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»Ich habe Antworten«

Bundeskanzlerin Angela Merkel über präsidiale Ermahnungen, das richtige Reformtempo und ihren Kurs in der Außenpolitik
Von Ralf Neukirch, Stefan Aust und Gabor Steingart
aus DER SPIEGEL 2/2006

SPIEGEL: Frau Bundeskanzlerin, Ihr Parteifreund Horst Köhler, im Hauptberuf Bundespräsident, vermisst an Ihrer Politik den »durchdachten, ausgestalteten Überbau, der klarmacht, wie die Welt sich verändert hat und was das Ziel ist«. Hat Sie diese Kritik überrascht, vielleicht sogar verärgert, oder gestehen Sie zu, dass er so unrecht nicht hat?

Merkel: Ich habe den Bundespräsidenten anders verstanden als Sie. Er hat eine gesellschaftliche Diskussion gefordert, wie ich übrigens auch. Er will, dass über die Zusammenhänge gesprochen wird, in denen wir heute leben und arbeiten. Das war ein Appell an alle - an die Politik, die Medien und die Wirtschaft. Ich habe aus diesen Äußerungen keine spezifische Kritik an der Bundesregierung herausgelesen.

SPIEGEL: Dabei hat der Bundespräsident Sie hinreichend deutlich angesprochen. Er griff Ihren in der Regierungserklärung verwendeten Terminus von der »Politik der kleinen Schritte« auf und sagte: »Je kleiner die Schritte, desto mehr Schritte muss man machen.«

Merkel: Das ist keine Kritik. Das ist eine Feststellung, der mit gesundem Menschenverstand kaum zu widersprechen ist. Man kann mit vielen kleinen Schritten zu einem Ziel kommen, und man kann vielleicht auch mit wenigen großen Schritten zu einem Ziel kommen.

SPIEGEL: Die Große Koalition bevorzugt offenbar den Trippelschritt.

Merkel: Bei den kleinen Schritten hat man mehr Trittsicherheit, bei den größeren möglicherweise mehr Geschwindigkeit. Dafür läuft man Gefahr, eine ganz falsche Richtung einzuschlagen. Wichtig ist doch nicht die Schrittlänge, sondern dass das Ziel klar ist.

SPIEGEL: Wie lautet das wichtigste Ziel der von Ihnen geführten Bundesregierung?

Merkel: Ich will, dass wir unseren Wohlstand erhalten können. Wir müssen uns immer wieder klarmachen, dass wir in Deutschland von der Substanz gelebt haben. Nur durch erfolgreiches Wirtschaften können wir das Fundament von Wohlstand und sozialer Sicherheit neu befestigen.

SPIEGEL: Das Land hat ein Jahrzehnt der Reformen hinter sich, in dem viel geredet und wenig bewegt wurde. Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung sind auf Rekordniveau. Viele Regierungsinitiativen wirkten auch deshalb nicht, weil die Globalisierung schneller war als das Reformtempo hierzulande.

Merkel: In einer der jüngsten SPIEGEL-Ausgaben gab es einen sehr interessanten Bericht über die wirtschaftliche Entwicklung in China. Da wurde deutlich, dass wir in Deutschland mit Sicherheit nicht zu schnell reformieren.

SPIEGEL: Deutschland verliert gegenüber Ländern wie China und Indien weiter an Boden. Leben Europäer und Asiaten nicht mittlerweile in einer Welt der zwei Geschwindigkeiten?

Merkel: Wir besitzen im Vergleich zu den genannten Ländern natürlich auch Stärken, die es zu bewahren gilt. Wir haben sehr stabile Konfliktlösungsmechanismen zwischen den Tarifpartnern, wir verfügen über eine sehr gute Verkehrsinfrastruktur, wir bieten unseren Kindern eine sehr gute Bildung, wir haben zwischen Arm und Reich vergleichsweise geringe Unterschiede. Dagegen tun wir uns schwer mit Veränderungen. Ich glaube aber, dass es einer Großen Koalition leichterfallen wird, die Menschen von unvermeidlichen Reformen zu überzeugen als anderen politischen Konstellationen.

SPIEGEL: Hätten Sie mit der FDP als Koalitionspartner ein höheres Reformtempo einschlagen können?

