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SPIEGEL Gespräch »Ich bin kein faschistisches Monstrum«

Der italienische Revolutionstheoretiker Antonio Negri über den Terrorismus in Italien *
Von Birgit Kraatz
aus DER SPIEGEL 34/1983

SPIEGEL: Professor Negri, die Staatsanwaltschaft verdächtigt Sie der Mittäterschaft an einem Mord und der Bildung einer kriminellen Vereinigung. Zahlreiche andere Straftaten werden Ihnen ebenfalls zur Last gelegt. Sie sind der Hauptangeklagte eines großen Strafprozesses - doch als gewählter Parlamentsabgeordneter sind Sie auf freiem Fuß, weil das Gesetz es so will. Vom römischen Gefängnis Rebibbia ins italienische Parlament: Finden Sie nicht, daß die angeblich so repressive italienische Demokratie weitaus stärker und toleranter ist, als Sie seit Jahr und Tag behaupten?

NEGRI: Ich sage der italienischen Demokratie keinesfalls »Dankeschön«. Meinen Platz im Parlament habe ich nicht ihr, sondern mir zu verdanken. Die italienische Demokratie ist eine Bande von schaurigen Mördern. Zuerst heißt es, ich würde eingesperrt, weil ich der Chef des italienischen Terrorismus sei. Dann läßt man mich frei - und das soll die Großzügigkeit der italienischen Demokratie beweisen! Wahr ist hingegen: Erstens bin ich nicht der Chef des italienischen Terrorismus und zweitens bin ich nur frei, weil meine Wähler mit ihren Stimmen der Wahrheit zu ihrem Recht verhalfen.

SPIEGEL: Wer sind denn Ihre Wähler?

NEGRI: Es sind vorwiegend Kommunisten von der Basis der KPI. Andererseits sind es Leute der Autonomen Bewegung, die normalerweise nicht mehr zur Wahl gingen.

SPIEGEL: Ein beträchtlicher Prozentsatz der Stimmen stammt wohl auch von Untersuchungshäftlingen, die seit Jahren auf ihren Prozeß warten.

NEGRI: Ja. In Rom beispielsweise kam eine große Anzahl Stimmen aus dem Gefängnis und von den Familien der Angeklagten. Sie wählten mich als Symbol dieses Mißstandes, daß man in Italien viereinhalb Jahre und mehr im Gefängnis auf seinen Prozeß warten kann. Ich bin mir daher auch sicher, daß die 50 000 Stimmen aus Rom, Neapel und Mailand in Wirklichkeit 500 000 sein könnten, hätte ich wie alle anderen Abgeordneten eine Wahlkampagne führen dürfen. Da gibt es ein ganz erhebliches Protestpotential im Land.

SPIEGEL: Nun sitzt also der Theoretiker der Revolution und des bewaffneten Kampfes mit Krawatte im Parlament ...

NEGRI: Jeder politische Kampf wechselt die Formen. Selbstverständlich bin ich heute gegen die Theorie des bewaffneten Kampfes eingestellt. Ich kämpfe heute für die Einschränkung der Untersuchungshaft. Es müssen Alternativen zur Haftstrafe entwickelt werden.

SPIEGEL: In der linksradikalen Szene der Bundesrepublik wurden Sie gerade wegen Ihrer Ideen zum bewaffneten Kampf sehr geschätzt. Ihr Gesinnungswandel wird jetzt mit Enttäuschung registriert.

NEGRI: Ich glaube, daß ich in Deutschland nicht so sehr wegen meiner Theorie der bewaffneten Konfrontation gelesen werde, sondern eher wegen meiner Theorie der proletarischen Selbstaufwertung. Es ist doch einfach nicht mehr möglich, unter dem kapitalistischen Regime zu leben. Man muß eine Möglichkeit schaffen, den Menschen ein neues Lebensziel zu entwerfen.

SPIEGEL: Mit Gewalt?

NEGRI: Auf dem Weg in die neue Gesellschaft gibt es Momente, in denen man sich verteidigen muß. In diesem Zusammenhang habe ich den bewaffneten Kampf als Verteidigungsmittel vertreten. Aber deshalb bin ich noch lange nicht der Theoretiker des bewaffneten Kampfes. Ich bin nicht dieses halb faschistische, halb Nietzschesche Monstrum. In meinen Publikationen und Büchern vertrete ich vielmehr Spinozas Konzeption einer ganz und gar positiven Menschheit.

