habe:
Diese Arbeitsteilung ermöglichte ein geschicktes Taktieren mit Benesch. Gottwald zeigte sich als »demokratischer Partner«, machte hier und dort auch jovial Zugeständnisse, ließ sich sogar von Benesch überzeugen - wie in der Frage des Marshallplans -, aber die wichtigen Entscheidungen fällte Slansky. Wahrscheinlich ließ er Gottwald sogar absichtlich in die Kabinettszustimmung zum Marshallplan stolpern, um ihn dann im Kreml abputzen zu lassen. Gottwald ärgerte sich dann; schäumte, schwor auch Rache, aber - gehorchte. Gottwald war der Aktivist. Er handelte auf Befehle. Slansky war der verlängerte Arm des Moskauer Politbüros. Seine Befehlsgeber waren Berija und Schdanow, die beiden mächtigen Männer im Kreml.
Das waren die Akteure des Kampfes um Prag. Sie standen sich Anfang 1948 sprungbereit gegenüber. Als im Februar der kommunistische Innenminister, ohne das Kabinett zu befragen, eine Anzahl Kommunisten zu Polizeioffizieren ernannte, sprang der Funke über. Die zwölf nichtkommunistischen Kabinettsmitglieder traten aus der Regierung aus. Sie wollten auf diese Weise den Ministerpräsidenten Gottwald stürzen und Benesch Gelegenheit geben, ein neues Kabinett mit einem unpolitischen Ministerpräsidenten bis zur Wahl zu ernennen. Ein kluger Plan. Aber ...
Die Kommunisten gingen zum Gegenangriff über. Und das konnten sie besser als die Demokraten.
Der kommunistische Innenminister hatte die Entdeckung einer reaktionären Verschwörung parat. Es hagelte Verhaftungen. Auf dem Prager Altstädter Ring wurde zur Massenversammlung gerufen. Die Volksseele wurde angeheizt. Im Lande wurden Aktionskomitees gebildet. In 24 Stunden waren sie da, bewaffnet und wohlorganisiert. Sie formierten sich in jeder Fabrik, in jedem Hotel, in jedem Klub und Verein, in den Universitäten, den höheren Schulen und in den Zeitungsredaktionen. Sie verhafteten. Sie säuberten. Sie marschierten. Sie terrorisierten. Besetzten Rundfunkstationen und Druckereien, Postämter und Rathäuser, Wasserwerke und Versorgungsbetriebe.
Was aber tat der Präsident? Gottwald verlangte, er solle die Demission der nichtkommunistischen Minister annehmen, und präsentierte ihm eine neue Kabinettsliste mit Kommunisten und Mitläufern. Würde Benesch unterschreiben?
An einem geheimen Telephonapparat, der ihn mit dem Präsidenten direkt verband, saß der stellvertretende Generalstabschef, General Pika, und wartete auf das Stichwort: Marschieren.
Fünf Tage wartete er. Fünf Tage widerstand Benesch dem täglich wachsenden Druck der Kommunisten, die neue Kabinettsliste zu unterschreiben.
Es kam zu wilden Wortschlachten auf der Burg. Gottwald drohte mit Bürgerkrieg. »Sie behandeln mich schlimmer, als Hitler den (Staatspräsidenten des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren) Hacha behandelt hat«, antwortete Benesch.
Am 24. Februar ruft Zapotocky einen einstündigen Generalstreik aus. Als Warnung an die Burg! Benesch beschwört seine Gegner. Er beschwört die Demokratie und die nationale Unabhängigkeit.
»Unterschreiben!« ist Gottwalds Antwort. Er will die kommunistische Machtergreifung mit dem Namenszug Beneschs. Er will »legal« an die Macht - ein merkwürdiger Hang totalitärer Herrscher, den auch Hitler zeigte. Es dokumentiert sich darin ein interessanter europäischer Zug »legalistischen Denkens«, der zum Beispiel russischen Kommunisten ganz fremd ist. Vielleicht war dieses Vorgehen aber auch bestimmt durch den Wunsch, eine formale Verletzung des Vertrages von 1943 zu vermeiden.
