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Artikel 9 / 85

»ICH BIN FÜR EINE SCHARFE KLINGE«

aus DER SPIEGEL 47/1965

SPIEGEL: Herr Minister, in der Zeitschrift »Rheinischer Merkur« wurde behauptet, der SPIEGEL und andere »professionelle Nonkonformisten« hätten Sie zum neuen Buhmann der Bundesregierung erkoren und eine Hexenjagd gegen Sie eingeleitet. Wie dem auch sei: Unbestreitbar ist, daß Ihre Ernennung zum Bundesjustizminister weithin kritisiert und daß gefragt wurde, ob ein Mann wie Sie, der bestimmte prononcierte rechtspolitische und ideologische Auffassungen vertritt, ausgerechnet dieses Amt übernehmen mußte.

JAEGER: Ob es wahr ist, daß hier in meiner Person ein Buhmann aufgebaut wird oder nicht, ist eine Frage, die von den Journalisten, die mich angreifen, eines Tages selbst beantwortet werden muß. Wenn es nur meines Erachtens unberechtigte Warnungen vor mir waren, wie in dem SPIEGEL-Artikel von Herrn Augstein, oder wenn es eine mir nicht verständliche Empörung über die Ernennung war, man mir aber nun, wie es in der Demokratie üblich ist, jetzt die Chance läßt, zu arbeiten und mich später nach meinen Taten beurteilt, dann wird sich die Behauptung des »Rheinischen Merkur« als falsch herausstellen. Wenn man aber in dieser Propaganda fortfährt, dann behält der »Rheinische Merkur« recht. Das werden wir sehen.

SPIEGEL: Die Warnungen und die Empörung bezogen sich weniger auf Ihre Person, als auf die Tatsache, daß diese Person in das Justizressort einzog, in ein Haus, in dem in den vergangenen Jahren fast immer eine liberale Rechtsauffassung vorherrschend war.

JAEGER: Ich glaube, daß ich aus meinem bisherigen Lebenslauf für dieses Amt einige Voraussetzungen mitbringe. Und ich glaube, daß es nicht als Hindernis, sondern als Vorzug angesehen werden sollte, wenn jemand eine feste Überzeugung hat, ganz gleich, ob sie weltanschaulicher oder rechtspolitischer Natur ist. Männer mit einer verwaschenen Auffassung, die schon deshalb keinen Kompromiß schließen können, weil sie keine feste Überzeugung haben, von der sie etwas nachlassen können, sind zu Führungsaufgaben im Staat doch wohl nicht so berufen wie diejenigen, die wissen, was sie wollen. Im übrigen habe ich nach 16jähriger parlamentarischer Arbeit genug Erfahrung, um zu wissen, daß man in der Politik sehr oft einen mittleren Weg finden muß.

SPIEGEL: Aber das Amt des Justizministers ist ein sehr sensibles Ressort. Die Fragen des Rechts sind für das Gesamtleben eines Volkes von besonderer Bedeutung. Deshalb bleibt die Frage, ob jemand, der - wie Sie eben von sich

selber zu Recht gesagt haben - sehr starke weltanschauliche Überzeugungen hat, gerade auf diesen Stuhl gehört, zumal sehr zweifelhaft ist, inwieweit Ihre weltanschauliche Überzeugung im Einklang steht mit den Auffassungen der großen Mehrheit unseres Volkes.

JAEGER: Nun, zuerst möchte ich bemerken, daß ich als Justizminister auf die Rechtsprechung überhaupt keinen Einfluß habe. Im Gegenteil: Es ist meine Aufgabe, ihre Unabhängigkeit zu schützen.

SPIEGEL: Sie haben natürlich keinen unmittelbaren Einfluß auf die Rechtsprechung. Dennoch gehen von diesem Haus starke Impulse aus. So sollte es wenigstens sein.

JAEGER: Die richterliche Unabhängigkeit ist, wie man einmal formuliert hat, ein Palladium staatsbürgerlicher Freiheit, und eine meiner ersten Aufgaben ist es, sie zu schützen. Aber ich gebe natürlich zu, daß das Justizministerium ein sensibles Ressort ist, ein Amt, wo gewisse seismographische Empfindlichkeiten eintreten können. Doch dies trifft auf eine ganze Reihe anderer Ressorts ebenfalls zu, beim Innenministerium, wenn ich an den Verfassungsschutz und an die Notstandsgesetzgebung denke, und beim Verteidigungsministerium. Wie empfindsam dies Ressort ist, wissen Sie, Herr Ahlers, aus Ihrer Tätigkeit auf dein Verteidigungssektor genau. Es ist also bei den meisten wichtigeren Ministerien das gleiche.

SPIEGEL: Womit Sie vielleicht sagen wollen, daß Sie ungern ein unwichtiges Ministerium angenommen hätten?

JAEGER: Ich freue mich, daß ich ein klassisches Ressort bekommen habe, das durch die Pressekampagne der letzten Wochen dem deutschen Volk langsam sogar als das wichtigste von allen erscheinen muß, was sicher übertrieben ist.

SPIEGEL: Sie sprachen von der notwendigen Kompromißbereitschaft des Politikers, Wir haben den Eindruck, daß bei Ihnen manche innere Kompromisse notwendig sind, um das Grundgesetz zu bejahen.

JAEGER: Keineswegs. Ich halte das Grundgesetz - wenn es auch meine politischen Freunde im parlamentarischen Rat abgelehnt haben, weil es ihnen nicht föderalistisch genug war - von einigen Einzelpunkten abgesehen, für eine gute Lösung. Ich halte es für die beste Verfassung, die bislang jemals in Deutschland In Kraft gewesen ist. Jedenfalls für viel besser als die Weimarer Verfassung. Daß aber jemand gegenüber Einzelpunkten Vorbehalte hat; etwa zu der Regelung über die Abschaffung der Todesstrafe oder - Bundespräsident Heuss darf ich hier zitieren - nicht für die Einführung eines Rechts der Kriegsdienstverweigerung gestimmt hat, hat doch nichts mit der Zustimmung zur Grundkonzeption zu tun. In dieser Grundkonzeption wurden drei Ideen miteinander verbunden: die Idee des Rechtsstaats, die Idee der Demokratie, und, etwas abgeschwächt, die Idee des Föderalismus.

