»Ich bin kein Trickser«
SPIEGEL: Herr Gysi, wir möchten Ihnen ein Zitat vorlesen: »Ein begnadeter Intellektueller und auch Rhetoriker, natürlich auch ein Opportunist und ein Schlawiner, aber immer mit sehr viel Charme und niemals grob.« Wer hat das über wen gesagt?
Gysi: Das habe ich über meinen Vater gesagt. Eine kurze, prägnante Zusammenfassung seines Wesens.
SPIEGEL: Die Charakteristik paßt auch auf Sie.
Gysi: Ja, wahrscheinlich. Natürlich habe ich vieles gemeinsam mit meinem Vater. Wir sehen uns schon mal in Statur und Physiognomie sehr ähnlich. Aber es gibt auch gewaltige Unterschiede. Seine politischen Einstellungen und seine politischen Ämter in der DDR haben mich anders geprägt als ihn, teilweise gegensätzlich**.
SPIEGEL: Ein Opportunist sind auch Sie?
Gysi: Die Beschreibung ist zumindest für die Zeit bis 1989 nicht falsch. Opportunist war ich damals immer auch. Aber ich habe eine bestimmte Grenze nie überschritten und kann deshalb ganz gut mit meiner Biographie leben.
SPIEGEL: Und auch der Ausdruck Schlawiner trifft den Anwalt und Politiker Gregor Gysi?
Gysi: Ich finde, daß der Begriff auf mich nicht paßt. Ich bin eigentlich kein Trickser.
SPIEGEL: Laut Duden ist ein Schlawiner ein schlauer, durchtriebener, pfiffiger Mensch.
Gysi: Wenn ich zu überzeugen versuche, vermeide ich die trockene, langweilige Art, weil ich weiß, daß die Wirkung geringer ist. Wenn Sie so oft wie ich in völlig aussichtsloser Situation waren - ob nun vor DDR-Gerichten oder im Bundestag -, dann brauchen Sie Kraft und Ideen, um trotzdem etwas zu erreichen. Das prägt. Ich will ja gar nicht sagen, daß der Begriff völlig falsch ist, aber ich halte mich nicht für durchtrieben. ** Klaus Gysi leitete (1957 bis 1966) den Auf- _(bau-Verlag, war Kulturminister der DDR ) _((1966 bis 1973), erster DDR-Botschafter ) _(in Rom (1973 bis 1978) und danach, bis ) _(zu seiner Entlassung 1988, ) _(Staatssekretär für Kirchenfragen. * Mit ) _(den Redakteuren Paul Lersch und Gerhard ) _(Spörl. )
SPIEGEL: Ihre Gegner halten Sie für einen Spieler, einen Gaukler, sprechen Ihnen ab, daß Sie ein ernsthafter Politiker sind. Haben sie recht?
Gysi: Diese Sicht ist nicht typisch, und soweit sie vorliegt, glaube ich an eine Verwechslung. Wer mich für einen nicht ernsthaften Politiker hält, wirft mir entweder vor, daß ich nicht nach einem Regierungsamt strebe, oder ihn stört mein Politikstil, weil er ihm fremd ist. Das fängt schon mit der Selbstironie an. Die ist in unserer politischen Klasse atypisch. Selbstironie ist in der BRD gerade noch möglich, in der DDR war sie fast völlig ausgeschlossen. Im übrigen kommen solche Vorwürfe auch aus der linken Szene. Diese Leute wollen, daß ich mit permanent verkniffenem Gesicht durch die Welt laufe und mich sichtlich - am Mundwinkel erkennbar - über alle Übel dieser Welt so errege, daß es ihnen Spaß macht. Ich finde, man sollte die Sache stets ernst nehmen, aber sich selber nicht so wahnsinnig wichtig.
SPIEGEL: Was sind Sie eigentlich: ein Postkommunist oder doch ganz einfach das Feigenblatt für eine altkommunistische Partei?
Gysi: Solche Klischees hängen mir vorzugsweise Konservative an. Ich wundere mich dabei immer, daß sie Veränderungen in der Gesellschaft, die sie selbst mit herbeigeführt haben - etwa den Untergang des Ostblocks -, nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Man kann nicht die Welt grundlegend verändern und zugleich glauben, daß die Menschen so weiterdenken wie bisher. Das aber wird den PDS-Mitgliedern unterstellt.
SPIEGEL: Etliche Ihrer Parteifreunde halten ja auch eisern am Althergebrachten fest.
