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Artikel 53 / 83

»Ich habe Bismarck studiert und bewundert«

aus DER SPIEGEL 31/1978

SPIEGEL: Was steckt nach Ihrer Ansicht hinter der massiven russischen Rüstung? Präsident Carter hat in Annapolis erklärt, daß die Russen weit über ihre natiirlichen Sicherheitsbedürfnisse hinaus aufrüsten. Wer bestimmt denn, was ihre natürlichen Bedürfnisse sind?

KISSINGER: Natürlich muß man sich fragen, was die Sowjets für ihre natürlichen Sicherheitsbedürfnisse halten.

SPIEGEL: Uns haben sie des öfteren wissen lassen, sie müßten so stark sein wie der Westen plus China plus Iran.

KISSINGER: Nun ja, die Sowjet-Union hat als Erbe der russischen Geschichte wahrscheinlich ein sehr hoch entwickeltes Gefühl der Unsicherheit. Und das führt dann zu der Vorliebe für Waffen.

Hinzu kommt die paradoxe Tatsache, daß die kommunistischen Staaten wirklich keinen normalen Entscheidungsprozeß kennen, sondern lediglich den Wettstreit der bürokratischen Kräfte. Und in diesem Wettstreit verfügt das militärische Establishment stets über eine sehr laute Stimme.

Wenn Sie sich außerdem noch die kommunistische Industrie, die wirtschaftliche Entwicklung unter dem Kommunismus ansehen, dann ist das im allgemeinen ganz gewiß nicht der spektakulärste Erfolg des kommunistischen Systems. Man könnte sogar sagen, daß die kommunistischen Systeme lediglich auf einem einzigen Gebiet besser sind als die anderen, nämlich in der Anhäufung von Waffen. Und es gibt nun einmal die nahezu unausweichliche Tendenz, einfach das fortzusetzen, was eine Nation am besten kann.

SPIEGEL: Eine sehr verblüffende Deutung der russischen Rüstungsanstrengungen.

KISSINGER: Wie auch immer, ich glaube nicht, daß es einen festen Plan für die Weltherrschaft gibt. Ich glaube zum Beispiel auch nicht, daß die Römer einen Plan zum Aufbau des Imperium Romanum hatten. Die römische Geschichte lehrt eigentlich eher, daß sich das Ganze nach und nach aus sich heraus entwickelte. Im Laufe der Zeit wurden sie, auch ohne festen Plan, so übermächtig, daß sie schließlich doch ein Imperium schaffen konnten.

SPIEGEL: Sehen Sie ein Sowjet-Imperium. vergleichbar dem römischen?

KISSINGER: Ich halte die langfristige geopolitische Position der Sowjet-Union nicht für überragend. Die langfristigen innenpolitischen Aussichten der Sowjet-Union sind ebenfalls nicht überragend. Deshalb muß die Versuchung, den innenpolitischen Ausbau durch außenpolitische Erfolge zu ersetzen, sehr groß sein.

Und sehr bald werden sie auch die Mittel dazu haben, jetzt schon sind ihre Mittel sehr beachtlich. Vor fünf oder zehn Jahren wären sie ganz bestimmt nicht in der Lage gewesen, Waffen im Werte von einer Milliarde Dollar innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne nach Äthiopien zu transportieren.

Wenn ich also sage, daß sie keinen festen Plan haben, dann bedeutet das nicht, daß sie nicht die Macht haben werden, jene Gelegenheiten zu ihren Gunsten zu nutzen, die eine revolutionäre Welt nun einmal unausweichlich bietet.

SPIEGEL: 36 Prozent Ihrer amerikanischen Landsleute glauben, der Osten sei dem Westen bereits militärisch überlegen. Davon kann aber doch gar keine Rede sein.

KISSINGER: Das glaube auch ich nun wirklich nicht. Man muß sich doch nur die potentielle Stärke des Westens ansehen. Wenn die Sowjets uns jemals zu einer wirklichen Mobilisierung unserer Ressourcen zwingen würden, dann könnten wir sie leicht überbieten. Und deshalb gibt es eine Grenze, über die uns die Sowjets nur sehr ungern werden treiben wollen, selbst wenn ihre einsatzbereiten Streitkräfte größer wären als unsere. Es sei denn, sie wollten uns völlig vernichten -- und ich glaube nicht, daß sie das könnten.

SPIEGEL: Wollen sie das denn?

KISSINGER: Alles auf eine Karte zu setzen, liefe im übrigen auch der kommunistischen Philosophie zuwider, wonach die Geschichte auf seiten der Kommunisten steht. Ich glaube, daß es um unsere potentielle Stärke und sogar um unsere aktuelle Stärke gar nicht so schlecht bestellt ist.

SPIEGEL: Die Russen sehen das wie Sie. Sie sagen selbst, sie seien den Amerikanern weltweit unterlegen. Und sie sagen, sie könnten das nur wettmachen, indem sie in Europa durch ihre Panzer-Massierung eine örtliche Überlegenheit behaupten, die dann Teil des allgemeinen Kräfteverhältnisses, des sogenannten Gleichgewichts ist.