SPIEGEL: Es gibt ein Zitat von Ihnen, das hinsichtlich Ihrer Verfassungstreue bedenklich stimmt. Sie sollen einmal in einer Rede über das Problem der fehlenden Notstandsgesetzgebung gesagt haben: Entweder geht dann dieser Staat zugrunde, oder die Regierung wäre gezwungen, außerhalb der Verfassung oder sogar gegen sie tätig zu werden.

JAEGER: Es handelt sich hier um eine Äußerung in einer Rede, die ich im Frühjahr 1961 vor der Jungen Union Bayerns in Kempten gehalten habe. Die Rede lag nicht schriftlich vor, aber das Zitat ist dem Sinne nach völlig richtig. Es unterstreicht meine demokratische Gesinnung und meine Verfassungstreue. Ich habe dort folgendes ausgeführt: Das Notstandsrecht ist typisch für einen demokratischen Staat. Die Diktatur braucht kein Notstandsrecht, weil sie ständig im Ausnahmezustand lebt. Folglich muß in einer demokratischen Verfassung ein Notstandsrecht ausgearbeitet werden. Wenn es ein solches nicht gibt und der Staat kommt in eine Situation der äußersten Bedrohung, dann ist die Regierung in der Zwangssituation, entweder vor dieser Bedrohung aus formaler Verfassungstreue zu kapitulieren oder - um die Staatsfeinde, die Bolschewisten heute, die Nationalsozialisten gestern, nicht an die Macht zu lassen - eben die Verfassung zu brechen. Vor dieser Situation soll man jeden Minister, jede Regierung und jeden Staat, einschließlich seiner Staatsdiener, die alle in einen Gewissenskonflikt kommen können, bewahren. Und deshalb soll man der legalen Regierung die Möglichkeit geben, auf legale Weise im Notstand handeln zu können.

SPIEGEL: Es ist gut, daß Sie das klargestellt haben. Aber es bleibt doch fraglich, ob jemand, der aus nicht unverständlichen Staatsschutz-Überlegungen so denkt und sich so äußert, in diesem Haus des Rechts am rechten Platz ist. Sie haben vorhin schon das Problem der Todesstrafe angesprochen. Die Regelung der Verfassung, wonach die Todesstrafe abgeschafft ist, stellt einen sehr wesentlichen Punkt unserer Strafjustiz dar. Sie dagegen verlangen, daß die Todesstrafe wieder eingeführt wird.

JAEGER: Sie haben recht: Dies ist ein nicht unbedeutender Punkt unserer Strafgesetzgebung; er ist zwar nicht der wichtigste, aber psychologisch in der Meinung des Volkes vielleicht noch bedeutsamer als in der Wirklichkeit. Sie wissen, daß hier eine große Meinungsverschiedenheit besteht. Es ist demoskopisch festgestellt, daß die große Mehrheit der Bevölkerung für die Wiedereinführung der Todesstrafe ist. Die große Mehrheit der öffentlichen Meinung dagegen, oder wie man präziser, vielleicht auch boshafter sagen kann, der veröffentlichten Meinung, vertritt die entgegengesetzte Auffassung.

SPIEGEL: Und Sie persönlich?

JAEGER: Ich bin seit jeher persönlich Anhänger der Todesstrafe, bewege mich aber selbstverständlich im Rahmen unserer Verfassung. Als Justizminister habe ich einen Eid auf das Grundgesetz geschworen. Und wenn man mich schon für klerikal-reaktionär hält ...

SPIEGEL: ... davon war hier noch nicht die Rede, darauf kommen wir noch ...

JAEGER:... dann soll man mir doch wenigstens die Ernsthaftigkeit meines Eides glauben, ganz abgesehen davon, daß der Justizminister gar nicht die Möglichkeit hätte, von sich aus ein Gesetz zu ändern. Aber das will ich auch nicht. Mir ist die Verfassung ein viel höherer Wert als die frage, ob die Todesstrafe in Deutschland wieder eingeführt wird. Sie steht nicht im Programm meines Ministeriums und auch nicht im Programm der Bundesregierung.

SPIEGEL: Und sie wird dort auch nicht auftauchen?

JAEGER: Sie wird in dieser Wahlperiode nicht auftauchen!

SPIEGEL: Und wenn ein Initiativ -Antrag aus den Reihen der Bundestagsabgeordneten kommt, der die Wiedereinführung der Todesstrafe fordert werden Sie dann die grundgesetzliche Regelung verteidigen?

JAEGER: Als freier Abgeordneter habe ich solche Anträge früher mit unterschrieben. Als Minister unterschreibe ich grundsätzlich keine Anträge. Das ist eine sehr heilsame und auch dem Sinn der Gewaltenteilung entsprechende Gepflogenheit, wenn auch kein Recht. Im übrigen können Sie überzeugt sein, daß eine solche Initiative wegen der Mehrheitsverhältnisse im Bundestag das unglückliche Schicksal ihrer Vorgänger erleiden wird.

SPIEGEL: Die erforderliche Zweidrittelmehrheit wäre wohl nicht zu erreichen. Und Sie haben sicher zu Recht darauf hingewiesen, daß die Todesstrafe nicht der wichtigste Punkt unserer Strafjustiz ist. Dennoch zeigt sich an der Einstellung zur Todesstrafe eine sehr spezifische Rechtsauffassung, die auch in - anderen Rechtsgebieten wirksam werden kann. Ohne den Gesichtspunkt der Sühne läßt sich zum Beispiel die Todesstrafe nicht begründen, und Sie haben diesen Gesichtspunkt ja auch besonders hervorgehoben.

JAEGER: Es gibt sehr extreme Strafrechtstheorien, aber ich habe das Gefühl, daß sie sich im Laufe der letzten 50 Jahre wieder angenähert haben. Persönlich bin ich gegen einseitige Theorien, weil ich nicht glaube, daß sie für die praktische Gesetzgebung und Rechtsprechung sehr sinnvoll sind. Die Strafe verfolgt einen dreifachen Zweck: die Sühne, den Schutz der Gesellschaft und die Abschreckung. Dabei glaube ich, daß die Sühne der erste, im Vordergrund stehende Gedanke des Strafrechts sein muß, zumal dann, wenn wir das Strafrecht nicht als ein Tatstrafrecht, sondern als ein Täterstrafrecht auffassen. Im übrigen: Ich bin ja nicht der erste Justizminister in Deutschland, der für seine Person für die Wiedereinführung der Todesstrafe eingetreten ist. Ich darf an Minister Schäffer erinnern.