Merkel: Ich gehöre zu den Menschen, die die Realität zur Kenntnis nehmen. Ich stehe nicht jeden Morgen auf und frage mich: Was würde ich jetzt machen, wenn ich Kanzlerin einer schwarz-gelben Bundesregierung wäre? SPD und Union sind bei Strafe ihrer eigenen Schwächung darauf angewiesen, diese Koalition zu einem Erfolg zu führen. Und wir wollen beide den Erfolg.

SPIEGEL: Vor der Wahl standen Sie für ein klares Reformprogramm mit durchaus auch harten Einschnitten und Systemveränderungen. Seither reden Sie eher abstrakt über Veränderungen und flüchten sich gern in aufmunternde Appelle. Jeder solle »ab morgen früh« mehr aus sich herausholen, sagten Sie in Ihrer Neujahrsansprache.

Merkel: Die Rolle der Oppositionsführerin unterscheidet sich von der der Kanzlerin. Wenn diese Regierung Erfolg haben soll, muss ich die Seelenlage sämtlicher Partner berücksichtigen. Das Motto »Mehr Freiheit wagen« ist mir im Übrigen nicht von den Sozialdemokraten auf dem silbernen Tablett angetragen worden.

SPIEGEL: Es war hinreichend wolkig, um niemanden zu empören.

Merkel: Nein. Es war hinreichend klar. Als Regierungschefin muss man stärker die überwölbenden politischen Ziele und Zusammenhänge deutlich machen. Die Bevölkerung hat manche Reform in der vergangenen Legislaturperiode auch deshalb nicht verstanden, weil viel über Details gesprochen wurde, aber der Gesamtzusammenhang oft unsichtbar blieb.

SPIEGEL: Hinter dem Ungefähren verbergen sich ja auch die nicht ausgetragenen Konflikte der Koalition.

Merkel: Seien Sie unbesorgt: Wenn wir auf der Kabinettsklausur in dieser Woche zum Beispiel über die energetische Gebäudesanierung reden oder über die Zukunft der Gesundheitspolitik, werde ich mich auch wieder mit großer Freude ins Detail einmischen.

SPIEGEL: Welche Details - wo doch die Grundzüge der Politik unklar sind? Bei der Gesundheit sind die Parteien seit Jahren über Kreuz. Im Niedriglohnsektor bietet jeder dem Publikum etwas anderes an. Bei der Rente herrscht Einigkeit vor allem darin, dass vorläufig nichts entschieden wird.

Merkel: Sie irren. In der Rentenpolitik hätte auch eine Regierung aus Union und FDP nicht weitergehen können, als wir es getan haben. Wir werden das Renteneintrittsalter

auf 67 Jahre erhöhen und die Vorruhestandsregelung auslaufen lassen.

SPIEGEL: Ehe sie ausläuft, wird sie verlängert. Ein 58-jähriger Arbeitsloser darf sich dem Arbeitsmarkt verweigern und ohne Angabe von Gründen Rente beziehen. Das ist großzügig, teuer und das glatte Gegenteil des allseits beschworenen Prinzips »Fordern und Fördern«.

Merkel: Wir haben diese sogenannte 58er Regelung ein letztes Mal für zwei Jahre verlängert. Leute, die ohnehin keine Chance auf dem Arbeitsmarkt haben, müssen dadurch nicht jede Woche zum Arbeitsamt gehen. Ich halte das für vertretbar. Außerdem laufen die Anreize für den Vorruhestand ja aus, weil die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes gekürzt wurde.

SPIEGEL: Fast ein Drittel des Bundeshaushalts wird schon heute für den Zuschuss zur Rentenversicherung benötigt. Warum sagen Sie nicht: Uns hat schon wieder der Mut gefehlt, auch die Rentner angemessen an der Sanierung der Staatsfinanzen zu beteiligen?

Merkel: Weil es nicht stimmt. Die konsequente Anwendung des Nachhaltigkeitsfaktors wird in den nächsten Jahren zur Absenkung des Rentenniveaus führen. Das ist sehr wohl ein Beitrag der heutigen Rentnerinnen und Rentner zur Generationengerechtigkeit.

SPIEGEL: Hinter Wortungetümen wie »Nachhaltigkeitsfaktor« oder »Nachholfaktor« verbirgt sich doch ein schlichter Sachverhalt: Die Rentner sollen gerade nicht im geplanten Umfang zur Finanzierung der Rentenlücke herangezogen werden. Hätten Sie den Nachhaltigkeitsfaktor wirken lassen, wären die Renten schon jetzt gesunken.

