FRANKREICH / ENTFÜHRUNG Ich fange ihn
General de Gaulle las es in »Le Monde": Auf seinem Territorium in seiner Hauptstadt raubte die Geheimpolizei seiner ehemaligen Kolonie Marokko am hellichten Tage den Marokkaner Mehdi Ben Barka.
Die zutiefst gekränkte gaullistische Majestät trieb Polizei und Justiz zu höchster Aktivität an, die Frevler wider Frankreichs Hoheit dingfest zu machen und den Sistierten aufzufinden - vergebens. Die Entführung Ben Barkas war so gut organisiert wie 1963 die Entführung des OAS-Obersten Argoud, den französische Geheimpolizisten in München aus dem Verkehr zogen und nach Frankreich überstellten.
Denn die Entführer waren die gleichen. Im Fall Argoud arbeiteten sie für de Gaulle, im Fall Ben Barka gegen ihn.
Sie lauerten dem führenden marokkanischen Oppositionspolitiker um 12 Uhr mittags vor dem Treffpunkt der Pariser Snoblesse, dem »Drugstore« gegenüber der Kirche Saint-Germain-des-Prés, auf.
Als Ben Barka in Begleitung des marokkanischen Studenten Azemmouri die wenigen Schritte vom »Drugstore« zum fashionablen Restaurant »Lipp« zurücklegte, sprangen zwei Gestalten aus einer verbotswidrig - geparkten Peugeot-Limousine und baten den Politiker um seine Papiere. Ihrerseits zeigten sie die trikoloregeschmückten Ausweise der französischen Sûreté Nationale vor.
Ebenso plötzlich eilten Spaziergänger herbei, die wie zufällig des Weges kamen. Sie bildeten einen dichten Kordon um Ben Barka und die vermeintlichen Beamten, die den Marokkaner aufforderten, in den wartenden Peugeot 404 zu steigen: »Eine reine Sicherheitsmaßnahme.«
Den von den Passanten abgedrängten Ben-Barka-Begleiter Azemmouri schnauzten die Beamten an: »Du, sieh zu, daß, du verschwindest.« Azemmouri tat, wie ihm geheißen.
Drei Tage später erkundigte sich der Student bei französischen Polizei -Dienststellen nach dem Schicksal Ben Barkas. »Wir haben ihn nicht«; beteuerte Frankreichs Polizei. Erst jetzt wurde klar, daß Ben Barka entführt worden war. Die Entführer hatten drei Tage Vorsprung.
General de Gaulle, der die Proteste der Bundesregierung gegen die Entführung Argouds so lange mit Stillschweigen überging, bis die Deutschen resignierten, schrieb der Mutter des Entführten persönlich einen Trostbrief. Überdies sandte er den Diplomaten Malaud in die Residenz des marokkanischen Königs Hassan II. mit der Aufgabe, dem Monarchen den Zorn des Generals zu übermitteln.
Marokkos Herrscher hatte dem einst zum Tode verurteilten Oppositionschef Ben Barka die königliche Gnade angeboten, falls er in die Heimat zurückkehre. Ben Barka verlangte jedoch auch noch die Entlassung seines persönlichen Gegners, des Innenministers General Oufkir. Der Minister: »Ben Barka und ich sind Todfeinde. Eines Tages fange ich ihn.«
Am 29. Oktober erwartete der Regisseur Franju den Ben Barka in der »Brasserie Lipp« am Pariser Boulevard Saint-Germain. Die beiden wollten gemeinsam einen antikolonialistischen Film drehen. Der Pariser Comic-strips-Verleger Figon plauderte mit marokkanischen Freunden über die bevorstehende Begegnung.
General Oufkir verlor keine Zeit. Zunächst schickte er - am Mittwoch vor der Entführung - seinen Abwehrspezialisten Foutki mit sechs marokkanischen Beamten nach Paris. Sie nahmen im Hotel »Astor« Quartier und heuerten einen Spezialisten an: den Pariser Bordellbesitzer Georges Boucheseche, der sich nach eigenen Worten seit Jahren bemüht, nahe der marokkanischen Hauptstadt »das größte Freudenhaus der Welt« zu errichten. Boucheseche hatte der französischen Geheimpolizei bei der Entführung Argouds gute Dienste geleistet. Er bat seinerseits ein paar alte Kollegen um Mitarbeit.
Am Tag nach der Entführung flog Innenminister General Oufkir nach Paris. In der Villa von Boucheseche verhörte er den gekidnappten Barka eine ganze Nacht lang.
Die Pariser Polizei stellte fest, daß am Sonntagmorgen eine zweimotorige Privatmaschine aus Marokko in Orly gelandet und schon Stunden später - ohne von Zoll oder Grenzpolizei kontrolliert worden zu sein - wieder gestartet war. Wahrscheinlich entflog in dieser Maschine Boucheseche nach Marokko - ob mit oder ohne den sistierten Ben Barka, blieb unbekannt, das Opfer blieb verschwunden.
Charles de Gaulle sah sich über Nacht in ein Catch mit der Unterwelt verstrickt, bei dem es um das höchste Gut der Nation, die Souveränität, geht. Zornbebend ließ er Marokkos König Hassan wissen: Wenn sich eine Beteiligung der Regierung von Rabat an der Entführung Ben Barkas erweisen sollte, werde Frankreich seine Finanzhilfe für Marokko einstellen.
Entführter Marokkaner Ben Barka
12 Uhr mittags vor dem Drugstore