KISSINGER: Ich glaube, daß die sowjetische Aufrüstung allmählich einen Punkt erreicht, der es den Russen in absehbarer Zeit ermöglichen wird, nicht nur Europa. sondern viele andere Gebiete gleichzeitig zu bedrohen. Und das ist etwas, worauf wir sehr genau aufpassen müssen.

SPIEGEL: Macht die Stationierung der neuen russischen SS-20-Raketen westliche Gegenmaßnahmen erforderlich?

KISSINGER: Ich habe schon in meinem ersten Buch und in meinem ersten SPIEGEL-Gespräch...

SPIEGEL: Das war 1959.

KISSINGER: ... erklärt und stets daran festgehalten, daß die Zeit zu Ende geht, in der sich Europa auf weit entfernte Waffen oder Truppen verlassen kann. Und ich bin stets davon überzeugt gewesen, daß dem regionalen Gleichgewicht in Europa zunehmend größere Bedeutung zukommt. »Ich habe niemals an eine Wunderwaffe geglaubt.«

SPIEGEL: Das würde bedeuten, die Russen müssen ihre Panzer zurücknehmen, oder der Westen muß ihnen etwas Gleichwertiges entgegenstellen.

KISSINGER: Ja. Aber natürlich gibt es eine bestimmte Mindestentfernung für einen Rückzug. Denn wenn sie zum Beispiel nur um 600 Kilometer zurückgezogen werden, dann (lauert es nicht allzu lange, sie wieder an die Front zu bringen. Mit anderen Worten, man kann das Gleichgewicht nicht nur auf sowjetischem Rückzug aufbauen; zur gleichen Zeit müssen die westlichen Streitkräfte verstärkt werden, um das Gleichgewicht zu erreichen.

SPIEGEL: Wären denn die 11 000 Cruise Missiles, die Amerika vielleicht bauen wird, etwas, womit die Russen zu rechnen hätten?

KISSINGER: Ich habe niemals an eine einzige Wunderwaffe geglaubt. Tatsache ist, daß ich die Cruise Missiles gerettet habe, als das Pentagon sie 1973 aus dem Budget streichen wollte. Ich bin also dafür. Aber ich glaube nicht, daß man sagen sollte, einzig und allein die Cruise Missiles könnten das Gegengewicht zur SS-20 sein. Wichtig ist die grundsätzliche Entscheidung, daß es überhaupt ein Gegengewicht zur SS-20 geben wird.

SPIEGEL: Das Argument war nur: Wenn ihr eine neue Waffe bringt, bringen wir auch eine neue Waffe.

KISSINGER: Sicher, das kann ein Cruise Missile sein, das kann eine ballistische Rakete sein. Ich bin sehr dafür, grundsätzlich zunächst prinzipiell zu entscheiden, was man versuchen will. Wie man das dann technisch erreicht, ist die zweite Frage. Ich bin ganz und gar nicht gegen die Cruise Missiles. Aber sie sind nur eine Möglichkeit, man kann sich auch andere Waffen vorstellen.

SPIEGEL: Sie erwähnten eben die sowjetische Lufttransport-Kapazität und sagten, eine Luftbrücke wie jetzt nach Äthiopien hätten die

Russen vor ein paar Jahren noch nicht organisieren können. Sind sie den Amerikanern etwa inzwischen überlegen in der Fähigkeit, Truppen oder Material in kurzer Frist über große Entfernungen zu transportieren?

KISSINGER. Zunächst einmal müssen Sie bedenken, daß die Entfernung zu den meisten strittigen Gebieten für die Russen viel kürzer ist als für uns. Unsere Airlift-Kapazität ist wahrscheinlich nach wie vor überlegen, wenn man einfach die Zahl der Maschinen und ihre Kapazität in Rechnung stellt. Aber wenn man auch die Entfernung zu jenen Gegenden mit in Betracht zieht, die möglicherweise umstritten sein werden, dann sind sie unserer Kapazität schon sehr nahe gekommen.

SPIEGEL: Die Russen nun wieder sagen, im amphibischen Bereich seien sie den USA allenthalben unterlegen. Und eigentlich ist der Beweis des Gegenteils nicht erbracht.

KISSINGER: Nun, wie wollen Sie das beweisen? Sie müssen dann schon einen Krieg verlieren ...

SPIEGEL: Noch wird nur argumentiert. Aber was, denken Sie, steckt hinter der riesigen sowjetischen Flottenrüstung? Ist das ein Tirpitz-ähnlicher Wahn, der die Russen hinaus auf die See treibt, eine Art Nachholbedarf, oder meinen die Russen, daß sie diese schimmernde Wehr für ihre weltpolitische Rolle nötig haben?

KISSINGER: Von allen sowjetischen Rüstungsanstrengungen beunruhigt mich ihr Flottenbau eigentlich am wenigsten, insbesondere was ihre Überwasser-Einheiten angeht. Für ein Land, das keine Seetradition hat, ist es sehr schwer, eine beherrschende Position zur See zu erreichen.