Gysi: Wenn das kennzeichnend für die PDS wäre, würde sie nicht von 20 Prozent der Ostdeutschen gewählt werden.
SPIEGEL: Auch Sie finden es merkwürdig, daß ausgerechnet die Nachfolgepartei der SED solchen Zulauf hat?
Gysi: Wir haben ja keinen Zulauf an Mitgliedern.
SPIEGEL: Aber Zuwachs an Wählern.
Gysi: Die Akzeptanz nimmt zu. Das hat mit der Glaubwürdigkeit unserer Erneuerung und unserer Politik zu tun. Und das hat mit der Politik der anderen zu tun.
SPIEGEL: Die Postkommunisten ziehen den Vorteil aus den Fehlern der Regierung Kohl?
Gysi: Der Westen versteht den Osten nicht, die alte Bundesrepublik versteht nicht, wie die Ostdeutschen denken.
SPIEGEL: Sie fühlen sich als Opfer, und die PDS, die zu 90 Prozent aus alten SED-Mitgliedern besteht, ist plötzlich ihre Klagemauer.
Gysi: Die Partei verändert sich auch durch Austritte. Diese 90 Prozent entsprechen 5 Prozent der SED-Mitglieder, und die SED war nie homogen. Und die Menschen haben nicht vergessen, daß sie sich in 40 Jahren DDR einiges aufgebaut haben, was sie so schnell vielleicht nicht hätten wegwerfen sollen. Dazu kommt, daß die Menschen einen Bedeutungsverlust erlitten haben, der sich kaum ertragen läßt.
SPIEGEL: Es entsteht das Bild einer DDR, die so schlecht gar nicht war - und Gregor Gysi ist deren beredter Anwalt?
Gysi: Differenzierung verlangt andere Begriffe als »schlecht« und »gut«. Die Regierenden rechnen den Ostdeutschen vor, wieviel Sozialtransfer geleistet wird, welche Straßen gebaut werden und welche Rechte sie jetzt haben, wohin sie reisen können. Nur verstehen sie nicht, worin das psychologische Problem der Menschen besteht. Das zeigt die PDS auf, und das zeichnet sie aus.
SPIEGEL: Also wird Ihnen zu Recht der Vorwurf gemacht, daß Sie die Ressentiments ausnutzen.
Gysi: Es kann doch kein Trick sein, Tatsachen zur Kenntnis und die Menschen ernst zu nehmen. Wir versuchen ja nicht, sie unglücklich zu machen; das tun eher andere. Die größte Leistung der PDS besteht darin, daß sie den Menschen in Ostdeutschland mehr Selbstbewußtsein gibt, sich für ihre Rechte zu engagieren. Wenn uns das gelingt, ist etwas Wesentliches geschafft: die Überwindung von Lethargie und Ohnmachtsgefühlen. Insofern müßten uns alle dankbar sein.
SPIEGEL: Darauf werden Sie nicht ernstlich rechnen. Statt dessen müssen Sie sich vorhalten lassen, daß Sie die DDR schön- und den Westen schlechtreden. So kultivieren Sie Animositäten. Richard Schröder, ein ostdeutscher Sozialdemokrat und Theologe, der die Verhältnisse gut kennt, wirft Ihnen vor, Sie unterminierten die Akzeptanz der Demokratie in der ehemaligen DDR und störten den Integrationsprozeß.
Gysi: Nicht wir verhindern, daß für viele Demokratie nicht erlebbar wird. Und bestimmte Linke nennen mich einen Verräter, weil ich vehement für Integration eintrete. Diese Kritik trifft schon eher zu. Denn im Grunde genommen integrieren wir, indem wir den Menschen die Chance geben, sich in einem kritischen Denken, sozusagen in einem Antidenken, zurechtzufinden. Ich bin doch ein Beispiel dafür.
SPIEGEL: Um die PDS scharen sich die Verlierer der Einheit, sagen Sie. Da müssen Sie uns folgendes Phänomen erklären, das sich statistisch untermauern läßt: Der Kaufkraftgewinn der ostdeutschen Rentner gegenüber 1990 beträgt real 67 Prozent. Bezogen auf die gesamte ostdeutsche Bevölkerung liegt die Steigerung bei knapp 50 Prozent. Außerdem ergeben jüngste Umfragen, daß 48 Prozent der PDS-Wähler ihre wirtschaftliche Entwicklung optimistisch sehen.
