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ENGLAND Ich bin Jack

Fast hundert Jahre nach dem legendären Jack the Ripper versetzt wieder ein Mörder die Frauen in Angst.
aus DER SPIEGEL 28/1979

Die Kassette lief drei Minuten und 38 Sekunden. Dann wußte George Oldfield, Kripochef der Grafschaft Yorkshire und zur Zeit Englands meistbeschäftigter Polizist, daß der gefährlichste Frauenmörder der britischen Kriminalgeschichte wieder zuschlagen würde.

»Ich bin mir nicht sicher wann, aber es wird bestimmt noch in diesem Jahr sein. Vielleicht im September oder Oktober, vielleicht sogar früher, wenn sich die Gelegenheit bietet«, drohte die Stimme des Verbrechers aus dem Recorder.

Das Massenblatt »Daily Mirror« schlug Alarm. »Der Ripper ist auferstanden.«

Fast hundert Jahre nachdem der berüchtigte Jack the Ripper 1888 im Lonloner Elendsviertel Whitechapel fünf Prostituierten die Kehlen durchschnitt und Bäuche aufschlitzte, versetzt ein Killer Englands Frauen erneut in Angst und Schrecken: der Ripper von Yorkshire »Der gefährliche Psychopath«, so Fahnder Oldfield, ermordete bisher elf junge Frauen, davon neun Dirnen. Immer waren die Tatmerkmale ähnlich, so daß die Polizei schon früh auf einen einzigen Täter schloß. In Briefen an die Kripo enthüllte der Ripper seine Täterschaft in den folgenden Mordfällen:

Im Oktober 1975 schlitzte er in Leeds die 28jährige Wilma McCann auf, einen Monat später wurde in einer Garage die verstümmelte Leiche von Joan Harrison entdeckt. Die tote Emily Jackson warf der Schlitzer im Januar 1976 zwischen zwei verfallenen Häusern aus dem Auto. Seine nächsten Opfer lagen in Parks, auf verlassenen Grundstücken oder in Apartments.

Als der Yorkshire-Ripper die fünfte Prostituierte heimsuchte, glaubte die Polizei, sein Motiv zu kennen: Vielleicht war die Mutter des Killers ein Freudenmädchen gewesen, und der Sohn mußte ihr Treiben miterleben -- ein Schock fürs Leben. Dafür, so die Psychologen, nimmt der Frauenmörder nun blutige Rache an den Liebesdamen.

Doch zwei Morde erschütterten diese Theorie: Im Juni 1977 schnappte sich der Ripper die 16jährige Verkäuferin Jane McDonald, im April dieses Jahres schließlich die 19jährige Angestellte Josephine Anne Whitaker.

Auch darauf machte sich die Polizei einen Reim: Wahrscheinlich habe das »Monstrum« (so die Eltern der ermordeten Angestellten) die Teenager irrtümlich für Strichmädchen gehalten.

Mittlerweile gelten die nordenglischen Industriestädte Leeds, Huddersfields und Bradford, in denen der Killer besonders oft zuschlug, als »Mord-Dreieck«. Aus Angst gehen die Dirnen nur noch zu zweit anschaffen und notieren gewissenhaft die Autonummer eines jeden Freiers.

Der Ripper hält die Polizei in Atem: Seine Verbrechen lösten die größte und intensivste Fahndung der britischen Kriminalgeschichte aus. Die Ermittler verhörten bisher 48 000 Personen, protokollierten 11 500 Aussagen, gingen 20 000 Hinweisen nach und überprüften 130 000 Autos.

Zeitweise waren bis zu 1000 Kriminalisten im Einsatz. Die Suche kostete schon acht Millionen Mark. Doch bis Ende voriger Woche blieb alle Mühe vergebens.

Womöglich gelingt dem Yorkshire-Mann, was sein erklärtes Idol, Jack the Ripper, vor fast 100 Jahren schaffte: Dessen Taten wurden nie aufgeklärt.

Damals setzte die Polizei Bluthunde auf den Mörder an: Er hatte Fleischstücke des Strichmädchens Mary Jane Kelly an eine Hauswand genagelt und die halbe Niere eines anderen Opfers Scotland Yard zugespielt.

Einmal ließen die Fahnder sogar die Augen einer Ermordeten photographieren: Die Polizei hoffte, sie würden das Gesicht des Killers widerspiegeln. Die Hoffnung erfüllte sich nicht.

91 Jahre später hatten die Detektive zunächst auch nicht mehr Glück: Ihnen steht nur ein Phantombild des Yorkshire-Rippers zur Verfügung, von einer Frau aus Bradford, die Ende vorigen Jahres wie durch ein Wunder einen Mordanschlag überlebte: Der Täter hatte sie bewußtlos geschlagen und in dem Glauben, sie sei tot, liegengelassen.

Bald inszenierte er ein tollkühnes Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei: Er schickte dem Leiter des Fahndungsstabs, George Oldfield, das Tonband, drohte neue Morde an und verhöhnte den altgedienten Kriminalisten: »Ich bin Jack. Ich erlebe, daß du immer noch kein Glück hast, mich zu fangen. Ich habe allerhöchsten Respekt vor dir, George, aber der Herr weiß, daß du deinem Ziel, mich zu fassen, heute nicht näher bist als vor vier Jahren, als ich loslegte.«

Die Botschaft des Yorkshire-Rippers traf den Polizisten Oldfield schwer: Er erklärte die Jagd auf den Mörder zu einer »persönlichen Sache zwischen ihm und mir

Doch lebend will sich der Dirnen-Killer nicht fassen lassen: Auf seiner Kassette kündigte er an, er werde sich erhängen, wenn ihm die Polizei zu nahe kommen sollte.

Da trat die Kripo die Flucht nach vorn an und ließ das Band in Radio und Fernsehen vorspielen. Innerhalb einer Woche meldeten sich 4000 Anrufer mit Hinweisen, die Telephonleitungen im Norden Englands waren total überlastet.

600 Anrufer pro Stunde wählten zusätzlich einen Spezialanschluß, auf der sie die Stimme des Killers noch mal abhören konnten. Ein Postbeamter: »Das Tonband ist beliebter als die Zeitansage.« Auf einen brauchbaren Tip aber warteten die Fahnder vorige Woche immer noch.

»Wir bekommen nicht soviel Unterstützung, wie wir sollten«, jammerte Ermittler Oldfield. » Die meisten Opfer des Rippers waren Prostituierte, und manche Leute meinen, das mache einen Unterschied.«

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