SPIEGEL: Bär bleibt Bär? KISSINGER: Schließlich hat auch Deutschland mit seiner langen und hervorragenden militärischen Tradition seine Überwasser-Flotte strategisch niemals effektiv angelegt und eingesetzt.

SPIEGEL: Deutschland saß im nassen Dreieck, und die Russen sitzen im Fjord von Murmansk?

KISSINGER: So etwa wollte ich es gerade sagen. Wenn Sie bedenken, daß ein großer Teil der sowjetischen Kriegsmarine, die Nordmeer-Flotte, in einem einzigen Hafen, in Murmansk, stationiert ist -- ich will nicht sagen. daß die sowjetische Marine unbedeutend ist, aber ich glaube doch, daß wir in einem Seekrieg sehr entscheidende geopolitische Vorteile hätten.

SPIEGEL: Aber der Anspruch, den die Russen an sich selbst stellen, wenn sie auf allen Weltmeeren präsent sind. könnte sie natürlich dazu verleiten, in Dinge einzugreifen, von denen sie sonst die Finger gelassen hätten.

KISSINGER: Ja, es gibt ihnen die Möglichkeit, ihre Macht in Gebieten zur Schau zu stellen, in denen sie das früher nicht konnten. Es gibt ihnen die Fähigkeit zu Interventionen, die sie sonst nicht hätten. Es gibt ihnen die Möglichkeit zu Störaktionen, die sie sonst nicht hätten -- ihre U-Boote nicht einmal berücksichtigt, deren Stärke ich höher einschätze als ihre Überwasser-Kapazität.

»Die Sowjet-Union scheut eine direkte Konfrontation mit den USA.«

SPIEGEL: Aber Flottenpräsenz über Wasser ist sichtbar und verpflichtet. Die Russen können kaum noch sagen, da und dort können wir nicht eingreifen, das ist zu weit weg.

KISSINGER: Eingreifen können sie mit Flugzeugen besser als mit Schiffen. Und im übrigen sollte man den Sowjets nach allen Erfahrungen nicht zu viel Kredit geben. Es ist ganz gewiß nicht ausgeschlossen, daß auch die Sowjets bei der Aufstellung ihres Militär-Budgets die Mittel so auf die einzelnen Teilstreitkräfte aufteilen, wie man das aus anderen Ländern kennt: nach dem bürokratischen Gewicht der einzelnen Bewerber. Und so könnte es also sein, daß sie Gerät bauen, für das es gar keine dringenden geopolitischen Notwendigkeiten gibt. Warum sollten sie immun gegen solche bürokratischen Bazillen sein?

SPIEGEL: Ist es denkbar, daß der Westen im Hinblick auf Rußlands Rüstung falschen Beobachtungen oder falschen Einschätzungen unterliegt, daß wir möglicherweise geneigt sind, die russische Rüstung zu überschätzen, so wie zum Beispiel die Rüstung der deutschen Luftwaffe vor Kriegsbeginn total überschätzt wurde, als die Engländer glaubten, Hitler habe 10 000 Flugzeuge, er in Wirklichkeit aber nur 2500 hatte?

KISSINGER: Ja, obwohl die gar nicht so wenig erreicht haben. Im Ernst, es ist durchaus möglich, daß die Effizienz der sowjetischen Streitkräfte keineswegs so hoch ist, wie man es rein der Zahl nach annehmen würde. Hinzu kommt, daß der Westen mit Sicherheit bei den Flugzeugen und wahrscheinlich bei vielen anderen Waffen technologisch überlegen ist. Das alles trägt dazu bei, einen Teil des Gleichgewichts herzustellen.

Es muß schließlich einen Grund dafür geben, warum die Sowjet-Union zu keiner Zeit nach dem Kriege jemals das Risiko einer direkten Konfrontation mit den Vereinigten Staaten eingegangen ist, sobald sie erst einmal erkannt hatte, daß bestimmte Aktionen eben diese direkte Konfrontation zur Folge haben würden. Die Sowjets haben im allgemeinen nur da etwas unternommen, wo es zweifelhaft war, ob es zu einer Konfrontation kommen würde.

»Der Westen muß seine militärische Kapazität verstärken.«

Aber unabhängig von all dem, was ich eben gesagt habe, glaube ich dennoch folgendes: Wenn die sowjetische Militärmacht in den kommenden zehn Jahren so weiterwächst, wie sie in den vergangenen zehn Jahren gewachsen ist, dann werden dadurch militärische Realitäten geschaffen, die auch politische Folgen haben müssen. Der Westen muß deshalb unter allen Umständen seine militärische Kapazität verstärken.

SPIEGEL: Hier in Washington wird oft argumentiert, man müsse den Russen gegenüber mehr Härte zeigen. Das Argument läuft dann etwa so: Die Trumpfkarte der Russen ist die militärische Macht, die Trumpfkarten des Westens sind die Wirtschaft und der technologische Fortschritt. Wenn die Russen nicht mehr Entgegenkommen auf militärischem Gebiet zeigten, etwa in Afrika, müsse der Westen eben die wirtschaftliche Trumpfkarte ausspielen.