SPIEGEL: Ihre neue Version von »proletarischer Selbstaufwertung« wird Ihnen aber nicht überall abgenommen: Der Deutsche Karl-Heinz Roth, bis vor Jahren noch Sympathisant Ihrer Ideen, führt vielmehr in der Berliner »taz« eine offene Polemik gegen Sie. Ihre »arrogant-intellektuelle Art« findet er »makaber«. Das eigene Leben, die »eigenen Ansätze«, schreibt Roth, »für den Kern des italienischen Sozialprozesses zu halten«, sei schon immer einer der »Hauptfehler gewesen, an denen die Avantgarden der Sozialrevolte in Italien gelitten« hätten.

NEGRI: Roth verkennt, daß die Situation in Italien anders ist als in Deutschland. Seit 1968 kämpfen wir hier in den norditalienischen Metropolen um kulturelle Freiräume und um kooperative Produktionsmöglichkeiten. Das sind alles Dinge, die es in Deutschland längst gibt, das ist ja auch der Grund, warum der deutsche Terrorismus im großen und ganzen ohne soziale Wurzeln blieb und ideologisch mit internationaler Thematik geführt wurde.

SPIEGEL: In Italien gab es von 1977 an die »Autonomia«, eine neue Jugendbewegung, _(Mit Redakteurin Birgit Kraatz im ) _(römischen Parlament. )

die »neue soziale Bedürfnisse« notfalls auch mit der verherrlichten Pistole P 38 bei »proletarischen Überfällen und Attentaten« ausdrückten. Gehört das auch zur »proletarischen Selbstaufwertung« - oder war das nicht eher mitleidloser Terrorismus?

NEGRI: In Italien hat sich Mitte der 70er Jahre eine extrem große, sozial breitgestreute und tiefverankerte radikale Bewegung gerade deshalb bilden können, weil die politischen Parteien Italiens jeden Dialog mit dieser Bewegung ablehnten.

Die Weigerung unseres politischen Systems, das die »Autonomia« mit absolut repressiven Methoden bekämpfte, auch nur hinzuhören, diese Weigerung hat erst dazu geführt, daß der Terrorismus sich mit den Radikalen verbinden konnte.

SPIEGEL: In Italien wurden 1979, einem ausgesprochenen Terror-Jahr, etwa 400 Menschen ermordet. Es gab über 2000 Attentate. Ein Teil ging auf das Konto der Roten Brigaden, der große Rest war terroristisches Werk der »Autonomia« - also Ihrer »Bewegung«.

NEGRI: Das Problem ist ein anderes. Es geht um die Beziehung zwischen Bewegung und Regime, um soziale Dialektik.

In Deutschland, ob Ihnen das recht ist oder nicht, hat der Staat mehr Geld für die Bürger ausgegeben. Die Demokratie, das sind auch Freiheitsräume, die Geld kosten, die Möglichkeit nämlich, Menschen zu bilden. In Italien wird keine Lira für all das ausgegeben. Den Wohlfahrtsstaat hat es in Italien nie gegeben.

SPIEGEL: Aber Italien hat allein elf Millionen Rentenempfänger. Und was hat das alles mit dem Terrorismus zu tun?

NEGRI: Schauen Sie, der italienische Staat ist an kleine Mafien, an ekelhafte Körperschaften gebunden. Dieser Staat hat in den Polizeiapparat und in die Verwaltung und den Bau der Gefängnisse viel Geld investiert, anstatt bestimmten Gruppen des Proletariats in den Industriestätten Autonomie und eine ausreichende Existenz zu sichern.

Der italienische Staat ist unfähig, bestimmte Entwicklungsprozesse abzusehen. Er legt auf diese Weise immer mehr Distanz zwischen weite Kreise der Bevölkerung und die kleinen halbfaschistischen Gruppen, die hier das Ruder in der Hand halten. Die italienische Demokratie gibt es nicht.

SPIEGEL: Aber jedes andere Land mit einer ähnlich blutigen Geschichte des Terrorismus hätte Spezialgesetze, unter Umständen sogar den Notstand erklärt - wie er zum Beispiel lange Zeit in Nordirland herrschte.

NEGRI: Das kann schon sein, andererseits ist es auch wahr, daß ich, Antonio Negri, entweder ins Gefängnis zurück muß oder ermordet werde.