SPIEGEL: Sie können auch an Herrn Neumayer erinnern ...

JAEGER: ... der ein Mann der FDP war, also unbestritten ein Liberaler. Ich glaube also, daß man von sehr verschiedenen Standpunkten aus zu dieser Auffassung kommen kann. Ich darf noch bemerken, daß meine beiden Vorgänger, genau wie ich es will, in diesem Amt nicht für die Wiedereinführung gewirkt haben, sondern ebenso ihre persönliche Überzeugung bewahrt wie das Grundgesetz geachtet haben. Und das ist doch wohl das, was man von einem anständigen Manne erwarten muß.

SPIEGEL: Sie haben sich vorhin darauf berufen, daß die Mehrheit der öffentlichen Meinung, die Mehrheit der Bevölkerung die Todesstrafe verlangt. Ist das ein zureichender Grund? Soll die Rechtspflege den verständlichen Emotionen folgen, mit denen die Bevölkerung auf scheußliche Verbrechen reagiert? Churchill hat einmal gesagt: »Die Einstellung der Öffentlichkeit zu Verbrechen und Verbrechern ist ein unfehlbarer Test für die Zivilisation eines Landes.« Und weiter: »Unermüdliche Anstrengungen, heilende und pädagogische Maßnahmen zu entdecken, sind Zeichen und Beweise für die lebendigen Tugenden eines Volkes.«

JAEGER: Ich bin ganz der Meinung, daß man heilende Maßnahmen treffen soll. Das gilt vor allem für das Jugendstrafrecht und überhaupt für Ersttäter. Aber bei so scheußlichen Sittlichkeitsverbrechen, wie wir sie in den letzten Tagen erlebt haben, können Sie keine heilenden Maßnahmen mehr einleiten, sondern Sie werden - unter der Annahme, der Mann ist zurechnungsfähig - den Täter eben zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilen. Außerdem glaube ich nicht, daß man solche heilenden Maßnahmen als typisch liberal bezeichnen könnte. Sie sind eher typisch human oder auch typisch christlich und können gerade auch von einem konservativen Standpunkt aus bejaht werden. Die Trennung zwischen liberal und konservativ erscheint mir überhaupt etwas antiquiert.

SPIEGEL: Leider gehören Sie zu denen, die diese Trennung häufiger vorgenommen haben. Sie haben von der liberalen und marxistischen Mottenkiste gesprochen.

JAEGER: Ja richtig. Wenn ich früher vom Marxismus sprach, dann dachte ich an die SPD. Und wenn ich vom Liberalismus spreche, denke ich an die FDP. Für mich sind das in erster Linie Begriffe, die parteipolitisch zugespitzt sind.

SPIEGEL: Zurück zu Ihrer Verfassungstreue. Niemand wird bestreiten, daß Sie Ihren Eid völlig ernst nehmen. Die Frage ist nur, ob die formale Verfassungstreue genügt, wo Sie doch in bestimmten Punkten nicht so hundertprozentig davon überzeugt sind, daß das, was die Verfassung vorschreibt, richtig ist. Besteht da nicht die Gefahr eines gespaltenen Willens? Besteht nicht die Gefahr, daß wichtige Gesetzesvorhaben scheitern können, wenn der Justizminister Gegenkurs steuert?

JAEGER: Sowenig wie bei meinen Vorgängern Schäffer und Neumayer stellt sich bei mir das Problem des gespaltenen Willens. Wenn wegen meiner persönlichen Einstellung zur Todesstrafe ein Gesetzesvorhaben gefährdet sein könnte, kann es sich ja einzig und allein um die Strafrechtsreform handeln. Und ich habe gleich bei Übernahme des Amtes erklärt, daß das neue Strafgesetzbuch so, wie es von Schaeffer entwickelt und von Bücher unterschrieben wurde, wieder eingebracht wird oder, wenn wir uns den Weg der Einbringung über die Bundesregierung sparen, mit meiner vollen Billigung von den Fraktionen eingebracht wird wie im letzten Bundestag.

SPIEGEL: Ihr Haus wird an den Beratungen der Strafrechtsreform teilnehmen, und dann stellt sich wieder die Frage, wie der Sachverstand dieses Hauses in Zukunft gesteuert wird.

JAEGER: Sicher wird der Sachverstand dieses Hauses, das ich für das vielleicht qualifizierteste in ganz Bonn halte, Wesentliches zur Strafrechtsreform beitragen können. Und ganz sicher wird es bei lebenslänglichem Zuchthaus für Mord bleiben. Etwas anderes wird auch nicht als Weisung an die Beamten ergehen. Ich brauche in diesem Falle auch keine Weisung zu geben, weil jeder Beamte aus der gleichen Verfassungstreue handelt, ganz gleich, wie der einzelne denkt.

SPIEGEL: Das Problem Ihrer Verfassungstreue berührt tiefere Schichten als nur das Problem der Todesstrafe. Sie haben einmal eine Trennung vorgenommen zwischen Rechtsstaat und Demokratie und gesagt: Ich möchte prinzipiell dem Gedanken des Rechtsstaates einen höheren Rang geben als dem der Demokratie.

JAEGER: Dieses Zitat stammt aus einem Artikel, der im wesentlichen den Inhalt eines Vortrags von mir wiedergibt. Darin habe ich historisch-philosophisch die Begriffe von Rechtsstaat und Demokratie dargelegt, die jedenfalls begrifflich nicht dasselbe beinhalten. Ich habe hervorgehoben, daß das, was wir den freiheitlichen Rechtsstaat nennen, die auf den Rechtsstaat gegründete Demokratie ist, und daß von dem Menschenbild aus, das der Rechtsstaat voraussetzt, die Demokratie eine Krönung des Rechtsstaates ist. Und ich habe erklärt: Aber ich möchte doch prinzipiell dem Gedanken des Rechtsstaates einen höheren Rang geben als dem der Demokratie. Ein Rechtsstaat ist auch ohne Demokratie möglich. Denken Sie nur an das Königreich Preußen. Es war bis 1917 keine Demokratie, aber sicher ein Rechtsstaat.