KISSINGER: Es ist stets ein Fehler, von einer Karte, die man in der Hand hält, als einer Trumpfkarte zu sprechen.

Was in der Außenpolitik am schwersten zu verstehen ist, ist die Tatsache, daß sie sich über lange Zeiträume erstreckt und daß es keine entscheidenden Einzelaktionen gibt. Ich habe allerdings in diesem Zusammenhang stets die Auffassung vertreten, daß es durchaus eine Beziehung gibt zwischen der wirtschaftlichen Hilfe, die der Sowjet-Union direkt oder indirekt gewährt wird, und ihrem politischen, insbesondere ihrem außenpolitischen Verhalten. Ob das allein entscheidend ist oder nicht, läßt sich weder abstrakt noch theoretisch beantworten. Aber es ist etwas falsch an unserer Politik, wenn der Westen

die militärische Expansion der Sowjet-Union finanziert.

SPIEGEL: Gilt das auch für die 13,8 Millionen Tonnen Getreide, die Moskau im vorigen Jahr in den USA kaufen mußte und zu Vorzugspreisen bekam? Die US-Farmer haben auch eine Lobby.

KISSINGER: Ich bin immer dafür eingetreten ...

SPIEGEL: ... wenn auch nicht sehr erfolgreich?

KISSINGER: ... den Verkauf landwirtschaftlicher Produkte mit dem außenpolitischen Verhalten zu koppeln.

SPIEGEL: Während Ihres Aufenthaltes in Hamburg im Mai äußerten Sie, es sei wichtig, mit Breschnew Fraktur zu reden. Wie hat man sich das vorzustellen? Wie kann man das?

KISSINGER. Ich würde das nicht so formulieren, ich weiß nicht einmal, wie man »Fraktur reden« übersetzen sollte.

SPIEGEL: »To talk plain English« vielleicht?

KISSINGER: Ich halte es für wichtig, daß es keine Zweideutigkeiten gibt. Denn die schaffen zwangsläufig Versuchungen, uns auf die Probe zu stellen. Da die Sowjets ihre Politik im allgemeinen mit einiger Sorgfalt machen und stets mit komplizierten bürokratischen Kompromissen, halte ich es für extrem wichtig, ihnen gegenüber sehr deutlich zu sein. Wir haben stets versucht, das zu tun. Ich sage nicht, daß

Sowjetischer Frachter wird im amerikanischen Hafen Superior beladen.

das öffentlich geschehen sollte, aber ich halte es für wichtig.

SPIEGEL: Sie haben ja mit Breschnew und Gromyko stunden- und tagelang zusammengesessen, in kleinstem Kreis. Konnte man hart, offen, freimütig reden, und nahm Breschnew das auf?

KISSINGER: Sie wollen jetzt schon die Bonbons von dem haben, was Sie erst später drucken werden.

SPIEGEL: Warum nicht ein bißchen Vorabwerbung für Ihr Buch?

KISSINGER: Ich habe stets festgestellt, daß man mit den sowjetischen Führern durchaus offen reden konnte ...

SPIEGEL: Nicht in den üblichen Stereotypen?

KISSINGER: Nein, ich habe es stets für das beste gehalten, in den Verhandlungen mit den Sowjets sehr direkt und offen zu sein.

SPIEGEL: Sie haben die Außenpolitik der Russen einmal als »im Grunde phantasielos« ("basically unimaginative") bezeichnet. Die Stärke der sowjetischen Außenpolitik sei ihr enormes Beharrungsvermögen, ihre Fähigkeit, diese Beharrlichkeit gegen unsere Ungeduld auszuspielen. Wenn wir in einer Verhandlung nicht innerhalb von drei Monaten wieder einen neuen Vorschlag gemacht hätten, dann würden wir selbst unruhig -- und das nutzten die Russen aus. Aber wenn die Russen wirklich die Kubaner auf die Weise einsetzen oder ausnützen oder benützen, wie wir das im Augenblick für möglich halten, sind sie vielleicht gar nicht so phantasielos.

KISSINGER: Ich muß zugeben, der Einsatz der Kubaner ist etwas, was ich nicht vorausgesagt hätte. Andererseits, ich wiederhole mich jetzt, kann es einfach nicht außerhalb der menschlichen Vorstellungskraft liegen, daß die Kubaner sehr wohl zu bezwingen sind. Das hätte schon in Angola passieren können,

SPIEGEL: Es wird gesagt, daß meist nur Ihr Takt Sie daran hindere, die sowjetische Führung offen als mittelmäßig zu bezeichnen, auch wenn Ihnen der Satz zugeschrieben wird: »Das Problem mit der Sowjet-Union ist, daß sie von so mediokren Männern regiert wird.«

KISSINGER: Mir werden viele Dinge zugeschrieben. Ich sage das auch von meinen Mitarbeitern. Das ist ein Symptom meines Größenwahns.