Merkel: Theoretisch hätte man die Renten jetzt kürzen können. Wir haben uns aber politisch dafür entschieden, keine Rentenkürzungen vorzunehmen. Auf der anderen Seite sagen wir den Rentnerinnen und Rentnern aber auch, dass es absehbar keine Rentensteigerungen geben kann. Eine im kommenden Jahr rechnerisch mögliche Rentenerhöhung werden wir dann mit der in diesem Jahr eigentlich fälligen Rentenkürzung verrechnen. Das meint der Nachholfaktor. Ich kenne niemanden, der zum jetzigen Zeitpunkt die Renten gekürzt hätte - auch die FDP nicht.

SPIEGEL: Die Erosion der sozialen Sicherungssysteme geht derweil ungebremst weiter.

Merkel: Das wahre Problem ist doch, dass sich die finanzielle Basis unserer Sozialversicherungen verkleinert, weil die normalen Beschäftigungsverhältnisse schwinden. Wir werden uns also mit der Frage zu befassen haben, wie man Beschäftigung im klassischen Sinne wieder attraktiv machen kann.

SPIEGEL: Wie lautet Ihre Antwort?

Merkel: Wir müssen versuchen, Arbeitskosten und Sozialkosten zu entkoppeln. Ich habe mit Interesse verfolgt, wie der französische Präsident Jacques Chirac in seiner Neujahrsansprache die Herausforderung der Globalisierung thematisiert hat. Statt die Globalisierung zu beklagen, hat er eine Diskussion über die Entkopplung der Arbeitskosten von den Abgaben auf Arbeit angeregt.

SPIEGEL: Die Diskussion darüber wird seit Jahren geführt. Was hindert die politischen Parteien, daraus die Schlüsse zu ziehen?

Merkel: Sie sind ungeduldig, und ich kann das verstehen. Aber Sie unterschätzen die Parteien, die durchaus ihre Schlüsse gezogen haben. Nur braucht man in der Demokratie zum Verändern Mehrheiten. An manchen Stellen sind wir alle in der Vergangenheit sicherlich nicht schnell genug gewesen und haben dafür auch schon den Preis bezahlt, nämlich in Form des Verlustes weiterer Arbeitsplätze. Ich setze aber darauf, dass wir in der Großen Koalition in der Gesundheitspolitik die Entkoppelung von den Löhnen deutlicher als je zuvor zustande bringen.

SPIEGEL: Wie könnte ein Modell aussehen, dem Union und SPD gleichermaßen zustimmen?

Merkel: Das Modell, von dem die CDU unverändert glaubt, dass es den sachlichen Anforderungen gerecht wird, ist die Gesundheitsprämie ...

SPIEGEL: ... die von vielen Experten empfohlen wird, aber schon bei den Unionsparteien auf Ablehnung und zum Teil auch auf erbitterten Widerstand stößt. In diesem Modell zahlt jeder Versicherte zunächst den gleichen Beitrag. Der Sozialausgleich findet dann über Steuern statt. Die SPD sagt: Nicht mit uns. Wollen Sie auf der Kabinettsklausur in Genshagen einen Beschluss erzwingen?

Merkel: Ich will grundsätzlich nichts erzwingen, sondern sachlich tragfähige Ergebnisse. Dazu will ich eine unideologische Diskussion über die Fragen führen: Woher kommen die Einnahmen? Ist das heutige System gerecht? Wie entwickeln sich die Ausgaben? Ist das Ganze wettbewerbsfreundlich und transparent? Zumindest für das Modell der Gesundheitsprämie kann ich als CDU-Vorsitzende sagen: Ich habe Antworten. Ich will jetzt einen Prozess organisieren, an dessen Ende eine tragfähige Lösung der Großen Koalition steht.

SPIEGEL: Sie haben auch schon eine Kompromissidee im Hinterkopf?

Merkel: Wir müssen uns die Entstehung unseres Gesundheitssystems klarmachen. Damals sagte man: Die Gutverdiener und die Selbständigen können das Risiko der Krankheit allein tragen. Die solidarische Krankenversicherung wurde für die große Mehrheit der normalen Beschäftigten konzipiert. Heute erleben wir, dass immer weniger Menschen mit sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung die Solidarversicherung finanzieren. Die Kosten zum Beispiel der medizinischen Versorgung von Kindern aber bleiben bei dieser kleiner werdenden Zahl der gesetzlich versicherten Kassenpatienten.