SPIEGEL: Es ist historisch doch so, daß es ohne die demokratische Revolution der vergangenen Jahrhunderte den freiheitlichen Rechtsstaat nicht geben würde. Wir würden sagen: Der Rechtsstaat ist die Krönung der Demokratie. In Preußen zum Beispiel hatten wir nicht nur ein Drei-Klassen-Wahlrecht, sondern auch eine Klassenjustiz.

JAEGER: In Deutschland wurde der Rechtsstaat schon vor der Demokratie entwickelt. Er war eine Idee der deutschen Rechtswissenschaft. Jetzt muß ich sogar Preußen verteidigen, was ich als Bayer nicht immer tue, aber Preußen war schon sehr früh, ein Staat mit den Freiheitsrechten des Bürgers, wenn man von bestimmten sozialen Gegensätzen und Klassenkampf-Situationen absieht.

SPIEGEL: Die Vorbehalte gegenüber Ihrer Person gehen auf eine lange Liste von Äußerungen zurück, die Sie in den Jahren Ihrer politischen Tätigkeit gemacht haben. Sie haben zum Beispiel 1953 nach dem großen Wahlsieg der CDU/CSU erklärt: Da nun zum erstenmal seit 1871 eine christliche Mehrheit in das deutsche Parlament eingezogen sei, könne man die obligatorische Zivilehe abschaffen und damit das letzte Rudiment des Kulturkampfes aus der Welt nehmen.

JAEGER: Ich habe das in der Freude über den unverhofften Wahlsieg gesagt, glaube aber nicht, daß das zu Vorbehalten Anlaß geben kann. Denn wenn man an die Stelle der obligatorischen Zivilehe die fakultative setzen würde, wie es in Österreich und praktisch in Amerika

der Fall ist, würde man eigentlich sogar eine sehr liberale Lösung treffen, die ursprünglich von beiden Kirchen 1875 gewünscht war. Inzwischen hat die evangelische Kirche ihren grundsätzlichen und die katholische Kirche ihren praktischen Frieden mit der Zivilehe gemacht.

SPIEGEL: Die Zivilehe ist gewiß kein konstituierendes Element für den Rechtsstaat. Aber sie hat ebenfalls eine Tradition. Und Sie als konservativer Politiker sollten doch gegenüber derartigen gewachsenen Traditionen Schonung walten lassen. Sie haben sich damals aber so ausgedrückt, als wäre es eine diskutierbare Möglichkeit, daß eine christliche Mehrheit eine derartig bewährte Tradition abschafft, gerade so, als bestünde diese christliche Mehrheit ausschließlich aus Katholiken strengster Observanz. Solche übertriebenen Forderungen haben Sie zweifellos negativ empfohlen für dieses Amt.

JAEGER: Ich glaube, daß man diese Forderung nicht als übertrieben in der Sache betrachten kann. Ich wiederhole: Die fakultative Zivilehe würde eine meines Erachtens freiheitlichere Möglichkeit schaffen als die obligatorische. Außerdem meine ich, daß dies wirklich ein Punkt ist, über den man diskutieren könnte. Er untersteht ja nicht einmal dem Schutz der Verfassung wie die Todesstrafe. Aber ich habe diese Frage seit 1953 nicht mehr angerührt und brauchte also nicht zu betonen, daß ich sie als Justizminister auch nicht anrühren werde.

SPIEGEL: Sie haben damit ein Ärgernis gegeben ...

JAEGER: Daß es Ärgernis gegeben hat, ist sicher. Man geht den Problemen nach.

SPIEGEL: ... und Bedenken wegen der Gefahr einer Konfessionalisierung des öffentlichen Lebens ausgelöst.

JAEGER: Haben Sie eine Konfessionalisierung des öffentlichen Lebens in Amerika?

SPIEGEL: Nein. Aber in Amerika ist das Verhältnis zwischen Staat und Kirche von Anfang an ganz anders gewesen als in Deutschland. Wir haben doch eine sehr, sehr lange Zeit in der deutschen Geschichte eine derartige Konfessionalisierung gehabt, Bestrebungen in dieser Richtung, die den Kulturkampf mit ausgelöst haben. Jedenfalls ist es eine Tatsache, daß Sie die Bühne seinerzeit mit einer Forderung betreten haben, von der Sie sagen, sie würde den endgültigen Abschluß des Kulturkampfes bringen. Nach unserer Meinung aber würde sie eine Wiederbelebung des Kulturkampfes bedeuten.

JAEGER: Abschluß ja, Wiederbelebung nein.

SPIEGEL: Das ist eine Frage der Definition. Der Kulturkampf war im deutschen Bewußtsein abgeschlossen. Es dauerte nicht lange, dann fingen Sie an, die Iberische Halbinsel zu bereisen und traten mit Äußerungen über die dort existierenden Diktaturen hervor. Auch daran entzündete sich wieder Mißtrauen. Sie stellten fest, daß es zweierlei Diktaturen gäbe, von denen im Grunde nur eine gefährlich sei, nämlich die Diktatur marxistischer Prägung.

JAEGER: Nein, auch die nationalsozialistischer Prägung ...

SPIEGEL: ... die Gott sei Dank vorbei ist. Sie haben eine Unterscheidung gemacht zwischen der totalitären Diktatur, die Sie ablehnen genau wie wir, und einer autoritären Diktatur, die wir ebenfalls ablehnen, der Sie aber eine sittliche Daseinsberechtigung zugestehen.

JAEGER: Die ich genauso ablehne, was unser Vaterland betrifft, von der ich allerdings glaube, daß sie für uns, wenn sie in einem fremden Land existiert, keine Gefahr darstellt, weil sie nicht expansiv ist. Der spanische und der portugiesische Staat haben keine expansive Ideologie wie sie der Nationalsozialismus und der Faschismus hatten und wie sie der Kommunismus hat. Ich darf bemerken, daß ich, nachdem ich in Spanien und Portugal war, auf einen Artikel gestoßen bin, den der frühere Bundesverfassungsrichter Dr. Draht, Professor in Berlin und Sozialdemokrat, der also bei den Linksintellektuellen - das Wort stammt nicht von mir, wie ich ausdrücklich bemerken möchte - in einem besseren Ruf steht als ich ...

SPIEGEL: Nicht alle Sozialdemokraten, um es gleich zu sagen, stehen bei den tatsächlichen oder sogenannten Intellektuellen und Linken in einem guten Ruf.