SPIEGEL: Aber Sie haben sich mit Sicherheit beklagt über die sowjetische »Gerontokratie«, über das Problem, daß Rußland von so alten Leuten regiert wird.

KISSINGER: Nein, ich habe mich nicht darüber beklagt.

SPIEGEL: Sie haben aber auf die Tatsache hingewiesen.

KISSINGER: Es gibt diese Tatsache.

SPIEGEL: Welche Schwierigkeiten können daraus für den Westen erwachsen? Oder vielleicht auch Vorteile?

KISSINGER: Nun, alte Männer sind im allgemeinen weniger risikofreudig als junge, obwohl man das nicht verallgemeinern kann. Eines der Probleme ist, daß nach der statistischen Wahrscheinlichkeit eine große Anzahl der gegenwärtigen Politbüro-Mitglieder innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Zeitspanne -- wann immer das sein mag -- nicht mehr dasein wird. Denn sie sind ungefähr alle gleich alt, und der Zeitpunkt wird kommen, obwohl ich ihn nicht voraussagen möchte ...

SPIEGEL: Das Bild, das Breschnew in Bonn bot ...

KISSINGER: ... zu dem mehrere der obersten Führer innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit ausgewechselt werden. Und das wird den Westen mit Sicherheit vor neue Probleme stellen.

SPIEGEL: Viele Leute im Westen haben sich angewöhnt, zwischen den Tauben und den Falken in Moskau so zu unterscheiden, als seien das feste Fraktionen. Und man zieht daraus dann die Schlußfolgerung, man müsse alles tun, damit die Rolle der Tauben gestärkt werde und die Falken nicht die Oberhand bekämen. Halten Sie diesen »approach« für richtig?

KISSINGER: Nein. Zunächst einmal glaube ich nicht, daß wir wirklich wissen, wer die Tauben und wer die Falken sind. Und wenn Sie zurückblicken auf die Geschichte der Beziehungen mit der Sowjet-Union, dann werden Sie sehen, daß im allgemeinen der gerade amtierende sowjetische Führer als Taube und sein unmittelbarer Vorgänger stets als Falke angesehen wird. Solange zum Beispiel Stalin noch am Leben war, wurde er in der westlichen Literatur zuallermeist als Taube betrachtet.

SPIEGEL: Außenpolitisch war er das ja auch.

KISSINGER: Und das gleiche galt für Chruschtschow.

SPIEGEL: Bis zur Kuba-Krise. KISSINGER: Ich will nur sagen, daß es ohne Frage Meinungsverschiedenheiten in der sowjetischen Führung gibt. Ohne Frage werden ehrgeizige Männer sich politische Argumente zu eigen machen, nur um ihre eigene Karriere zu fördern, so wie das in anderen Ländern auch geschieht. Aber ich glaube, wir wissen viel zuwenig über die Tauben und die Falken, um die einzelnen Fraktionen genau bezeichnen zu können.

SPIEGEL: Wir wissen bis heute nicht mit Sicherheit, wer von den »Falken« und wer von den »Tauben« hinter dem Einmarsch in Prag steckte.

KISSINGER: Eben. Im übrigen weiß ich nicht, welches Verhalten den Tauben am meisten zugute kommen würde. Die allgemeine Auffassung ist, daß man die Tauben durch Konzessionen stärkt. Man kann aber auch sagen, daß man die Position der Tauben stärkt, indem man klarmacht, daß es viel zu riskant ist, einen bestimmten Kurs zu verfolgen, und es könnte durchaus sein, daß dies das beste Argument für die Tauben ist.

SPIEGEL: Falken und Tauben, das sagt Ihnen nur in Ihrer eigenen Innenpolitik etwas?

KISSINGER. Ich bin gegen Härte um der Härte willen. Und ich bin auch dagegen, die sowjetischen Führer dazu zu mißbrauchen, einer amerikanischen Zuhörerschaft unter Beweis zu stellen, was für Schimpfworte man benutzen und was für Siege man auf dem rhetorischen Schlachtfeld erringen kann. Aber ich halte auch nichts davon, so zu tun, als seien die Sowjets einfach mißverstandene Geschäftsleute aus dem mittleren Westen.

SPIEGEL: Wie Vizepräsident Nixon in seiner »Küchendebatte«?

KISSINGER: Das war in Moskau. Ich meine, man sollte hart in der Sache, aber höflich in der Form sein.

SPIEGEL: Sie haben einmal gesagt, Breschnew und die Kriegsgeneration der sowjetischen Führer wüßten gar nicht, wie stark die Sowjet-Union militärisch tatsächlich sei. Haben Sie das so gemeint, daß künftige ...

KISSINGER: Sie scheinen mir ziemlich viel aus privaten Gesprächen zu zitieren.

SPIEGEL: Keineswegs, das haben Sie öffentlich gesagt.

KISSINGER: Wirklich?