SPIEGEL: Was soll das heißen?

NEGRI: Wenn ich nicht ins Gefängnis zurückgehe, werden sie mich, wenn ich Politik mache, umbringen.

SPIEGEL: Warum ziehen Sie sich dann aber nicht nicht auf Ihre Universitätsarbeit zurück?

NEGRI: Ich täte es, wenn ich nicht zuerst dafür Sorge tragen müßte, daß meine Genossen, seit Jahren ohne Prozeß im Gefängnis, auf freien Fuß gelangen. Meine Wahl zum Abgeordneten ist ein Auftrag.

SPIEGEL: Vor Gericht erklären Sie, Sie seien unschuldig. Für welche politischen Aktionen fühlen Sie sich schuldig?

NEGRI: Ich fühle mich überhaupt nicht schuldig, sondern lediglich verantwortlich, Anfang der 70 Jahre in Mailand das aufgebaut zu haben, was man »contropotere« nennt, die Gegenmacht.

SPIEGEL: Was heißt das genau?

NEGRI: Wie in anderen europäischen Ländern gab es 1968 bis 1969 auch in Italien eine Studentenrevolte - mit dem entscheidenden Unterschied, daß sich bei uns Intellektuelle mit der Arbeiterklasse zusammentaten. Das war eine Allianz, die in den großen Fabriken Norditaliens sogar die Mehrheit hielt. Zwei, drei Jahre lang fand eine regelrecht organische Verschmelzung von Studentenbewegung einerseits und Arbeiterklasse andererseits statt. Diese Entwicklung gab es nur in Italien. Das war die Gegenmacht.

SPIEGEL: Kommen wir zu Ihnen. Welche Rolle spielten Sie in der radikalen »Autonomia«?

NEGRI: Ich habe nichts anderes getan, als ihre Entwicklung zu theoretisieren _(Der von den Roten Brigaden entführte ) _(Aldo Moro wird am 9. Mai 1978 erschossen ) _(in Rom aufgefunden. )

und Horizonte für den neuen Typ des Proletariats in den Großstädten aufzuzeichnen.

SPIEGEL: Sie vermeiden, das Wort »Terrorismus« auch nur in den Mund zu nehmen.

NEGRI: Der italienische Terrorismus ging auf die Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg zurück, entsprang also der Tradition der italienischen Arbeiterbewegung. Er verband sich schließlich mit den außerparlamentarischen Gruppen und versuchte, die Bewegung von außen zu kontrollieren, ja zu dirigieren. Doch erst von 1979 an haben die militanten Roten Brigaden Teile der »Autonomia« aufgesaugt.

SPIEGEL: Ihre staatlichen Ankläger sehen das aber anders; sie behaupten, daß Sie die »Autonomia« mit den Roten Brigaden in gemeinsamer strategischer Absicht verknüpft haben.

NEGRI: Bis 1979 waren die Roten Brigaden eine parasitäre Parallelstruktur der Bewegung. Die Ermordung Moros 1978 richtete sich nämlich nicht gegen die Democrazia Cristiana, auch nicht gegen den italienischen Staat, sondern gegen die Bewegung. Die Ermordung Moros war nichts anderes als der Versuch der Roten Brigaden, die Führung der »Autonomia« an sich zu reißen.

SPIEGEL: Sie haben eine merkwürdig egozentrische Sicht von der Geschichte. Es gibt aber eine viel einfachere Erklärung, warum der italienische Terrorismus solche Ausmaße annahm: Es gab in Italien Theoretiker der Gewalt wie Sie, die das Feuer schürten.

NEGRI: Was können in einer Gesellschaft der Massenmedien die circa 20 000 verkauften Exemplare meines Buches »Herrschaft und Sabotage« schon ausrichten? Reden wir dann schon lieber von Mao, dessen Schriften in Italien eine Auflage von einer halben Million erreichten. Ideen blühen und gedeihen, wenn sie auf einen fruchtbaren Boden fallen. Menschen, die sich nicht mehr glücklich fühlen, tun sich zusammen, weil sie es nicht mehr aushalten. Das ist der Mechanismus der Wirklichkeit, der Suche nach der glücklicheren Gesellschaft.

SPIEGEL: Wie soll denn Toni Negris glückliche Gesellschaft aussehen?

NEGRI: Ihr erstes Gebot lautet: Jeder trägt persönliche Verantwortung, und jeder einzelne kann an einer brüderlichen und solidarischen Gemeinschaft mitbauen.