SPIEGEL: Ihre Schlussfolgerung?

Merkel: Ich frage mich, ob es noch gerechtfertigt ist, dass für die Gesundheit der Kinder nur diejenigen zahlen, die einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nachgehen. Und dann auch nur mit Einkünften unter der Beitragsbemessungsgrenze von 3500 Euro. Warum soll nicht der gesamte Verdienst eines Menschen in Form von Steuern herangezogen werden? Es gibt inzwischen auch in der SPD eine breite Diskussion darüber.

SPIEGEL: Sie plädieren also für einen Gesundheitssoli, richtig?

Merkel: Ich möchte, dass sich alle mit ihrem gesamten Einkommen an den Gesamtkosten des Systems beteiligen. Ich bin sicher, dass sich bei sachlicher Diskussion herausstellen wird, dass die zum Teil sehr hochgepushten Differenzen zwischen den Parteien gar nicht so groß sind.

SPIEGEL: Sie untertreiben. Auch beim Kombi-Lohn, also der Idee, über staatliche Lohnzuschüsse einen Niedriglohnsektor einzurichten, ist Einigkeit zwischen den drei Koalitionsparteien nicht in Sicht. Wo steht die Kanzlerin - bei den Widerständlern oder den Befürwortern des Projekts?

Merkel: Die Frage lautet: Gäbe es in Deutschland einen Markt für bestimmte Tätigkeiten, wenn man zuließe, dass der Beschäftigte weniger verdient, als er zum Leben braucht?

SPIEGEL: SPD und DGB sprechen von Hungerlöhnen.

Merkel: Wenn es einen solchen Markt für geringbezahlte Tätigkeiten gibt, dann sollte man darüber nachdenken, wie man solche Tätigkeiten durch staatliche Hilfen attraktiver macht. Denn natürlich muss der Beschäftigte von seinem Lohn leben können. Hungerlöhne oder Dumpinglöhne sind mit uns nicht zu machen. Aber er kann ja einen kombinierten Lohn bekommen, bei dem das privat gezahlte Entgelt staatlich aufgebessert wird.

SPIEGEL: Senken die Arbeitgeber dann nicht automatisch die unteren Lohngruppen weiter ab, um die staatlichen Zuschüsse zu bekommen?

Merkel: Deshalb muss jede ernsthafte Debatte über Kombi-Löhne eine zweite Frage beantworten: Brauchen wir in Deutschland einen Mindestlohn? Denn natürlich wäre es nicht hinnehmbar, wenn die Tariflöhne beliebig sinken. Der Staat darf sich nicht in ein finanzielles Abenteuer stürzen, das den Betroffenen am Ende wenig bringt.

SPIEGEL: Sie sagen also: Wenn schon, denn schon? Kombi-Lohn und Mindestlohn gehören zusammen wie ein Zwillingspaar?

Merkel: Wir dürfen nicht zulassen, dass in Deutschland Jobs für 50 Cent Stundenlohn angeboten werden, und den Rest regelt der Steuerzahler. Wir wollen schließlich Arbeitsplätze schaffen und keinen Selbstbedienungsladen für findige Unternehmer eröffnen.

SPIEGEL: Genau das befürchtet Ihre Schwesterpartei CSU in Gestalt Ihrer Kabinettsmitglieder Horst Seehofer und Michael Glos. Der Wirtschaftsminister will allenfalls zeitlich und örtlich eingegrenzte Modellversuche zulassen. Realist oder Hasenfuß?

Merkel: Wenn ich einen Modellversuch mache und ihn zeitlich befriste, werde ich nie herausbekommen, ob es wirklich Märkte mit zusätzlicher Beschäftigung gibt. Eine Lösung im Niedriglohnsektor kann kein befristetes Sonderprogramm sein. Die Grundfragen, die wir hier angerissen haben, sind doch noch gar nicht diskutiert worden, auch nicht bei der CSU-Klausurtagung in Wildbad Kreuth. Ich will eine umfassende Diskussion.

SPIEGEL: Sie würden für Ihre Positionen auch einen Koalitionskrach riskieren?

Merkel: Es geht nicht um einen Krach, wie Sie sagen, sondern um eine sinnvolle Beratung der Argumente für und wider. Wenn wir keine unterschiedlichen Meinungen über den Niedriglohnsektor hätten, brauchten wir keine Debatte.