SPIEGEL: Wir würden Sie sonst nicht zitieren. Was haben Sie gemeint: daß die jüngere Generation, wenn sie drankommt, verantwortungsbewußter sein wird oder daß sie vielleicht übermütiger sein wird?

KISSINGER: Zunächst einmal kann ich dieses spezielle Zitat nicht bestätigen. Aber sicher ist richtig, daß Breschnews Generation die Säuberungen, den Zweiten Weltkrieg und seither eine ganze Reihe von Krisen mitgemacht hat und deshalb wahrscheinlich viel vorsichtiger ist, daß sie sich der Gefahren internationaler Komplikationen sehr viel mehr bewußt ist als möglicherweise die eher technokratische jüngere Generation, die weniger Erfahrungen hat und vielleicht mit der modernen Technologie besser vertraut ist, »Die Chinesen vernachlässigten den Aufbau ihrer Militärmacht.«

SPIEGEL: Die Chinesen sagen immer, ein Krieg mit der Sowjet-Union sei unvermeidlich. Ist das Propaganda, oder muß man ernsthaft vor solch einem Ereignis Angst haben?

KISSINGER: Wenn man es mit einem Land zu tun hat, das militärisch so stark ist, dann besteht natürlich immer die Gefahr, daß es in Versuchung gerät, diese militärische Stärke zu nutzen. Ich glaube jedoch, daß wir über die Möglichkeiten verfügen, solche Überlegungen stets wenig attraktiv erscheinen zu lassen. Und deshalb liegt es ausschließlich bei uns, ob es zum Krieg kommt oder nicht. Wenn wir zu schwach werden, dann könnte das Krieg bedeuten. Aber ich glaube nicht, daß ein Krieg unvermeidlich ist, und auch nicht, daß die Sowjets entschlossen sind, einen Krieg zu beginnen, egal welcher Widerstand sie erwartet.

SPIEGEL: Nun scheint im Augenblick das demonstrative Vorzeigen der chinesischen Karte die sowjetischen Führer doch sehr zu beunruhigen, und man muß sich fragen. ob es klug ist, in dieser Form auf China zu setzen, wie es speziell Zbigniew Brzezinski zugeschrieben wird.

KISSINGER: Wie Sie wissen, habe ich einen sehr großen Respekt vor den chinesischen Führern. China ist seit 3000 Jahren ein unabhängiges Land, die Chinesen lassen sich nicht von irgend jemandem als Karte einsetzen. Sie führen ihre eigene Außenpolitik, so wie es ihnen ihre Interessen gebieten, und wir müssen unsere Außenpolitik so führen, wie es uns unsere Interessen gebieten. Wenn die Interessen übereinstimmen, dann sollten wir zusammenarbeiten, wenn nicht, dann sollte jeder seine eigene Politik betreiben.

Ich glaube nicht, daß wir speziell die chinesische Karte spielen können, um unsere Ziele zu erreichen, Was wir tun können: Wir können zusammenarbeiten, können für gemeinsame Ziele ein-

* Auf der Luftfahrtschau 1978 in Hannover vor einem Modell des deutschen Mehrzweckkampfflugzeugs »Tornado.

treten, wie zum Beispiel dafür, daß das Kräftegleichgewicht in der Welt nicht verändert wird. Das halte ich für ein gemeinsames Ziel. Aber das bedeutet nicht, daß man die chinesische Karte spielt.

SPIEGEL: Auf jeden Fall lassen die Chinesen im Augenblick keine Gelegenheit aus, die Russen zu reizen, indem sie etwa mit der Bundeswehr flirten oder in Shaba antisowjetische Reden halten oder westliche Waffen kaufen wollen. Uns fällt die Nervosität der Russen auf, und es könnte sich da ein gefährliches Element entwickeln.

KISSINGER: Nun, die Chinesen stehen vor dem Problem, daß sie den Aufbau ihrer Militärmacht über einen langen Zeitraum vernachlässigt haben. Und deshalb müssen sie jetzt möglicherweise schnellere Entscheidungen treffen, als es der Fall gewesen wäre, wenn sie mehr Zeit für eine organische Entwicklung zur Verfügung gehabt hätten. Aber ich glaube nicht, daß es in unserem Interesse liegt, die Russen zu provozieren, nur um zu beweisen, daß man sie ärgern kann.

SPIEGEL: Sollte der Westen den Chinesen Waffen verkaufen?

KISSINGER: Ich meine, es liegt in unserem Interesse, daß es nicht leicht sein darf, die Chinesen zu überrennen.

SPIEGEL: Als Sie zum erstenmal in Peking waren, sprachen Sie von »diesem für uns so geheimnisvollen Land«. War China für Sie damals geheimnisvoller als Rußland, und ist es heute immer noch geheimnisvoller als Rußland, oder wissen Sie jetzt über beide Länder ungefähr gleich viel?

KISSINGER: Als ich das erstemal nach China reiste, wußte ich nicht viel über das Land. Und da es eine geheime Reise war, konnte ich mich nicht systematisch darauf vorbereiten.