Kein Mensch weiß, was im Kopf Beneschs in den letzten 24 Stunden vor dem 25. Februar 1948 vorging. Er war nicht mehr bei bester Gesundheit, hatte bereits einen Nervenzusammenbruch erlitten und fürchtete den Bürgerkrieg. Vor allem aber überschätzte er seine Autorität bei den Kommunisten. Seine Freunde verzweifelten. Sie alle waren überzeugt, daß die Armee und die nationalen Verbände die Kommunisten schlagen könnten.
Aber was würde Stalin tun? Es scheint, daß diese Frage den-Ausschlag gab. Es gibt kein absolut verbürgtes Zeugnis über die letzte Auseinandersetzung, die Benesch am 24. Februar in der Prager Burg, dem Schloß der 800 Zimmer, mit Klement Gottwald hatte. Aber vieles spricht für die Richtigkeit eines Berichtes, demzufolge Gottwald ein Ultimatum von 24 Stunden stellte: »Unterschreiben oder Bürgerkrieg!«
Benesch erwiderte: »Sie haben die parlamentarische Demokratie in unserem Land zerschlagen, ja, durch Ihr Handeln verschärft sich der internationale Konflikt. Was Sie unternehmen, ist ein Gewaltstreich gegen den Frieden. Ich will nicht als Deckmantel eines Polizeiterrors dienen, heute abend noch werde ich mich im Rundfunk an die Öffentlichkeit wenden.« Eine Rundfunkrede Beneschs - das konnte die vor der Weltöffentlichkeit gegebene Begründung für eine Militäraktion gegen die Kommunisten werden.
Gottwald antwortete deshalb gerissen: »Kopecky (der kommunistische Informationsminister) hat die Kontrolle der Rundfunksendungen in der Hand. Sie wissen, daß er in seiner Jugend etwas trotzkistisch war. Er ist sehr heftig, und es ist möglich, daß er den Text Ihrer Erklärung erst lesen möchte und daß er sich weigert, sie durchzulassen. In diesem Fall vermag ich absolut nichts zu tun, denn ich muß auf die Stimmung unserer Funktionäre Rücksicht nehmen, die sehr aufgebracht sind.«
Wie diese Mitteilung auf Benesch wirkte, beweist die Tatsache, daß er zum ersten Male seine diplomatische Fassung verlor und bitter, bitter wie noch nie, erklärte: »Vor allem müssen Sie wohl auf die Befehle des Herrn Sorin Rücksicht nehmen ...«
Mit »Herrn Sorin« meinte Benesch den stellvertretenden sowjetischen Außenminister, der sich in Prag als moskowitischer Sonderbotschafter aufhielt und zweifellos hinter den Kulissen die Drähte zog. Er war der Aufpasser des Kreml, weniger der Initiator des Staatsstreiches.
Benesch muß bitter enttäuscht gewesen sein. In seinen Memoiren schreibt er über ein Gespräch mit Gottwald in Moskau im Jahre 1943 noch optimistisch: »Ich erkannte, daß es trotz ernster Meinungsverschiedenheiten in entscheidenden Zeiten möglich sein werde, über die wichtigsten Probleme unserer Nachkriegspolitik zu einer Einigung zu gelangen. Vor allem aber erkannte ich, daß es möglich sei, den Bürgerkrieg zu Hause zu vermeiden.«
Am Nachmittag des 25. Februar 1948 war alles vorbei. Eduard Benesch unterschrieb. Als er die Burg im Auto verließ, legte er den Kopf in den Schoß seiner Frau und weinte.