SPIEGEL: In der Außenpolitik allerdings herrscht eine große, für viele auch befremdliche Harmonie, weil hier die Unterschiede einst am größten waren. Das Verhältnis zu Amerika blieb distanziert, das zu Russland freundlich. Wo sehen Sie noch Unterschiede zur SPD?

Merkel: Ich arbeite mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier hervorragend zusammen. Ich kann nicht ausschließen, dass wir irgendwann einmal unterschiedlicher Meinung sein werden. Im Augenblick aber freue ich mich, dass das nicht der Fall ist.

SPIEGEL: Sie reisen in dieser Woche nach Amerika. Werden Sie das Thema Folter gegenüber George W. Bush ansprechen?

Merkel: Partner wie USA und Deutschland müssen immer über alle Fragen reden, auch über solche Fragen. Ich finde es sehr erfreulich, dass nicht nur in Deutschland eine Diskussion über legitime Methoden bei Verhören und Befragungen stattfindet, sondern auch in den USA. Ich finde es noch erfreulicher, dass sich Präsident und Kongress auf eine gemeinsame Haltung geeinigt haben. Das ist eine Veränderung der gesellschaftlichen Diskussion in den Vereinigten Staaten, die ich sehr begrüße.

SPIEGEL: Die US-Regierung hält es für legitim, Häftlinge so lange unter Wasser zu halten, bis sie glauben zu ersticken. Ist das akzeptabel für Sie?

Merkel: In Deutschland haben wir eine ähnliche Diskussion im Zusammenhang mit der Entführung des Metzler-Sohns geführt. Da ging es um die Frage, ob man Folter androhen oder anwenden darf, um das Leben eines Kindes zu retten. Die gesellschaftliche Diskussion hat gezeigt, dass für die überwältigende Mehrheit der Bürger selbst dann der Zweck nicht die Mittel heiligt. Das ist auch meine Position.

SPIEGEL: Teilen Sie die Meinung Ihres Innenministers Wolfgang Schäuble, dass man im Kampf gegen den Terror auch Informationen nutzen muss, die möglicherweise unter Folter gewonnen wurden?

Merkel: Nicht in Strafverfahren. Solche unter zweifelhaften Umständen gewonnenen Erkenntnisse können in einem rechtsstaatlichen Prozess keine Rolle spielen. Aber bei der Gefahrenabwehr muss alles berücksichtigt werden, was vorliegt. Was wollen Sie sonst machen, wenn Geheimdienste anderer Länder Informationen übermitteln, über deren Herkunft wir keine abschließende Aussage treffen können? Einfach ignorieren? Das geht nicht. Wir haben die Verpflichtung, die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten.

SPIEGEL: Dürfen zur Gefahrenabwehr auch deutsche Beamte in das Gefangenenlager Guantanamo geschickt werden, um Häftlinge zu verhören?

Merkel: Eine Institution wie Guantanamo kann und darf auf Dauer so nicht existieren. Es müssen Mittel und Wege für einen anderen Umgang mit den Gefangenen gefunden werden. Das steht für mich außer Frage.

SPIEGEL: Werden Sie auch Guantanamo bei Präsident Bush thematisieren?

Merkel: Wir werden mit Sicherheit über die gesamte Frage der Terrorismusbekämpfung sprechen. Ich lege aber Wert darauf, und das werde ich bei meinem Besuch auch deutlich machen, dass unser Verhältnis zu den USA nicht auf die Fragen von Terrorbekämpfung und Irak-Krieg reduziert wird. Die deutsch-amerikanischen Beziehungen waren über Jahre so gut, weil sie tief in das normale Leben der Menschen gereicht haben.

SPIEGEL: Früher hat vor allem Ihre Partei von der deutsch-amerikanischen Freundschaft gesprochen. Jetzt ist nur noch von Beziehungen die Rede. Eine bewusste Herabstufung?

Merkel: Ich bitte Sie! Ich kann auch »Freundschaft« sagen: die deutsch-amerikanische Freundschaft! Besser? Es geht doch nicht um Wortklauberei. Ich will Qualität und Substanz des deutsch-amerikanischen Verhältnisses wieder verbessern.

SPIEGEL: Beschreibt Freundschaft auch das deutsch-russische Verhältnis?