SPIEGEL: Sind Sie denn bereit, »persönliche Verantwortung« für die Jahre des Terrorismus zu übernehmen?

NEGRI: Ich habe Ideen formuliert, habe Bücher geschrieben und habe die Genossen auch mitorganisiert. Ich trage Verantwortung an dem, was ich wirklich getan habe. Ich kann aber nicht für alle und alles verantwortlich gemacht werden.

SPIEGEL: Heißt das auch, daß Sie - sollte Ihre parlamentarische Immunität aufgehoben werden - zurück auf die Anklagebank gehen, auch wenn Sie erneut verhaftet würden?

NEGRI: Im Falle meiner Wiederverhaftung würde ich mich als Gefangener dem Europarat stellen, damit dort befunden wird, ob in Italien die Menschenrechte gewahrt werden.

SPIEGEL: Inzwischen haben rund 600 geständige Terroristen ausgesagt, auch über Details der Organisation »Autonomia«. Der Hauptinformant, der Lehrer Fioroni, kommt aus »Potere Operaio«, einer außerparlamentarischen Gruppe,

deren Anführer Sie Anfang der 70er Jahre waren.

NEGRI: Typen wie Fioroni sind Zöglinge eines italienischen Systems, das den Verrat um des Mordes willen erfunden hat. Das funktioniert so: Ich sage, ich bereue, wenn ich getötet habe. Für das Geständnis bekomme ich die Freiheit geschenkt - so liegt der Fall Fioroni und all der anderen. Sie sind ein Beweis dafür, daß der Staat am Ende ist, es nicht versteht, sich zu erneuern, würde er sonst die schlimmste Schmach, die Verleumdung, die Spionage, auch noch mit Haftfreiheit belohnen?

SPIEGEL: Das Gesetz, das geständigen Terroristen erhebliche Strafverminderung einräumt und einigen, wie Fioroni, sogar die Freiheit gab, hat dazu beigetragen, den italienischen Terrorismus unter Kontrolle zu bringen.

NEGRI: Alle Dinge, die gegen die Moral verstoßen, können den Terrorismus nicht erledigen. Wer dieses Gesetz rechtfertigt, gleicht dem deutschen Bürgertum von 1936. Es nahm keinen Anstoß daran, daß die Gegner des Regimes ins Gefängnis, in die Konzentrationslager kamen: Man lebte ja besser als früher. Die politische Situation war stabiler, die Inflation war besiegt, und die Weimarer Republik hatte endlich ein Ende ...

SPIEGEL: Ein absurder Vergleich - die Gewalt in Italien ging doch wohl von Terroristen aus, nicht vom Gesetz. Noch einmal, glauben Sie nicht, daß Ihre moralische Verantwortung am italienischen Terrorismus ganz erheblich ist?

NEGRI: Die große Mehrheit der Bewegung will eine alternative Kultur aufbauen. In bestimmten Fällen will sie das auch mit Druck und Gewalt tun.

SPIEGEL: Also doch - Druck und Gewalt ...

NEGRI: Nehmen wir das Beispiel Venetien. Dort soll ich der große Terroristen-Chef gewesen sein. Aber niemand wurde durch ein Attentat verletzt.

SPIEGEL: Das stimmt doch nicht. In Padua gab es einen Terroranschlag nach dem anderen: Hunderte von Überfällen, zertrümmerte Geschäfte. »Proletarische Besitznahme« nannten Sie das.

NEGRI: Was ist das schon, wenn einige Molotow-Cocktails explodieren.

SPIEGEL: An der Universität von Padua, wo Sie Ihren Lehrstuhl haben, wurden Professoren verprügelt, einigen ins Bein geschossen.

NEGRI: Hören Sie mit den Propaganda-Floskeln auf. Die Schüsse ins Knie kamen später. Wahr ist, daß Professoren verprügelt wurden. Aber das war schon immer so. Bin ich etwa nicht von den Faschisten überfallen worden? Habe ich nach Rache verlangt?

SPIEGEL: Gewaltakte dieser Art finden Sie also normal?

