SKANDALE »Ich bin mir selbst ein Rätsel«
Wenn der Musiker Gerd Reinke nachlesen will, was die Weltöffentlichkeit von ihm hält, muß er nur zu einem dicken Leitz-Ordner über seinem Schreibtisch greifen. Der Metallbügel kann die Masse der Zeitungsausrisse kaum halten, die der Kontrabassist bei seiner täglichen Presseschau mit Bleistift markiert und dann sorgsam abgeheftet hat.
Die Akte in eigener Sache, die mit einer Meldung der Deutschen Presse-Agentur vom 31. Mai dieses Jahres beginnt, ist eine furiose Sammlung sich überschlagender Beschimpfungen, ein wütendes Crescendo der kollektiven Empörung.
Ein »Schwachkopf« sei Reinke, ist da zu lesen, ein »Wirrkopf«, ein »Idiot«, ein »geistig-kultureller Amokläufer«. »Bild« fällt auf 18 Zeilen Leitartikel das Urteil, der Bassist aus Berlin habe sich als Prototyp des Unbelehrbaren erwiesen, als »törichter häßlicher Deutscher« schlechthin.
Eines läßt sich mit Sicherheit über Gerd Reinke, 56, sagen: daß er zeit seines Berufslebens ein typischer Orchestermusiker war. Einer, der seine Arbeit nach Dienstplan versah, nicht besonders inspiriert vielleicht, aber durchweg sehr ordentlich. Ein unauffälliger Musikbeamter, ein Kunstbediensteter des Landes Berlin, besoldet nach Tarifklasse A F1.
Über 20 Jahre lang ist Reinke in den Orchestergraben der Deutschen Oper Berlin gestiegen. Er hat sein wuchtiges Instrument zwischen die Beine geklemmt und ergeben auf den Einsatz gewartet. Er hat den großen Arien Halt gegeben und den Streichern mit dem tiefen Ton seines Kontrabasses den Boden für ihre Höhenflüge.
Gerd Reinke, zweites Pult, fünfte Reihe rechts, nahe der Tür. Das war sein Platz, sein Fixpunkt im Kosmos der Musikwelt. Und da säße er wohl noch heute, wenn er jenen Freitag Ende Mai aus seiner Vita tilgen könnte, diesen Moment nach Mitternacht, an dem er sich auf eine Umlaufbahn katapultierte, auf der nur noch das eisige Dunkel der Verachtung herrscht.
Binnen Sekunden hat der bis dahin unbescholtene Musiker sein Leben ruiniert, mit einer geschmacklosen Entgleisung, einem hanebüchenen Aussetzer, mit einem »Scherz«, wie er es nennt.
An jenem 30. Mai hatte sich Reinke, der für zwei Wochen mit seinen Opern-Kollegen zu einem Gastspiel nach Tel Aviv gereist war, auf einem Barhocker des Hotels »Sharon« niedergelassen. Er trank zwei Bier, ein großes und ein kleines, und plauderte ein wenig mit der Kellnerin.
Kurz vor 1 Uhr bat er den Barkeeper, den fälligen Betrag auf sein Zimmer zu buchen, 0:52 Uhr weist die Quittung als Belegzeit aus. Und dann folgte Reinke einer Augenblickslaune, für die er bis heute keine schlüssige Erklärung hat: Er nahm einen Kugelschreiber und setzte in die Rubrik »Name« ein gut lesbares »Adolf Hitler«.
Auf der Rechnung, die als Schuld- und Schandbeleg in vielen Zeitungen faksimiliert war, ist der Schriftzug kaum noch zu entziffern. Wie der Barmann später zu Protokoll gab, habe er die anstößige Zeile sofort ausgestrichen und den Deutschen aufgefordert, mit seinem richtigen Namen zu unterschreiben - was der dann auch tat. Auf die Frage, was ihm eigentlich einfalle, habe Reinke geantwortet, es sei ein »Witz« gewesen: »It was a joke.«
Für den Gast von Zimmer 1909 war die Angelegenheit damit offenbar erledigt. Unbeschwert nahm er am nächsten Morgen sein Frühstück ein. Gegen Mittag ließ er sich von einem befreundeten Professor der Tel Aviver Musikakademie in einen nahe gelegenen Kibbuz kutschieren, um dort drei Stunden mit dessen Kontrabaß-Studenten zu musizieren. Womöglich wäre Reinke am Ende der Tournee sogar unbehelligt aus Israel abgereist, wenn der konsternierte Barkeeper nicht den Hotelmanager alarmiert hätte und der dann die örtlichen Rundfunkanstalten.