Merkel: Da trifft eher der Begriff der strategischen Partnerschaft zu. Ich glaube, dass wir mit Russland noch nicht so viele Wertvorstellungen teilen wie mit Amerika. Auf der anderen Seite haben wir ein hohes Interesse daran, dass sich Russland in einer vernünftigen Weise entwickelt.

SPIEGEL: Ist Wladimir Putin für Sie »ein lupenreiner Demokrat«, wie ihn Ihr Amtsvorgänger einmal genannt hat?

Merkel: Ich wünsche mir, dass Russland einen möglichst demokratischen Entwicklungsweg nimmt. Bei der Beurteilung Russlands müssen wir uns allerdings klarmachen, woher das Land kommt. Man kann unsere Vorstellungen von Demokratie nicht schematisch übertragen. Ich gebe aber zu, dass es Entwicklungen gibt, die mir Sorgen machen, zum Beispiel die neuen Gesetze gegen Nichtregierungsorganisationen.

SPIEGEL: Putin hat im Streit mit der Ukraine das russische Gas als politische Waffe eingesetzt. Wie sollte der Westen reagieren?

Merkel: Ich glaube, dass uns in den vergangenen Tagen sehr bewusst geworden ist, wie hochpolitisch eine eigentlich wirtschaftliche Frage ist, nämlich der Kauf und die Lieferung von Gas. Ich habe den Eindruck, dass der russische Präsident das in den letzten Tagen gespürt hat.

SPIEGEL: Was ist Ihre politische Schlussfolgerung aus den Ereignissen?

Merkel: Erstens brauchen wir gute, stabile Beziehungen zu Russland. Zweitens müssen wir alles daransetzen, Energie zu sparen und auf eine Energieversorgung aus verschiedenen Quellen zu setzen. Wir dürfen uns nicht in eine Abhängigkeit begeben.

SPIEGEL: Das heißt, Sie wollen weg vom russischen Gas?

Merkel: Wir werden auf russisches Gas dauerhaft angewiesen sein. Aber eben nicht allein und nicht zu sehr. Wir brauchen eine klare Vorstellung davon, woher unsere Energie in den nächsten Jahrzehnten kommen soll.

SPIEGEL: Ist das eine Frage, die man besser europäisch löst?

Merkel: Die EU wird sich auch mit diesem Thema befassen müssen. Das ist eine Frage von enormer ökonomischer und politisch-strategischer Bedeutung.

SPIEGEL: Ihr erster Einsatz als Kanzlerin auf der EU-Bühne beim Europäischen Rat in Brüssel ist international als Erfolg gewertet worden. Allerdings kommt der von Ihnen mitausgehandelte Kompromiss die Deutschen teuer zu stehen. Die Nettozahlungen erhöhen sich um zwei Milliarden Euro im Jahr. Ist das der Preis, den die gute Europäerin Merkel kalkuliert hat?

Merkel: Der Abschluss im Dezember 2005 ist ein gutes Ergebnis für Europa und Deutschland. Europa hat seine Handlungsfähigkeit bewiesen und kann sich jetzt voll der Aufgabe zuwenden, seine Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Deutschland zahlt sogar noch weniger, als der im Juni 2005 von Premierminister Jean-Claude Juncker vorgelegte Kompromiss vorgesehen hätte. Die deutschen Bruttoabführungen werden ab 2007 unsere selbstgesetzte Zielmarke von einem Prozent des jährlichen Bruttonationaleinkommens deutlich unterschreiten. Deutschland wird wie die anderen Nettozahler auch solidarisch seinen Beitrag zu der erweiterten Union leisten, deshalb werden die Rückflüsse bei den Strukturmitteln geringer ausfallen als in der vorangegangenen Finanzperiode. Es wäre weltfremd, zu glauben, dass wir mit zehn neuen Mitgliedstaaten aus Ost- und Mitteleuropa weniger zahlen und mehr zurückbekommen.

SPIEGEL: Wie sehen Sie die Erfolgsaussichten für die europäische Verfassung, die im vergangenen Jahr in diversen Volksbefragungen scheiterte?

Merkel: Einzelne Teile dieser Verfassung in Kraft setzen und andere liegen lassen - ohne zu wissen, wo man hin will -, das geht nicht. Dadurch würde die Gesamtbalance empfindlich gestört. Deshalb müssen wir jetzt noch einmal eine umfassende Diskussion führen. Ich fände es gut, wenn am Ende Europa den Gedanken eines Verfassungsvertrags beibehielte. Ich werde dafür werben.