SPIEGEL: War diese Geheimnistuerei überhaupt nötig, dieser abenteuerliche Umweg über Pakistan nach China? »ich schätze den Scharfsinn und die Intelligenz der Chinesen.«

KISSINGER: Denken Sie bitte daran, wie es damals aussah. Wir hatten keinerlei direkte Kontakte zu den Chinesen gehabt, wir wußten nicht genau, was uns dort erwartete. Die Reaktion in der Welt und in unserem eigenen Land wäre ganz unvorstellbar gewesen, wenn wir diese Reise vorher angekündigt hätten. Man hätte uns eine ganze Liste von Bedingungen gestellt, die wir hätten erfüllen müssen, bevor wir noch ankamen und bevor wir auch nur wußten, mit wem wir dort verhandeln würden. Wir hätten mit uns selbst verhandelt, bevor wir je die Chinesen zu Gesicht bekommen hätten.

Wenn man so etwas Ungewöhnliches unternimmt, dann ist es schon besser, es erst einmal zu tun und zu sehen, was dabei herauskommt, bevor man es bekanntmacht. Wenn wir es vorher angekündigt hätten, hätten wir vor 500 Kongreßausschüssen erklären müssen, was wir vorhatten, wir hätten Versicherungen geben müssen, Briefings. Es gibt einfach ein paar Sachen, die man nach meinem Empfinden insgeheim machen muß.

SPIEGEL: In Moskau haben Sie drei Tage verhandelt, ohne daß Ihr Botschafter von Ihrer Anwesenheit Kenntnis hatte. Die Gefahr, im Falle eines Mißlingens als enttarnter Harun al-Raschid lächerlich zu werden, hat Sie nie sonderlich geschreckt?

KISSINGER: Sicher nicht, das war eines der Risiken, die wir in Kauf nahmen.

SPIEGEL: In der Zwischenzeit ... KISSINGER: In der Zwischenzeit habe ich sehr viel über China gelernt, und ich wiederhole, daß ich stets die Intelligenz und den Scharfsinn der Chinesen geschätzt habe. Aber ich würde mich nicht als Experten für chinesische Kultur betrachten. Ich glaube, ich weiß etwas mehr über die sowjetische, über die russische Geschichte. Aber ich verstehe wohl, wenn es um die Auswirkungen auf die amerikanische Außenpolitik geht, beide nahezu gleich gut.

SPIEGEL: Einer der größten Gefahrenherde für den Weltfrieden war während Ihrer Amtszeit der Nahe Osten. Es scheint, als hätten Sie Sadat im Laufe der Zeit immer mehr Respekt entgegengebracht und als hielten Sie die Politik Begins im Moment nicht für sehr fruchtbar. Ist das so richtig gesagt?

KISSINGER: Ich würde es ein wenig anders formulieren. Zunächst einmal: Ich halte Sadat für einen großen Mann. Seine Reise nach Jerusalem zeugte von hohen geistigen und ethischen Qualitäten. Man kann dieser Reise 5000 pragmatische Erklärungen geben -- aber jemand, der erlebt hat, wie Araber und Israelis miteinander verhandeln, der weiß, daß diese Reise nicht einfach von irgend jemandem unternommen werden konnte, egal wie viele Leute sie einfach als großen Geniestreich betrachten. Israel hingegen ist in einer anderen Position, ein Land mit nur drei Millionen Einwohnern und einer sehr gefährdeten Existenz. Dort weiß man nicht, ob Sadat es wirklich ernst meint, wie lange er überhaupt im Amt bleiben wird. Und deshalb ist es für die israelischen Führer schwerer, die große Geste zu machen, als für einen großen arabischen Führer. Wobei es für keinen dieser Führer leicht ist.

Ich bedaure sehr, daß diese Verhandlungen aus einer Reihe von Gründen jetzt auf diesem legalistischen Niveau angelangt sind. Ich glaube nicht, daß

das der beste Weg ist, um Fortschritte zu erreichen.

SPIEGEL: Als größter Gefahrenherd der näheren Zukunft gilt, zumindest innerhalb der Nato, Jugoslawien, wo es nach Titos Tod leicht zu einer Zerreißprobe des Vielvölkerstaates kommen könnte, in deren Verlauf dann prorussische Kräfte die Sowjets zur Hilfe holen wurden. Teilen Sie diese Besorgnis?

KISSINGER: Ich möchte hier nicht über Marschall Tito spekulieren. Aber wenn man von der statistischen Lebenserwartung ausgeht, dann ist seine Lebenserwartung heute sicher begrenzter als zum Zeitpunkt seines Bruches mit Stalin. Wenn ich es so formuliere, ist das hoffentlich nicht zu beleidigend für ihn.

Zur Sache selbst jedoch glaube ich. daß nicht einmal die Führer Jugoslawiens heute wissen, ob es zu Aufständen im Innern oder zu Spannungen kommen würde, die eine Intervention von außen zur Folge haben könnten. Denn wenn sie es wüßten, würden sie etwas dagegen tun. Aber grundsätzlich ist schon richtig, daß dies ein Problem werden könnte.