Das war die Geburtsstunde des Falls Reinke. Und im Nachgang der eher nüchternen Berichterstattung der israelischen Medien setzte sich hierzulande eine Maschinerie in Gang, die den absurden Zwischenfall zu einem Politikum machte, zu einem Gesinnungstest auf die zivile Verfassung der Deutschen.
Für den Generalintendanten der Deutschen Oper, Götz Friedrich, wurde die Affäre zum »Prüfstein« dafür, »wie stark letztendlich die Moral unseres Hauses ist«. Für die deutsche Botschaft in Tel Aviv war sie ein Anschlag auf die deutsch-israelischen Beziehungen und die »Arbeit von zehn Jahren«.
In schneller Folge sahen sich erst der Berliner Kultursenator, dann der Regierende Bürgermeister von Berlin und schließlich sogar Außenminister Klaus Kinkel zu einer Stellungnahme veranlaßt. Einige Kommentatoren forderten zudem ein klärendes Wort des Bundeskanzlers.
»Wir werden in die Knie gehen. So wie Willy Brandt es vor aller Welt in Warschau vormachte«, versprach Fernsehpastor Jürgen Fliege in der Berliner Boulevardzeitung »BZ«. »Slicha, Israel!« - »Vergib uns, Israel«, bat das Blatt im Namen aller Berliner. Damit war der Fall Reinke endgültig zu einem Trampolin geworden, das jedem kostenlos den moralischen Aufwärtsdrall verlieh, den Freiflug auf die Galerie der anständigen Deutschen.
Die Leitung der Deutschen Oper hatte gleich nach Bekanntwerden des Vorfalls reagiert, den drohenden Abbruch des Gastspiels vor Augen, und den Kontrabassisten ins nächste Flugzeug gesetzt. Der Kündigung ihres Kollegen schoben die Orchestermitglieder eine Reihe von distanzierenden Erklärungen nach. Der realen Entfernung aus ihrer Mitte folgte die symbolische, der Besudelung des guten Orchesternamens die rituelle Reinigung, die »Katharsis«, wie Intendant Friedrich das im Rückblick nennt.
»Wir können Herrn Reinke nicht länger als unseren Freund und Kollegen betrachten«, versicherte ein Vertreter des Orchestervorstands am 31. Mai in Tel Aviv dem Publikum, unmittelbar vor Aufführungsbeginn. Vier Tage später schaltete der Vorstand in den Berliner Tageszeitungen Anzeigen, um sich »mit aller Konsequenz« von Reinke zu »distanzieren«. Am 22. September faßte das Orchester einen erneuten Ausgrenzungsbeschluß, diesmal in »aller gebotenen Schärfe« und mit den Unterschriften der Musiker versehen.
Auch andere haben mit der gebotenen Schärfe ihre Konsequenzen gezogen. Reinke hat seinen Lehrauftrag an der Berliner Musikhochschule Hanns Eisler verloren, eine Reihe geplanter Auftritte bei anderen Orchestern wurde ihm unverzüglich aufgekündigt. Nachbarn haben ihm in anonymen Briefen empfohlen, aus der Berliner Randgemeinde wegzuziehen, wo er sich vor Jahren ein Haus gekauft hat, das er mit zwei Söhnen bewohnt, seine Frau ist vor zehn Jahren an Krebs gestorben.
Nicht einmal die Deutsche Orchestervereinigung, bei der Reinke seit 1976 Mitglied ist, mag dem Gewerkschaftsmitglied noch beistehen. Erst verweigerte die Standesvertretung Reinke den Rechtsbeistand, dann schloß sie ihn vor sechs Wochen aus ihren Reihen aus.
Reinke ist zur Unperson geworden, zum sozialen Nichts - daran wird auch die Klage wenig ändern, die er nun gegen die Kündigung eingereicht hat. Und dort, wo noch Spuren des anderen, des Musiktalents Reinke existieren, verblassen sie. Aus einem Konzertmitschnitt des Philharmonischen Orchesters Erfurt, bei dem der Bassist mit einem Solostück gastierte und der demnächst auf CD erscheinen soll, hat die Plattenfirma Reinkes Part herausschneiden lassen. Wer im Plattenladen der Deutschen Oper nach Aufnahmen des Kontrabassisten sucht, bemüht sich vergebens: Sie wurden entfernt.