SPIEGEL: Sehen Sie eine Chance, die Frage in der deutschen Präsidentschaft 2007 zu klären?

Merkel: Die Chance sehe ich, aber dazu bedarf es noch vieler Diskussionen. Es geht ja nicht allein um die Bedenken in Frankreich und Holland. In Großbritannien und sogar in den skandinavischen Ländern spüre ich massive Vorbehalte, die es zu überwinden gilt.

SPIEGEL: Aber wie?

Merkel: Durch Zuhören, durch Gespräche, durch Überzeugungsarbeit und durch wirtschaftliche Erfolge. Wir brauchen in Europa mehr wirtschaftliche Dynamik, mehr Arbeitsplätze, mehr Innovation, mehr Zuversicht.

SPIEGEL: Täuscht der Eindruck, dass die Außenpolitik für Sie hohe Priorität genießt, womöglich auch, um der innenpolitischen Tristesse zu entkommen?

Merkel: Ja, Ihr Eindruck täuscht. Die Ereignisse haben uns gezwungen, außenpolitisch zu agieren. Denken Sie nur an das Verhandlungsmarathon beim Europäischen Rat: Weil die finanzielle Vorausschau auf der Tagesordnung stand, war die Bedeutung des Treffens größer und die außenpolitische Wahrnehmung stärker als sonst. Im März bin ich erst 100 Tage im Amt. Ich bin sicher, wenn Sie dann zurückschauen, werden Sie eine ausgewogene Bilanz vorfinden, zu der auch innenpolitische Erfolge gehören.

SPIEGEL: Zumindest präsentiert sich Ihre Drei-Parteien-Koalition an der Spitze als Harmonieverein. Diese demonstrative Zuneigung der Parteivorsitzenden und der Fraktionschefs wirkt, zumal nach den aggressiv geführten Wahlkämpfen, arg gekünstelt. Was ist gespielt: die heutige Harmonie oder die damalige Aggressivität? Oder beides?

Merkel: Wir spielen nichts vor. Außerdem treffe ich dauernd Bürger, die mir sagen: Bleibt bloß dabei, dass ihr euch nicht dauernd streitet! Es gibt ein großes Harmoniebedürfnis im Volk. Auf der anderen Seite wollen die Parteien unterscheidbar bleiben. Sie lieben den Konflikt. Beides - Harmoniestreben und die Lust am politischen Wettstreit - muss jeden Tag in ein Gleichgewicht gebracht werden. Darin liegt die Kunst.

SPIEGEL: Verträgt sich die Aufgabe als CDU-Parteivorsitzende tatsächlich dauerhaft mit Ihrem Regierungsamt? Der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff hat bereits Zweifel angemeldet. Für das Profil der CDU seien jetzt andere zuständig - zum Beispiel er.

Merkel: Wenn ich als CDU-Vorsitzende und Bundeskanzlerin dieses Spannungsfeld selbst täglich durchlebe, kann ich es auch am besten artikulieren und ausgleichen. Die Partei leidet nicht, sondern profitiert. Ich muss mich doch auch in diesem hohen Amt nicht verbiegen und behaupten, dass ich die Gesundheitsprämie für falsch hielte. Unterschiede dürfen und müssen erkennbar sein - in Maßen. Aber natürlich können CDU, CSU und SPD jetzt nicht vier Jahre lang einfach nur ihre Unterschiede kultivieren.

SPIEGEL: Die Oppositionsführerin Merkel klang wie eine Überzeugungstäterin, die Regierungschefin schlägt sofort milde Töne an. Trifft der Satz Joschka Fischers auch auf Sie zu: Das Amt verändert die meisten Politiker stärker als sie das Amt?

Merkel: Ich kann an mir keine Veränderung dieser Art feststellen. Ich wollte nie Bundeskanzlerin werden, nur um des Amtes willen. Unterschätzen Sie nicht meinen Gestaltungswillen.

SPIEGEL: Frau Bundeskanzlerin, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Beim Empfang der Sternsinger im Bundespräsidialamt am vergangenen Freitag. * Ralf Neukirch, Stefan Aust und Gabor Steingart in Merkels Büro am vergangenen Donnerstag.

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