Haiti »Ich folge dem Beispiel Jesu Christi«
SPIEGEL: Herr Präsident, glauben Sie wirklich, daß Sie im Oktober ihr Amt wieder übernehmen können?
Aristide: Ich werde zur Stelle sein.
SPIEGEL: Zuvor müßte General Raoul Cedras abtreten, der Sie vor zwei Jahren gestürzt hat.
Aristide: Das ist unumstößliche Vorbedingung. Auch die Befehlshaber der Armee und der Polizeichef - sie alle müssen vor meiner Ankunft weg sein.
SPIEGEL: Werden die Generäle sich daran halten?
Aristide: Sie müssen, obwohl sie bis heute noch keinen Schritt in diese Richtung getan haben. Vor kurzem hat Cedras einen Priester und einige Helfer verhaften lassen, die nichts weiter verbrochen hatten, als mein Porträt in den Villenvierteln der Hauptstadt zu plakatieren. Er tat das, obwohl er mich als legitimen Präsidenten anerkannt hat.
SPIEGEL: Auch Sie mußten den Militärs Zugeständnisse machen . . .
Aristide: Ich habe bewußt nachgegeben, damit die Demokratie wiederhergestellt werden kann. Den Militärs habe ich noch einmal die Chance zum ehrenhaften Rückzug geboten. Leider haben sie diese Gelegenheit bisher nicht ergriffen, sondern sich weiterhin an Menschen vergangen.
SPIEGEL: Auf Druck der Amerikaner mußten Sie allen Putschisten eine Amnestie versprechen. Wie können Sie jetzt mit Militärs zusammenarbeiten, die Sie so oft als Mörder bezeichnet haben?
Aristide: Ich werde die Anführer des Staatsstreichs nicht ins Gefängnis stecken oder ins Exil schicken, sondern politische Amnestie gewähren. Das schließt nicht aus, daß die Haitianer vor Gericht Klage gegen einzelne Militärs erheben. Wer Verbrechen begangen hat, muß mit Strafe rechnen, wie das in einem Rechtsstaat üblich ist.
SPIEGEL: Haiti war doch nie ein Rechtsstaat. Wenn Staatsanwälte und Richter die Untaten der Militärs nicht verfolgen, besteht dann nicht die Gefahr, daß das Volk wieder Selbstjustiz übt?
Aristide: Wir müssen nein sagen zu Straflosigkeit, aber auch zu Rache und Gewalt. Deshalb soll die Uno helfen, Haitis Streitkräfte auszubilden, eine vom Militär unabhängige Polizeitruppe aufzubauen, die Justiz zu reformieren. Die Haitianer würden Vertrauen gewinnen und nicht länger versuchen, sich selbst Gerechtigkeit zu verschaffen. Noch allerdings ist das System korrupt.
SPIEGEL: General Cedras hat schon gedroht, er werde nicht dulden, daß auch nur ein einziger seiner Offiziere zur Verantwortung gezogen wird. Haben Sie da nicht Angst um Ihr Leben?
Aristide: Nein. Ich folge dem Beispiel Jesu Christi, der sich für seine Brüder und Schwestern geopfert hat. In seiner Nachfolge habe auch ich gelernt, mein Leben hinzugeben. Als Staatschef aber muß ich zuerst dafür sorgen, daß jeder Bürger in Sicherheit lebt; dann wird auch der Präsident sicher sein.
SPIEGEL: Werden Sie also bei Ihrer Heimkehr ans Volk appellieren, damit es nicht gleich wieder zu Rachemassakern kommt wie 1986 nach dem Sturz von »Baby Doc« Duvalier?
Aristide: In der Vergangenheit gaben Provokateure manchmal den Armen Geld, damit sie Häuser anzündeten. Das habe ich immer verurteilt. Die Haitianer kennen ihren Präsidenten, sie wissen, daß ich Rache ablehne.
SPIEGEL: Gerade Ihnen wurde doch vorgehalten, daß Sie als Präsident aufpeitschende Reden hielten mit der kaum verhüllten Aufforderung ans Volk, Ihren Gegnern brennende Autoreifen um den Hals zu hängen.
Aristide: Ich bin stolz, weil alle Menschenrechtsberichte feststellen, daß während meiner Amtszeit die Gewalttaten in Haiti um drei Viertel abnahmen. Ich bin stolz, weil ich der einzige Regierungschef war, der dem Volk eine gewisse Sicherheit geboten hat. Während ich regierte, starb kein einziger Mensch an der Reifentortur.
SPIEGEL: Wenige Tage vor Ihrer Absetzung haben Sie den Armen empfohlen, sich bei den Begüterten zu bedienen.
Aristide: Sie müssen das im Kontext sehen. Ich war gerade aus den USA zurückgekehrt und erfuhr am Flughafen, daß ein Mordkomplott gegen mich geschmiedet worden war. Dem konnte ich gerade noch entgehen. Das zeigt doch klar, welche Seite Gewalt anwendete.