JAEGER: ... geschrieben hat. Er hat den Unterschied zwischen einer totalitären Diktatur, wie sie das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, und der, jetzt würde ich beinahe sagen, konventionellen Diktatur, wie sie immer da war, Militärdiktatur usw. herausgearbeitet. Ich habe mir diesen Unterschied in einem Artikel zu eigen gemacht.

SPIEGEL: Dieser Unterschied ist zweifellos historisch und ideengeschichtlich bedeutungsvoll, er kann aber doch wohl keine Bedeutung haben in bezug auf die Staatsform, die wir zu verwirklichen suchen.

JAEGER: Wir haben die demokratische Staatsform bereits weitestgehend verwirklicht. Sie sagen, aufgrund dieser meiner Reisen westlich der Pyrenäen sei ein gewisses Mißtrauen gegen mich aufgekommen. Da kann ich Ihnen nur antworten: Warum ist gegen meinen geschätzten Kollegen Dr. Dehler kein Mißtrauen aufgekommen, wenn er nach Prag reist, wo nun wirklich eine totalitäre Diktatur am Werke ist, oder wenn der eine oder der andere Sozialdemokrat zu Herrn Tito reist? Warum wird immer nur die Rechtsdiktatur angegriffen und nicht die Linksdiktatur, die außerdem noch totalitär ist?

SPIEGEL: Darauf kann man leichtantworten. Die Reisen nach Prag und Moskau, es sind ja auch Herren Ihrer Couleur gereist, Herr Blumenfeld zum Beispiel nach Warschau, diese Reisen dienten entweder einem praktischen politischen Zweck oder zumindest dem wenn auch im Moment imaginär erscheinenden Ziel der Wiedervereinigung. Und keiner dieser Herren hat sich positiv über die dort herrschende Staatsform geäußert.

JAEGER: Oh, Herr Dehler hat sich sehr positiv über seine Reise nach Prag ausgesprochen. Im übrigen möchte ich sagen, daß meine letzte Reise nach Portugal auch einen sehr hohen praktisch politischen Zweck hatte. Ich fuhr als Vorsitzender des Verteidigungsausschusses in Begleitung von Abgeordneten aller Parteien dorthin, um die deutschen Verteidigungseinrichtungen, in Portugal zu besichtigen.

SPIEGEL: Diese Reise war natürlich nicht gemeint, sondern andere Reisen, zum Beispiel in die portugiesischen Kolonialgebiete. Nun, Sie haben die Diktaturen, so erschien es jedenfalls, nach ihrer objektiven Gefährlichkeit für uns unterschieden. Man konnte keinen anderen Schluß ziehen, als den, daß Sie eine Diktatur dann hinzunehmen bereit sind, wenn Sie für uns nicht gefährlich ist. Das entscheidende Kriterium muß aber doch sein: Welches ist der Status, den der Rechtsunterworfene hat, und nicht: Welches ist die Gefährlichkeit. Sie ist ein pragmatisches Kriterium.

JAEGER: Ich bin Ihrer Meinung, soweit es Deutschland betrifft, mein Land, in dem ich keine andere Staatsform haben möchte als die rechtsstaatliche Demokratie. Aber im Ausland bewerte ich tatsächlich die Verfassung der Staaten nach der Gefährlichkeit für uns. Das bedeutet, daß das kommunistische System, das an der Elbe steht und dem ein erheblicher Teil unseres Vaterlandes unterworfen ist, für uns eine höchst akute Gefahr darstellt, Länder wie Spanien und Portugal dagegen ungefährlich sind. Wir haben am wenigsten Grund, die Gouvernanten gegenüber anderen Ländern zu spielen, die in mancher Beziehung erst jetzt so weit sind, wie wir vor hundert Jahren waren, wir Deutsche, die wir jetzt gerade zum erstenmal in unserer Geschichte über der Ebene einzelner Länder, die schon früher demokratisch organisiert waren, hinaus eine funktionierende Demokratie haben.

SPIEGEL: Was den Status der Rechtsunterworfenen anlangt; Glauben Sie, daß die katholische Kirche heute in Polen mehr oder weniger Rechte hat als die protestantische Kirche in Spanien? Nach unserer Meinung sind die Katholiken in Polen, als Katholiken natürlich besser gestellt als die Protestanten im Franco-Staat.

JAEGER: Ich kann Ihnen über das Ausmaß der Freiheit der katholischen kirche in Polen schlecht etwas sagen, weil ich selbst noch niemals in Polen war. Ich weiß, daß sich dort die Stellung der Kirche in den letzten zehn Jahren, seit Gomulka regiert, erheblich gebessert hat, daß sie allerdings auch noch sehr gefährdet ist und daß die polnischen Bischöfe manche Beschwerden haben. Ich weiß, daß die Rechtsstellung der evangelischen Kirche in Spanien weiß Gott nicht ideal war und auch heute noch nicht ideal ist. Aber ich weiß auch, und nicht zuletzt von Bundestagspräsident Gerstenmaier, der ja mehrfach in dieser Angelegenheit dort war, daß in Spanien mit dem neuen Protestantenstatut ein wesentlicher Fortschritt erreicht wurde. Ich möchte ihn in etwa vergleichen mit dem Protestantenedikt, das zu Anfang des 19. Jahrhunderts in einem bis dahin absolut katholischen Staat wie Bayern erlassen wurde. Vielleicht ist die Parallele gar nicht so schlecht, daß sich eben in Spanien jetzt erst Dinge tun, die sich bei uns vor 150 Jahren getan haben.

SPIEGEL: Die Parallele wirkt in die Gegenwart fort. Wir haben die Diktatur abgestreift, in Spanien existiert sie noch. Und es ist wichtig zu fragen, ob wir uns ausgerechnet Diktaturen, wenn auch vergleichsweise harmlose Diktaturen, als Bündnispartner erwählen sollten, wie Sie es in bezug auf Spanien verlangen. Solche Bündnisse können auch auf unsere innere Verfassungsentwicklung zurückwirken, die keineswegs beendet, sondern noch im Fluß ist.

JAEGER: Ich bin bestimmt ein Freund Frankreichs, aber deswegen würde ich doch nicht das gaullistische System übernehmen wollen, obwohl man es noch als demokratisch bezeichnen kann.

SPIEGEL: Das ist zweifelhaft.