Gysi: Ich kenne Umfragen, nach denen 40 Prozent der PDS-Wählerinnen und -Wähler ein Einkommen von mehr als 3000 Mark haben.
SPIEGEL: Warum wählen sie ausgerechnet die PDS?
Gysi: Weil Statistik trügerisch ist und sich außerdem aus dem materiellen Lebensstandard nicht alles ableiten läßt. Man muß fragen was die Menschen bewegt, welche Ängste sie haben. Wer in Beschäftigung ist und gut verdient, weiß nicht, ob er auch in sechs Monaten noch in Beschäftigung sein wird. Dieses Problem kennt man im Westen, aber das hat man in Ostdeutschland nie gekannt. Wer nicht von Natur aus Abenteurer ist und es spannend findet, daß die Zukunft im Nebel liegt, für den ist das ein großes Problem. Als Grund für unsere Akzeptanz kommt hinzu: Wir gelten im Osten als Leute, die ihre Vergangenheit nicht leugnen.
SPIEGEL: Wie sollten Sie auch.
Gysi: Wer sich dazu entschließt, in der PDS zu bleiben, weiß, daß er auch die SED am Halse hat. Und er bekommt mittlerweile in den Augen der Leute einen Charaktervorteil, einen Pluspunkt in Sachen Zivilcourage, weil zu viele einen leichteren Weg gewählt haben.
SPIEGEL: Die Konsequenz ist, daß von der PDS nicht viel übrigbleibt, wenn der Einheitsfrust verflogen ist.
Gysi: Ihre Prognose träfe zu, falls es die PDS nicht schafft, durch bundesweite Politik und linke Alternativangebote sich zu einer wichtigen politischen Kraft links von der Sozialdemokratie zu entwickeln. Und dabei haben wir wichtige Fortschritte gemacht, zum Beispiel bei Themen wie Massenarbeitslosigkeit, Asylrecht, internationalem Einsatz der Bundeswehr, Sozialabbau, Steuerreform, Gleichstellung der Frauen.
SPIEGEL: Erhard Eppler sagt es ganz gelassen: Die PDS ist keine linke Partei, sie ist auch keine linkssozialistische Partei. Sie hat kein spezifisches Programm, sie hat nur eine spezifische Vergangenheit.
Gysi: Das ist nicht richtig. Wer das so sieht, begibt sich schon wieder in die Gefahr, uns zu unterschätzen. Das ist dann, so glaube ich, der nächste Fehler. In keiner Partei wird so hart programmatisch gearbeitet und nachgedacht wie in der PDS.
SPIEGEL: Geht es nach der CDU-Zentrale in Bonn, ist die PDS ein Fall für den Verfassungsschutz. Dazu tragen Sie selber bei, weil Sie sich nicht von der Kommunistischen Plattform trennen, einem leninistischen Veteranenverein innerhalb Ihrer Partei.
Gysi: Die Mitglieder dieser Plattform sind sehr unterschiedlich. Sie hat nicht nur ältere, sondern auch jüngere Mitglieder.
SPIEGEL: Warum befreit sich die PDS nicht von diesem Traditionsklub?
Gysi: Wir werden uns von keiner Plattform trennen, auch nicht von einer kommunistischen. Die PDS darf alles mögliche werden, aber nicht antikommunistisch.
SPIEGEL: Dann bleibt die PDS anrüchig.
Gysi: Ich finde, die Plattform wird künstlich aufgewertet und dient dazu, uns öffentlich unter Druck zu setzen und zu testen. Es gibt Mitglieder der Kommunistischen Plattform zwischen 50 und 60 Jahren, die völlig chancenlos sind. Wenn Sie ML-Professor an einer Bezirksparteischule oder etwas Ähnliches waren, und wenn Sie jetzt 53 Jahre alt sind, dann gibt es für Sie keine Zukunft. Diese Leute begehen nicht selten einen Fehler: Sie denken, ihre Situation ist die Situation aller Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern. Aber in der PDS sind engagierte Gewerkschafter, fünf Prozent sehr erfolgreiche Unternehmerinnen und Unternehmer, Tausende von Intellektuellen, die durchaus in Beschäftigung sind, Studentinnen und Studenten, die noch ihr ganzes Leben vor sich haben, mit Perspektive.
SPIEGEL: Sie vertrauen auf eine biologische Lösung?
Gysi: Quatsch, eine Trennung wäre politisch falsch, denn das hieße, die Auseinandersetzungen zu verlagern. Wir müssen sie doch sowieso führen. Es gibt inhaltliche Fragen, die die PDS entschieden hat und solche, die sie entscheiden wird. Wichtig ist: Was setzt sich in einer Partei durch?