SPIEGEL: Wollen Sie damit sagen, daß auch Ihre Drohung mit den brennenden Autoreifen erst ausgestoßen wurde, als der Putsch gegen Sie im Gang war?
Aristide: Genau das.
SPIEGEL: Ohne die Mitarbeit der Elite wird der Wiederaufbau Haitis nicht möglich sein. Wie wollen Sie die reiche Oberschicht, die den Militärputsch unterstützt hat, dazu bringen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten?
Aristide: Ich habe neulich in Miami haitianische Geschäftsleute getroffen. Wir haben uns brüderlich umarmt, haben uns für Versöhnung und Gerechtigkeit ausgesprochen.
SPIEGEL: Und das reicht, um das Mißtrauen zu überwinden?
Aristide: Die Elite hat gelernt, und auch ich habe dazugelernt.
SPIEGEL: In der Vergangenheit haben Sie kooperationswillige Parteien vor den Kopf gestoßen, weil Sie ausschließlich Ihre Freunde zu Ministern und Beratern ernannten. Diesmal soll die Regierung pluralistischer zusammengesetzt sein.
Aristide: Unser erstes Kabinett hat den Wählerwillen widergespiegelt. 67 Prozent hatten für meine Bewegung Lavalas* gestimmt. Jetzt stehen wir vor einer anderen Situation: Wir wollen uns weit öffnen, verschiedene Parteien einbeziehen, im neuen Kabinett die unterschiedlichsten politischen Führer aufnehmen.
SPIEGEL: Sie haben oft den US-Imperialismus angeprangert, aber Washington hat Sie, den linken Populisten, als rechtmäßig gewählten Präsidenten unterstützt. _(* Kreolisch für Erdrutsch oder Flutwelle ) _((vom französischen »avalanche"). ) Sind Sie zur Freundschaft mit Amerika bekehrt?
Aristide: Heute sehe ich, daß die USA, besonders unter Präsident Clinton, eine gute Beziehung zu mir und meinem Land entwickeln. Darüber bin ich glücklich. Gemeinsam wollen wir daran arbeiten, in Haiti die Demokratie einzuführen. Das ist für die USA der einzige Weg, die Flut haitianischer Flüchtlinge einzudämmen.
SPIEGEL: Clinton hat Ihnen Millionen Dollar für den Wiederaufbau versprochen, 300 amerikanische Sicherheitsberater sollen als Teil eines Uno-Kontingents nach Haiti geschickt werden. Fürchten Sie nicht, zum amerikanischen Protektorat zu werden?
Aristide: Nationalisten, die derlei behaupten, wollen Ausländer raushalten, um den Kuchen für sich zu haben. Natürlich haben wir schlechte Erfahrungen gemacht: Seitdem 1915 die Amerikaner ins Land kamen und 20 Jahre über Haiti herrschten, verfügen wir über eine Armee, die sich als Besatzungsmacht aufführt - 7000 Soldaten, die 40 Prozent des Staatshaushalts kosten und dafür Menschen umbringen.
SPIEGEL: Jetzt aber sind Sie es, der die Amerikaner ruft.
Aristide: Als Ausbilder, nicht als Besatzer. Natürlich sind die dagegen, die fürchten müssen, am Morden, am Drogenhandel und am Schmuggel gehindert zu werden. Sie verstecken ihre wahren Gründe hinter der Flagge Haitis.
SPIEGEL: Das von Ihnen geforderte Embargo, mit dem die USA Ihre Wiedereinsetzung erzwangen, hat Haiti ausgeblutet. Wie wollen Sie die Hoffnung der Ärmsten auf ein besseres Leben erfüllen?
Aristide: Politisches Chaos ist der Ruin jedes Wirtschaftssystems. Wir müssen darauf hinarbeiten, daß Stabilität einkehrt, um Investitionen anzuziehen. Wenn diese Grundbedingung erfüllt ist, können wir versuchen, vom derzeitigen menschenunwürdigen Elend wenigstens zur Armut in Würde zu gelangen.
SPIEGEL: Also werden die Armen ihre Erwartungen dämpfen müssen?
Aristide: Unser Volk hat Geduld gelernt. Ich habe seit meinem Sturz nie mehr das Banner populistischer Versprechungen geschwenkt.
SPIEGEL: Sie haben 23 Monate Exil in Washington hinter sich. Was ist von Ihrem einstigen revolutionären Elan noch übriggeblieben?
Aristide: Wir alle müssen fähig sein, bessere Menschen zu werden. In diesem Sinn: Ja, ich bin ein anderer geworden. Meine Zeit als Geistlicher ist ein abgeschlossener Teil meines Lebens. Ich bedaure es nicht, daß ich von den Salesianern verstoßen wurde. Ich könnte nicht beides zugleich sein, Priester und Präsident. Y
* Kreolisch für Erdrutsch oder Flutwelle (vom französischen"avalanche").