Hin und wieder rufen ehemalige Kollegen an, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Doch die Anrufe schließen stets mit den gleichen Sätzen: »Sag bitte niemandem, daß ich angerufen habe.« Und: »Halt meinen Namen da raus.« Er könne die Kollegen verstehen, sagt Reinke, niemand wolle schließlich in den Verdacht geraten, mit einem Nazi zu sympathisieren.
Dabei hält nicht einmal die Intendanz der Deutschen Oper den Bassisten für einen Rechtsradikalen. »Wir haben in dieser Richtung nie etwas gehört«, sagt Hausjurist Matthias Henneberger. Im Orchester galt Reinke vielmehr als »der Linke«, als »so 'n ewiger 68er«.
Er ist langjähriges Greenpeace-Mitglied und hat die Grünen gewählt, bevor er ins Lager der Nichtwähler wechselte, weil ihm die Ökopartei irgendwann zu »angepaßt« war. Er ernährt sich vorzugsweise makrobiotisch und war in der Opernkantine für seine Vorträge über die Schädlichkeit von Nikotin und Alkohol gefürchtet.
Nun gibt es bekanntermaßen auch unter Linken einen ausgeprägten Antisemitismus. Doch übereinstimmend berichten die ehemaligen Kollegen, daß sie sich bei Reinke nicht an eine einzige tendenziöse Äußerung erinnern können.
Wer einmal seine Heimat verloren habe, der merke »jeden Unterton«, der »zittert wie ein Seismograph«, sagt Emil Minkow, ein Bulgare, der bis zu seiner Pensionierung als Erster Geiger an der Deutschen Oper gearbeitet hat, insgesamt 28 Jahre lang. Von dem Mann am zweiten Pult, sagt Minkow, habe er in dieser Zeit nie eine fremdenfeindliche oder gar antisemitische Sentenz gehört, »nicht einmal im Ansatz«.
Und genau das macht den nächtlichen Fehltritt für viele so unheimlich. Vielleicht habe der Fall Reinke ja auch deshalb ein so starkes Echo gefunden, sinniert der Jurist Henneberger, weil der Delinquent kein ausgeklinkter, alkoholabhängiger Extremist sei, sondern ein typischer Bildungsbürger. »Dadurch rückt das alles natürlich ein bißchen näher«, sagt der Justitiar.
Welcher Treibsatz damals an der Bar des »Sharon« in ihm zündete, welcher Teufel ihn geritten haben mag - darauf weiß Reinke auch heute noch keine Antwort. Sein Verhalten an diesem Abend vor fünf Monaten sei ihm »völlig unverständlich«, sagt er, »da bin ich mir selbst ein Rätsel«.
Entsprechend unbeholfen, ja abstrus wirken seine Deutungsversuche. Vielleicht sei ihm ja die kurz zuvor in einer Zeitung aufgeschnappte Geschichte eines amerikanischen Gebäudereinigers durch den Kopf geschossen, der sich einen Jux daraus gemacht hatte, sein Gehalt über einen Kontoinhaber »Adolf Hitler« zu beziehen.
»Vielleicht gibt es bei mir auch ein Gen, das selbstzerstörerisch wirkt«, sagt Reinke und borgt sich dabei einen Satz aus einem Interview mit dem Rockmusiker Joe Cocker - eine Formulierung, die er für so passend hält, daß er sie mit gelbem Textmarker dick angestrichen hat.
Der Darstellung des israelischen Hotelangestellten hat Reinke nie widersprochen, er hat sie nicht einmal in Details korrigiert. Reinke erlegte sich eine Art Erinnerungsverbot auf. Er hat nach eigener Aussage irgendwann zwischen dem ersten und dem zweiten Carlsberg einen »Filmriß« erlitten, einen »totalen Blackout«, hervorgerufen durch den Genuß von zwei Flaschen Rotwein bei einem auswärts eingenommenen Abendessen.
Der übermäßige Konsum von Alkohol ist das einzige, das zentrale Entlastungsargument, das Reinke zu seinen Gunsten bereithält. In der Klageschrift hat sein Anwalt daraus eine handliche juristische Waffe geschmiedet. »Verminderte Schuldfähigkeit« heißt der Terminus technicus, den Juristen immer dann benutzen, wenn ihnen als mildernder Umstand beim besten Willen nichts anderes mehr einfällt.