NEGRI: Ich will sagen, daß die Roten Brigaden erst nach Massenverhaftungen von Mitgliedern der »Autonomia« am 7. April 1979 in Venetien auftauchten. Sie reisten nach dem 7. April aus anderen Landesteilen an und begannen das Morden. Schreckliche, absolut sinnlose, verabscheuenswerte Morde. Wir vom 7. April sitzen unterdessen alle im Gefängnis. Selbst 1981 war der Terrorismus in Venetien noch so wenig zu Hause, daß der Schrankkoffer, in dem Nato-General Dozier im Dezember entführt wird, von den Roten Brigaden aus Rom mitgebracht werden mußte, weil die Terroristen sich nicht sicher waren, daß ihnen in Venetien überhaupt ein solches Ding gebaut werden würde.

SPIEGEL: Koffer-Probleme - sind das nicht Marginalien?

NEGRI: Ich bleibe dabei: Die Verhaftungen vom 7. April haben den gräßlichsten Teil des italienischen Terrorismus erst produziert: Die Mitglieder der politischen »Autonomia«, die sich dem Terrorismus ausdrücklich verweigerten, wurden verhaftet. Danach fehlte der politische Mittler.

SPIEGEL: Der Terrorismus ist aber heute in Italien zerschlagen, Ihre Bewegung auch.

NEGRI: Das sagt der Staat. Ich wette aber, daß der italienische Terrorismus, wenn das Problem der politischen Häftlinge, der überfüllten Gefängnisse in den nächsten beiden Jahren nicht politisch gelöst wird, neu ausbricht.

SPIEGEL: Ist damit zu rechnen, daß der Abgeordnete Negri sich auch wieder um »Brandstiftung« bemüht?

NEGRI: Ich verabscheue den Terrorismus und bin nie ein Terrorist gewesen. Ich habe im Gefängnis gegen den Terrorismus gekämpft und bekämpfe ihn draußen. Ich will eine breite proletarische Kraft der Linken aufbauen, die Erneuerung schafft. Ich bin überzeugt davon, daß dieser Aufbau von Glück und Frieden nur von einer radikalen Bewegung zuwege gebracht werden kann. Ich weiß nicht einmal, ob ich sie noch kommunistisch nennen soll. Ich weiß jedoch, daß diese Bewegung unter den gegebenen Umständen unmöglich ist.

SPIEGEL: Also wieder nur eine Utopie?

NEGRI: Ich lege Wert darauf, Utopist zu sein. Für mich heißt das, in den Dingen zu leben und sie deshalb verändern zu können. Unsere Zeit ist noch eine Epoche der Restauration. Sie begann in den 30er Jahren und erlebt heute ihren Höhepunkt: Wir leben in einem Kapitalismus, der jeden Wert verloren hat. Wir leben in einem Kapitalismus, der unfähig ist, die Produktivität anzukurbeln. Sie kann heute nur noch mit neuer Qualität der Arbeitsmethoden gefördert werden.

SPIEGEL: Also keine Arbeitsverweigerung, keine Sabotage mehr, wie Sie 1974 in Ihrem Buch »Herrschaft und Sabotage« verkündeten?

NEGRI: Zuerst kommt die Arbeitsverweigerung, dann die Sabotage zugunsten einer neuen Produktivität. Um Neues schaffen zu können, muß man Altes zerstören.

SPIEGEL: Und Sie hegen weiter die Illusion, daß Ihnen in einem Land mit drei Millionen Arbeitslosen auf diesem Weg der Gewalt irgend jemand folgt?

NEGRI: Ich will nicht, daß die Menschen mir folgen. Ich bin es, der den Menschen folgt.

SPIEGEL: Professor Negri, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
*KASTEN

Antonio Negri *

ist angeklagt, Chef des italienischen Terrorismus zu sein. Der frühere Ordinarius für Politische Wissenschaften an der Universität Padua, der sich selbst als »kommunistischen Häretiker« bezeichnet, hatte Italiens »Autonomer Linken« die Theorie geliefert, »neue soziale Bedürfnisse« mit Gewalt zu befriedigen. Im April 1979 verhaftet, kam Negri, 50, im Juni 1983 wieder frei, weil er - für die alternative »Radikale Partei« - zum Abgeordneten im römischen Parlament gewählt wurde. Seine Wiederverhaftung ist beantragt. Anfang September will das Parlament entscheiden, ob seine Immunität aufgehoben wird.

Mit Redakteurin Birgit Kraatz im römischen Parlament.Der von den Roten Brigaden entführte Aldo Moro wird am 9. Mai 1978erschossen in Rom aufgefunden.

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