JAEGER: Ich lege Wert darauf, die Franzosen noch als Demokraten zu bezeichnen. Sie sind es auch. Vielleicht läuft da die Grenze: Frankreich ist der extreme Fall des noch-demokratischen und Portugal der extreme Fall des gerade nicht mehr demokratischen Staates. Nun haben Sie gesagt, es käme darauf an, welche Bündnispartner wir uns suchen. Portugal zum Beispiel ist unser Bündnispartner, und ich würde es für schlecht halten, wenn ein deutscher Politiker einen solchen Partner öffentlich wegen seiner Verfassung oder wegen seiner Übersee-Politik, die Sie Kolonialpolitik nennen - ich verwende hier den offiziellen Ausdruck der Portugiesen - kritisierte.

SPIEGEL: Portugal ist ein anderer Fall als Spanien. Es gehörte zur Geschäftsgrundlage unseres Eintritts in die Nato, die vorhandenen Nato-Mitglieder als Bündnispartner zu akzeptieren. Da hatten wir keine Entscheidungsmöglichkeit. Im Falle Spaniens würden wir vor der Entscheidung stehen.

JAEGER: Darf ich an Ihre Logik appellieren? Wenn Sie die Portugiesen einschließen, haben Sie eigentlich keinen wirklich moralischen Grund mehr, die Spanier auszuschließen.

SPIEGEL: Logisch vielleicht weniger als moralisch.

JAEGER: Ich persönlich habe mich offen dafür ausgesprochen, daß Spanien Mitglied der Nato wird. Und im übrigen darf ich bemerken, daß auch die Bundesregierung erklärt hat, sie werde, wenn die Frage aktuell würde, dafür stimmen.

SPIEGEL: Niemand wird Ihnen einen Vorwurf daraus machen, daß Sie die Nato, so wie sie nun einmal war, einschließlich Portugals, akzeptiert haben. Wenn eines Tages die Nato beschließen sollte, auch Spanien aufzunehmen, so wird man auch kaum von Ihnen erwarten, daß Sie dagegen sind. Worüber wir hier sprechen, ist das Über-Soll, das Sie an Anerkennung sowohl für Spanien wie für Portugal erfüllt haben.

JAEGER: Ich brauche überhaupt kein Soll zu erfüllen. Ich bin ein freier Mann.

SPIEGEL: Sie sind durch die portugiesischen Kolonialgebiete Mozambique und auch durch Angola gefahren, und Sie haben sich dann in der deutschen Presse zum Verteidiger der portugiesischen Politik gemacht, haben das portugiesische Kolonialregime in Afrika gerechtfertigt.

JAEGER: Ich habe berichtet, was Ich gesehen habe. Und angesichts der Vorurteile, die in weiten Kreisen der Welt gegenüber den afrikanischen Besitzungen Portugals bestehen, mag ein objektives Bild tatsächlich als eine Verteidigung gelten. Ich habe dargelegt, daß die portugiesische Übersee-Politik mehr positive Komponenten hat als man glaubt und daß die Portugiesen, was sie an Fehlern in den vergangenen Jahrhunderten gemacht haben mögen, in den letzten zehn oder zwanzig Jahren jedenfalls wiedergutzumachen suchten, soweit man diese Fehler in der kurzen Zeit wiedergutmachen kann. Sie bemühen sich wirklich, etwas zu tun und zu leisten, und was dieses kleine und arme Portugal finanziell dort investiert, das ist jedenfalls beachtlich.

SPIEGEL: Glauben Sie demnach, daß Portugal in Afrika stehenbleiben soll oder stehenbleiben kann?

JAEGER: Ich darf die Frage so beantworten, wie ich sie bei einem Abschlußgespräch einem maßgebenden Portugiesen beantwortet habe. Er hat zum Schluß gefragt: Nun, glauben Sie, daß wir Portugiesen in Afrika bleiben werden? Ich habe gesagt, es sei furchtbar schwierig, In die Zukunft zu sehen, aber ich meine, das halten Sie zehn Jahre aus. Er sagte darauf: Dann haben wir die Schlacht gewonnen. Wenn wir zehn Jahre in Angola und Mozambique bleiben, dann sehen die Amerikaner ein, daß wir die richtige Politik machen. Dann werden sie uns unterstützen.

SPIEGEL: Spanien und Portugal - wir haben diese Elemente ihres politischen Wirkens angesprochen, weil sie in Ihr Gesamtbild gehören. Sie haben einmal gesagt, der normale Diktatur-Staat wie Spanien beschränke sich darauf, sich nach innen zu sichern. Vielleicht geht Ihre Vorliebe für eine Rechtsdiktatur darauf zurück, daß Sie den Feind jetzt nur noch links stehen sehen.

JAEGER: Links von der SPD!

SPIEGEL: Was die SPD angeht, so haben Sie selten versäumt, die SPD ganz nach links zu drücken.

JAEGER: Vor der großen Wendung der Sozialdemokratie, das ist wahr. Aber ich habe die Sozialdemokraten niemals in die Nähe des Kommunismus gebracht. Ich habe nur erklärt, daß ihre Politik praktisch, gegen ihren Willen oder ohne ihre Einsicht, außenpolitisch zu einer Förderung des Kommunismus führt.

SPIEGEL: Daß die russischen Panzer dann auf dem Stachus stehen würden.

JAEGER: Marienplatz habe ich zwar gesagt, aber es kommt genau auf das gleiche heraus.

SPIEGEL: Sehen Sie rückblickend diesen Satz nicht als eine Verketzerung an?

JAEGER: Ich würde den Satz heute nicht mehr sagen, weil die Sozialdemokraten sich inzwischen gemausert haben. Ich bin aber überzeugt: Wenn im Jahre 1957 die SPD an die Regierung gekommen wäre und konsequent dieselbe Politik gemacht hätte wie in der Opposition, dann wären wir bündnisfrei, isoliert eine Beute des Ostens geworden.

SPIEGEL: Darüber kann man streiten. Sie haben aber auch über SPD-Politiker Formulierungen gefunden, die man eigentlich nicht anders als demagogisch bezeichnen kann.

JAEGER: Wenn ich das getan habe, dann habe ich jedenfalls nichts anderes gesagt als Bundeskanzler Adenauer.

SPIEGEL: Er braucht ja nicht in jeder Beziehung ein Vorbild zu sein.