SPIEGEL: Herr Gysi, zum Klärungsprozeß dürfte das Magdeburger Modell und die Volksfront-Kampagne der CDU mehr beitragen. Gilt auch hier für die PDS: Ein bißchen verfemt zu sein, ist nützlich?
Gysi: Die Volksfront-Kampagne hat ihre Tücken, auch für die PDS. Die CDU will den Leuten angst machen, sich zu uns zu bekennen. Sie sollen das Gefühl bekommen, wer uns wählt, tut fast etwas Illegales. Das bleibt bei dem deutschen Gemüt nicht ohne Wirkung. Andererseits trägt die Kampagne dazu bei, den von uns angestrebten Ruf der nichtetablierten Oppositionspartei zu stärken.
SPIEGEL: Wie wird sich die PDS in Sachsen-Anhalt konkret verhalten - entwickelt sie sich hin zur Regierungspartei, wie das etliche Ihrer Parteifreunde schon öffentlich ausgesprochen haben? Oder zurück zur Opposition?
Gysi: Ich bin für Duldung, weil wir damit ein Wahlversprechen erfüllen. Wir haben in Sachsen-Anhalt gesagt, wir gehen in die Opposition, aber an uns scheitert keine Regierung aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen; das ist in Magdeburg jetzt erst einmal so passiert. Ich kann mir sehr gut eine Zeit vorstellen - sie wird wahrscheinlich schneller kommen, als ich es gut finde -, in der wir in die Lage kommen, uns an Landesregierungen zu beteiligen.
SPIEGEL: Die PDS in Sachsen-Anhalt hat den Beschluß gefaßt, daß die Oppositionsrolle mit einem Gestaltungsanspruch verbunden werden soll. Werden Sie Höppner Bedingungen für die Duldung setzen?
Gysi: Jetzt müssen Gespräche geführt werden. Dann wird man sehen, was zusammen geht. Die SPD und die Grünen müssen für jeden Beschluß eine Mehrheit entweder nach rechts oder nach links suchen.
SPIEGEL: Wird die PDS dem Landeshaushalt zustimmen?
Gysi: Ohne Gespräche geht nichts, aber Gespräche finden ja ohnehin in den Ausschüssen statt. Ich warne die PDS nur vor Kungelei. Wenn Gespräche geführt worden sind, dann muß sie zu den Ergebnissen öffentlich stehen und Kompromisse erklären können.
SPIEGEL: Läßt sich das Magdeburger Modell auf Bonn übertragen?
Gysi: Dazu müßte ich etwas wissen, was ich nicht weiß: Ob die SPD der Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt nur deshalb die Zustimmung gegeben hat, weil sie Angst hatte, daß ihr gegenwärtig eine Große Koalition mehr schadet, da alle denken, daß sie eine Große Koalition auch in Bonn anstrebt.
SPIEGEL: So ähnlich ist es wohl.
Gysi: Dann wäre klar, daß die SPD nach dem 16. Oktober in eine Große Koalition gehen will. Und dabei fühlt sich Scharping auch wohler.
SPIEGEL: Sie würden einem Tolerierungsmodell in Bonn nachtrauern?
Gysi: Ja, natürlich. Eine rot-grüne Regierung wird nicht zustande kommen, weil erstens das gesellschaftliche Klima dafür nicht vorhanden ist und weil es zweitens auf allen Ebenen Strategen gibt. Diese Strategen haben sich überlegt, daß Rot-Grün für Bonn die letzte Variante sein muß, wenn es zu wirklichen Eruptionen kommt. Man muß wie nach 1968 etwas anbieten können, was noch nie da war. In einer Marktwirtschaft ist es immer problematisch, wenn man keine Reserve mehr hat.
SPIEGEL: Herr Gysi, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Y
»Der Westen versteht nicht, wie die Ostdeutschen denken«
»Die PDS darf alles mögliche sein, aber nicht antikommunistisch«
»Die SPD will nach dem 16. Oktober eine Große Koalition«
** Klaus Gysi leitete (1957 bis 1966) den Aufbau-Verlag, warKulturminister der DDR (1966 bis 1973), erster DDR-Botschafter inRom (1973 bis 1978) und danach, bis zu seiner Entlassung 1988,Staatssekretär für Kirchenfragen. * Mit den Redakteuren Paul Lerschund Gerhard Spörl.