Daß Reinke wirklich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken war, wie er behauptet, erscheint zumindest fraglich. Die Leitung der Deutschen Oper Berlin hat einen Gutachter nachrechnen lassen, daß der Musiker allenfalls einen Alkoholgehalt von 1,5 Promille im Blut gehabt haben könne, was nach landläufiger Meinung nicht den Tatbestand der Volltrunkenheit erfüllt. Außerdem hat die Intendanz eine junge Geigerin ausfindig gemacht, die bezeugen kann, am fraglichen Abend etwa zehn Minuten mit Reinke an der Bar des Sharon gesprochen zu haben - der Kollege habe dabei »ganz normal« gewirkt.
So bleibt nicht aus, daß sich auch die Seelenforschung mit dem Fall befaßt. Der Schweizer Psychoanalytiker Peter Schneider hat in der Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung auf die besonderen Umstände des Gastspiels in Tel Aviv hingewiesen, das vier Jahre Vorbereitungszeit brauchte und auf dessen Programm eben nicht nur Mozarts »Zauberflöte« stand, sondern auch die Förderung von Frieden und Völkerverständigung.
Der scheinbar irrationale Auftritt des Bassisten, so glaubt Schneider, gehorcht sehr wohl einer untergründigen Logik: »Je prätentiöser und weihevoller eine Situation, desto näher ist der Fauxpas.« Oder anders gesagt: Der infantile Drang zur Tabuverletzung steigt mit dem Aufwand der moralischen Inszenierung.
Es ist durchaus denkbar, daß sich Reinke der Peinlichkeit seines Auftritts zu- nächst nicht einmal bewußt war. Der bullige, äußerst robust wirkende Mann stand nie im Ruf, besonders feinfühlig zu sein.
Im Orchester galt der Bassist als Sonderling, als einer, der sich nur widerwillig den Regeln einer Gemeinschaft fügt, die auf perfekte Harmonie ausgerichtet ist und deshalb von ihren Mitgliedern ein besonderes Maß an Disziplin verlangt. Immer wieder hat Reinke versucht, der engen Welt des Grabens zu entkommen. Wenn sich ihm irgendwo die Gelegenheit zu einem Bühnenauftritt bot, nahm er sie wahr - notfalls auch ohne Gage. Und über die Jahre ist es ihm sogar gelungen, sechs CDs einzuspielen, wenn auch in Kleinstauflagen.
Dabei gibt es kaum ein Instrument in der klassischen Musik, das einem Musiker so wenig Entfaltungsspielraum läßt wie der Kontrabaß. Kein großer Komponist hat den Kontrabaß jemals einer eigenen Komposition für würdig befunden. Das einzige Standardwerk, in dem die Baßgeige eine tragende Rolle spielt, stammt von Karl Ditters von Dittersdorf, einem musisch veranlagten Forstmeister des 18. Jahrhunderts.
In der Hierarchie eines Orchesters steht der Kontrabassist folglich ganz unten. Die Nöte eines solchen »Tuttischweins«, wie die Reinkes im Kollegenkreis abfällig genannt werden, hat der Schriftsteller Patrick Süskind in seinem Einpersonenstück »Der Kontrabaß« eindrucksvoll beschrieben. Am Ende des langen Monologs phantasiert der Musiker einen großen Soloauftritt herbei, seinen einzigen: Er werde Sekunden vor der Aufführung, »in diesem erhabenen Moment«, einen gellenden Schrei ausstoßen. Dann allgemeines Entsetzen, Presseberichte, Kündigung.
»Es wäre ein herostratischer Akt«, läßt Süskind seine Hauptfigur sagen. »Auf jeden Fall wäre etwas los. Mein Leben würde sich entscheidend ändern. Es wäre ein Einschnitt in meine Biographie.«
Am Donnerstag will das Berliner Arbeitsgericht nun entscheiden, ob es Reinkes Klage gegen seine Entlassung für berechtigt hält. Der Musiker hofft auf eine Abfindung; eine Rückkehr, das hat die Opernleitung mehrfach erklärt, werde das Orchester auf keinen Fall dulden.
Natürlich will der Kontrabassist wieder öffentlich spielen. Er ist sich sicher, daß man ihn irgendwann für einen Abend engagieren wird, in Brandenburg vielleicht oder im Ausland - und sei es als eine Art Kuriosität. »Es gibt ja genug Leute«, sagt Reinke, »die das Monster einmal auf der Bühne sehen wollen.«