JAEGER: Er ist ein Staatsmann von geschichtlicher Bedeutung. Aber ich will gar nicht leugnen, daß ich für eine scharfe Klinge und für scharfe Auseinandersetzungen bin. Mir fällt auf, daß Sie derartige Angriffe und Bemerkungen den sozialdemokratischen Sprechern nicht vorwerfen. Helmut Schmidt aus Hamburg hat mich im Bundestag als »Kopfjäger aus Formosa« tituliert. Das ist vom Bundestagspräsidenten gerügt worden.

SPIEGEL: Eine Zusammenstellung Ihrer demagogischen Zitate ist jedenfalls nicht geeignet, Sie als einen Mann gemäßigten, kontrollierten Temperaments auszuweisen.

JAEGER: Sicherlich nicht gemäßigt, aber das »nicht kontrolliert« würde ich bestreiten. Es war mehr bei solchen Bemerkungen überlegt, als Sie glauben. Bei gleich scharfen Gegensätzen, wie sie damals bestanden, als es um die Existenz unseres Volkes ging, würde ich wieder so scharf sprechen. Ich freue mich, daß solche Gegensätze heute nicht mehr vorhanden sind und daß in meinem Ressort mit derartigen Auseinandersetzungen nicht zu rechnen ist.

SPIEGEL: Auf jeden Fall: Sie sind ein temperamentvoller Mann.

JAEGER: Ich dementiere es nicht.

SPIEGEL: Aber gerade beim Minister der Justiz erwartet man Zurückhaltung, ein Herausbleiben aus dem politischen Tageskampf. Er sollte weniger einer konfessionellen Überzeugung oder einem politischen Engagement verpflichtet sein, als vielmehr bestimmten übergeordneten, überparteilichen und zeitlosen Grundsätzen.

JAEGER: Ich gehe in der Politik überhaupt nicht von konfessionellen Überzeugungen aus. Ich bin seit ihrer Gründung Mitglied der Christlich-Sozialen Union, also in einer gemeinsamen christlichen Partei, die nicht eine einzelne Konfession vertritt. Und wenn Sie meinen, ein Mann mit Temperament, mit Eindeutigkeit, sogar mit Schärfe, dürfe in einem solchen Amt nicht sitzen, dann hätte Konrad Adenauer sicher auch nicht Bundeskanzler werden dürfen.

SPIEGEL: Die Eigenschaften des Justizministers und des Bundeskanzlers können verschieden sein. Der Justizminister braucht das Wissen um das rechte Maß.

JAEGER: Ich bin nicht sicher, ob dies das Wichtigste ist. Rechtsbewußtsein und Rechtsüberzeugung könnten vielleicht noch wichtiger sein als das andere, dessen Bedeutung ich nicht verkennen will.

SPIEGEL: Damit kommen wir auf die Frage zurück, ob nicht bestimmte rechtspolitische Überzeugungen, die Sie vertreten, problematisch sind im Hinblick auf die Arbeit dieses Hauses.

JAEGER: Da Sie jetzt allgemein von Rechtspolitik sprechen und Zweifel geäußert haben an meiner Berufung für diese Dinge, erlauben Sie mir, daß ich auf meine rechtspolitische Erfahrung verweise. Ich war zwölf Jahre lang Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Verteidigung. Ich habe die Wehrgesetzgebung mit verabschiedet, an deren Anfang die Verfassungsreform auf dem Gebiet des Wehrwesens stand, die damals geglückt ist, während sie bei der Notstandsverfassung bis heute nicht geglückt ist. Ohne Vorwurf gegen irgend jemanden stelle ich fest: Es ist mir damals gelungen, eine breite Mehrheit zu finden, in Zusammenarbeit gerade mit Herrn Erler, und wir haben die Verankerung der Armee im demokratischen Staat erreicht. Viele Leute in meiner Partei hielten es nicht für möglich, daß wir mit der SPD zu einem sowohl für die Bundeswehr als auch für die CDU/CSU tragbaren Kompromiß kommen würden. Dies ist doch ein Musterbeispiel dafür, daß man auch dann, wenn man eine klare und feste Überzeugung hat, wenn auch sicherlich mit gewissen Konzessionen, eine gemeinsame Gesetzgebung schaffen kann. Und es ist zumindest kein Beweis für diktatoriale Neigungen bei mir, wenn ich mitgeholfen habe, die Demokratie an einem Punkte zu verwirklichen, der in der deutschen Geschichte der neuralgischste gewesen ist, nämlich das Verhältnis der bewaffneten Macht zum Parlament und zum demokratischen Staat.

SPIEGEL: Diese gesetzgeberische Leistung wird auch von uns anerkannt, und wir würden nie den Vorwurf gegen Sie erheben, daß Sie etwa auch noch ein Militarist seien. Nun aber kommt die Strafrechtsreform auf Sie zu. In der vorletzten Woche fand in Düsseldorf eine Aussprache über die Grundsätze des neuen Strafrechts statt. Der frühere Generalbundesanwalt Güde, ein Mann der CDU, hat dabei erklärt, man müsse in den strittigen Fragen vom Weltanschaulichen abrücken und sich ganz auf die vordergründigen, kriminalpolitisehen Argumente zurückziehen. Würden Sie dem zustimmen?

JAEGER: Das Strafgesetzbuch hat seine höhere Norm im Grundgesetz, und Sie können vom Grundgesetz nicht sagen, daß es eine christliche Verfassung sei. Es ist auch keine sozialistische und auch nicht eine unbedingt liberale Verfassung, sondern ein Kompromiß. Es hat eine Wertordnung geschaffen, unter der Christen, Liberale und Sozialisten leben können. In der Ausprägung dieser Wertordnung hat im letzten Jahrhundert nicht nur der Liberalismus, sondern auch das Christentum einen ganz erheblichen Anteil gehabt.

SPIEGEL: Haben Sie die Absicht, an dem Strafrechtsentwurf etwas zu ändern? Sie haben zwar schon gesagt, daß Sie ihn unverändert einbringen wollen, aber eine Initiative zu Änderungen könnte sich während der Ausschußarbeit ergeben.

JAEGER: Ich habe leider noch nicht die Zeit gehabt, mich im einzelnen damit zu befassen. Ich bin grundsätzlich der Meinung, daß unser Strafgesetzbuch dringend reformbedürftig ist. Es stammt

aus dem Jahre 1867, es ist weder im Geiste, noch in den formalen Bestimmungen, noch in der Gesetzestechnik etwas Einheitliches. Ich glaube auch, daß das, was in dem Entwurf erarbeitet wurde, im allgemeinen eine rechtausgereifte Sache ist und daß man in den meisten Fällen bereits Kompromisse gefunden hat, die man so ungefähr wird lassen können.