Er hatte Gottwald und das kommunistische Kabinett ernannt. Er hatte die Regeln der Demokratie außer Kraft gesetzt. Er hatte sein Land den Kommunisten ausgeliefert - mit seiner Unterschrift. Das schlimmste aber - Benesch trat nicht zurück. Er blieb Präsident. Er deckte damit alles, was nun geschah. Hoffte er noch immer? Der rote Fahrplan lief wieder ab: der Terror, die Säuberungen, die Verhaftungen, der Mord, der Wahnsinn, die Selbstmorde.
Die Tschechoslowakei wurde kommunistisch. Vierzehn Tage später lag Masaryk, dessen Verbleiben im Außenministerium Benesch als einziges durchgesetzt hatte, tot unter dem Fenster des Czernin-Palais. Drei Monate später, am 7. Juni 1948, trat Benesch - zu spät - von seinem Amt als Staatspräsident zurück. Er ließ sich von den kommunistischen Machthabern das Präsidentenschloß Lany als Alterssitz schenken und starb dort am 3. September 1948.
Der letzte »bürgerliche Garant« der liberalen Front Ost- und Südosteuropas war abgetreten. Er hatte sogar noch die Schande und die historische Verantwortung auf sich geladen, mit eigener Hand sein Land kommunistisch gemacht zu haben.
Antonin Zapotocky war bereits Ministerpräsident, Slansky blieb als Generalsekretär der Partei auf der Höhe seiner Macht. Im Hradschin aber thronte Klement Gottwald, Stalins Statthalter, als roter Präsident über eine rote Provinz des roten Reiches. Das »ideale kommunistische Dreigestirn«, wie man in der kommunistischen Welt sagte, war an der Macht. Es herrschte fleißig und hängte eifrig, machte Zwei- und Fünfjahrespläne, entdeckte Verschwörungen und liquidierte sie. General Pika wurde im Juni 1949 als Verräter und englischer Spion gehängt, seine Offiziere erschossen. Was in Prag bis 1948 noch nicht gesäubert war, wurde nun schleunigst beseitigt. Über die alte Stadt an der Moldau legte sich der Trauerschleier des roten Paradieses.
Aber im roten Reich ist kein Rudergänger vor seinem Ende glücklich zu preisen. Wer heute Held ist, kann morgen Lump sein. Bald sollte sich das wieder einmal erweisen, An einem, von dem es keiner erwartete. (Fortsetzung folgt)
* Oberstleutnant F. O. Miksche, ehemaliger tschechischer Militärattaché in Paris, später im Hauptquartier General Eisenhowers, veröffentlichte diese Zahlen in einer Broschüre, die in England erschien.
Prager Fenstersturz 1618 und 1948: In der Tschechoslowakei wirft man Gegner durch die Fenster. Hof im Prager Palais Czernin
Jan Masaryk auf dem Totenbett: Den Nutzen hatten die Roten
Thomas Masaryk (gest. 1937)
Ein Leben für die Tschechen
Präsident Benesch und Frau: Der Platz der Tschechen ...
... ist an der Seite der Sowjet-Union: Sozialist Fierlinger, Jan Masaryk, Botschafter Sorin
Ministerpräsident Gottwald, Gattin: Die Frauen bekommen ...
Gewerkschaftschef Zapotocky*, Gattin
... seltsame Vorstellungen vom Westen
Slansky, Malenkow, Suslow und Gottwald in Prag: Benesch weinte im Schoß seiner Frau
Slowaken-Präsident Tiso, deutscher Protokollchef v. Dörnberg in Berlin: Die Kommunisten ...
... waren schlimmer als Hitler: Tschechen-Präsident Hacha in Berlin
* Zapotocki wurde am 25. Februar 1948 zum stellvertretenden Ministerpräsidenten und am 14. Juni 1948 zum Ministerpräsidenten ernannt. Nach dem Tode des Staatspräsidenten Gottwalds wurde er am 21. März 1953 Staatspräsident der Tschechoslowakei. Diesen Posten hat er noch heute inne.