SPIEGEL: Glauben Sie, daß die Strafrechtsreform in dieser Legislaturperiode durchkommen wird?

JAEGER: Wenn der Ausschuß die Dinge energisch in die Hand nimmt, dann ja. Ich jedenfalls werde alles dazu tun und bin auch bereit, manches Entgegenkommen von mir aus zu zeigen, um Formulierungen zu finden, die für eine breite Mehrheit akzeptabel sind.

SPIEGEL Würden Sie für den Fall, daß sich die Strafrechtsreform weiter verzögert, eine Reform der umstrittenen Staatsschutzbestimmungen vorwegnehmen?

JAEGER: Wenn wir nach ein oder zwei Jahren zu der Überzeugung kommen sollten, daß das ganze Werk nicht zu schaffen ist, dann müßte man sich das überlegen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, die zwar nichts mit der Reform des Strafgesetzbuches zu tun hat, sondern später im Rahmen einer Reform des Strafverfahrens in der Gerichtsverfassung zu prüfen wäre, nämlich, ob es angebracht ist, daß wir zwar für einen Diebstahl zwei oder drei Instanzen haben, für Hoch- und Landesverrat jedoch nur eine Instanz. Ich würde es aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit für besser halten, wenn man auch bei Landesverratssachen in die Berufung gehen könnte. Wir haben also eine Fülle von Problemen, die, wenn ich sie alle lösen wollte, in vier Jahren nicht zu schaffen sind. Dann müßte ich hier zwölf Jahre als Justizminister sitzen. Ich wäre dazu bereit.

SPIEGEL: Das wollen wir nicht unbedingt hoffen. Aber es wäre sicher eine Aufgabe für Sie, aus dem Strafrechtsentwurf solche Punkte herauszuoperieren, die allgemein als antiquiert empfunden werden und bei denen zum Teil religiöse Momente eine Rolle spielen. Nehmen wir als Beispiel den Paragraphen über die Strafbarkeit des Ehebruchs. Eine große Zahl der Mitglieder der. Strafrechtskommission war der Meinung, der Paragraph solle insgesamt fallen. Zum Schluß setzte sich die Auffassung durch, man sollte ihn erhalten, damit der Staat seinen Willen, Ehe und Familie zu schützen, dokumentiere.

JAEGER: Hier handelt es sich natürlich um einen Grenzfall, zumal die praktische Bedeutung dieser Gesetzesbestimmung nicht sehr groß ist. Ich weiß, daß es hier sehr differenzierte Meinungen gibt, aber Sie würden ganz falsch liegen, wenn Sie dieses Problem von der konfessionellen Seite sehen wollten. Nach katholischer Auffassung ist die Ehe überhaupt nicht auflösbar, ein Strafantrag wegen Ehebruchs setzt aber nach unserem Recht die Scheidung voraus. Etwas anderes ist es jedoch, ob nicht folgende allgemeine Überlegung Platz greifen muß: Nachdem nun einmal mindestens seit 1867 eine derartige Bestimmung im Strafgesetzbuch enthalten ist, könnte, wenn man die Strafbarkeit nun überhaupt streicht, das Gefühl eintreten, es handele sich gar nicht mehr um eine unerlaubte Sache.

SPIEGEL: Bei der Frage der Strafbarkeit des Ehebruchs und auch bei dem Problem der Homosexualität mögen kirchliche Tönungen nur eine geringe Rolle spielen. Anders ist es bei der Insemination und bei der ethischen Indikation. Dies sind Fragen, bei deren Regelung eine dezidiert katholische Einstellung zum Ausdruck kommt. Beides wird in dem Entwurf verworfen.

JAEGER: Ich kann Ihnen nicht ganz recht geben, daß die Auffassung zur ethischen Indikation vorwiegend konfessionell bedingt ist, obwohl hier von katholischer Seite durchaus bestimmte Meinungen vertreten werden. Das Leben aber ist für jede Weltanschauung, die überhaupt human ist, ein hoher Wert. Und ich glaube, daß auch das ungeborene Kind, weil es schon Leben hat, schutzbedürftig ist und daß es unrecht wäre, dieses Leben, selbst wenn es als Folge einer Notzucht entstanden ist, auszulöschen. Die Frage, über die man sich unterhalten kann, ist das Maß der Strafbarkeit. Vielleicht trägt man dem tragischen Einzelfall am besten dadurch Rechnung, daß man dem Richter ein großes Maß an Freiheit in der Urteilsfindung gibt.

SPIEGEL: An der prinzipiellen Strafbarkeit halten Sie fest?

JAEGER: Ja, weil niemand, nicht einmal die Mutter, das Recht hat, über ein einmal entstandenes Leben zu verfügen.

SPIEGEL: Im Fall der Todesstrafe sind Sie allerdings der Meinung, daß der Staat sehr wohl das Recht haben sollte, Leben zu verwirken.

JAEGER: Bei der Todesstrafe gibt es zwei grundverschiedene Meinungen. Die einen sagen, das menschliche Leben sei ein so heiliges Gut, daß dann, wenn es freventlich ausgelöscht wird, nur der Tod die adäquate Sühne ist. Und die anderen sagen, nicht einmal der Staat dürfe den Mörder töten, weil das Leben so heilig ist. Beide Gründe bezeugen eine hohe Achtung vor dem Leben. Sie wissen, daß ich meine Einstellung zur Todesstrafe, nämlich die auch aus dem ersten Argument sprechende Achtung vor dem Leben, mit ins Feld geführt habe, um zu erreichen, daß die NS-Verbrechen nicht nach der vorgesehenen Frist verjähren, sondern daß der Stichtag verschoben wurde.

SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Jaeger (M.) beim SPIEGEL-Gespräch in seinem Amtssitz auf der Bonner Rosenburg*

Westdeutsche Allgemeine

Der Neue

Stern

»Das Fernsehgericht hat sich auch verändert, seit wir diesen neuen Justizminister haben«

Vorwärts

Kopf-Jaeger

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Frankfurter Rundschau

Auf dem Weg ins Amt

* Mit SPIEGEL-Redakteuren Hermann Renner (l.) und Conrad Ahlers.

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