»Die Bundesrepublik ist stark genug, eine eigene Außenpolitik zu führen.«

SPIEGEL: Es gibt das Wort von der »Selbst-Finnlandisierung« Europas oder speziell der Bundesrepublik. Zbigniew Brzezinski hat es gebraucht gegenüber einem deutschen Besucher. den wir kennen. Ist dies eine Besorgnis. die Sie teilen, oder ist das überpointiert?

KISSINGER: Ich hatte diese Sorge auch, speziell im Zusammenhang mit dem Eurokommunismus. Ich denke dabei aber nicht an Länder wie die Bundesrepublik, Frankreich oder Großbritannien. In Ländern allerdings, in denen die Eurokommunisten erheblichen Einfluß gewinnen, könnte es wahr werden.

SPIEGEL: Billigen die USA, billigen Sie der Bundesrepublik ein besonderes Verhältnis zur östlichen Vormacht Sowjet-Union zu, weil Bonn, mehr als alle Verbündeten, an guten Beziehungen zu Moskau interessiert sein muß -- schon allein, aber nicht nur Berlins wegen?

KISSINGER: Als theoretische Frage kann man das eigentlich überhaupt nicht beantworten, denn die Bundesrepublik ist jetzt stark genug und stabil genug, um eine eigene Außenpolitik zu führen, ob wir mit der nun einverstanden sind oder nicht. Die Bundesrepublik hat meines Erachtens immer vor dem Dilemma gestanden, sich mit einem nationalen Problem auseinandersetzen zu müssen, das nicht von allen Ländern, mit denen sie verbündet ist, gleichermaßen geteilt wird. Das ist unvermeidlich.

SPIEGEL: Warum standen Sie eigentlich damals in den Anfängen der Brandtschen Ostpolitik so skeptisch, so erkennbar mit gemischten Gefühlen gegenüber?

KISSINGER: Natürlich ist es verständlich, daß die Bundesrepublik bestimmte nationale Ziele verfolgen will. Aber dann ist da auch die historische Gefahr, daß ein Deutschland, das im Zentrum des Kontinents eine völlig separate oder spezielle Politik betreibt, jedermann so beunruhigen könnte, daß es all die Gefahren heraufbeschwört, die es eigentlich zu vermeiden sucht.

Das war immer Bestandteil der deutschen Politik, egal, ob es sich um die Hallstein-Doktrin handelte, mit der man das Risiko der Konfrontation lief, oder um die Ostpolitik mit dem Risiko zu exzessiven Verhandlungen. Es stimmt, ich hatte einige Zweifel über die Richtung. Aber es stimmt auch -- und ich glaube, Brandt und Bahr würden mir da zustimmen -, daß ich ihnen erheblich geholfen habe, nachdem wir uns darüber geeinigt hatten, was sie versuchen wollten.

SPIEGEL: Sie haben sich bei all Ihren Aktionen, wie Sie öfter gesagt haben, von geschichtlichem Bewußtsein leiten lassen. Geschichte sei zwar kein Kochbuch, dem man Rezepte entnehmen könne, aber Geschichte schärfe doch den Sinn für die strukturellen Probleme einer Situation. Wenn Sie nun zurückblicken auf die Jahre, die Sie selber aktiv als Außenpolitiker und Außenminister mitgestaltet haben -- welche Lehre wollen Sie ziehen, wenn sich das in ganz kurzen Worten sagen läßt?

KISSINGER: Darüber denke ich im Augenblick gerade sehr gründlich nach, und ich möchte das nicht mit ein paar Absätzen beantworten. Das ist eine wichtige Frage, und es ist keineswegs so, daß ich sie schon durchdacht hätte und mir nur die Antwort aufsparen will. Ich bin wirklich noch dabei, das gründlich zu durchdenken.

SPIEGEL: Einer Ihrer Bewunderer hat einmal geurteilt, Sie hätten über Bismarck mit einer Passion und einem Brio geschrieben, daß man das Gefühl habe, als habe sich Ihnen bei der Begegnung mit Bismarck eine Art von Seelenverwandtschaft aufgetan. Und auch Sie selbst haben einmal gesagt, es sei nicht so sehr Metternich, den Sie als Leitfigur bewunderten, sondern es sei der Staatsmann Bismarck. Hat Bismarcks Politik auch heute noch Modellcharakter?

KISSINGER: Die Journalisten neigen dazu, Vorbilder so zu beschreiben, als wolle man jemanden auf der Grundlage persönlicher Bewunderung imitieren. Das ist nicht der Fall. Das Problem für den Staatsmann besteht darin, daß die einzigen Lektionen, von denen er profitieren kann, die Lektionen der historischen Erfahrung sind. Und dann muß er sich davor hüten, etwa zu glauben, die Situationen seien identisch.

Ich habe Bismarck studiert und eine große Bewunderung für ihn entwickelt, obwohl ich sagen muß, daß er zum Teil für Deutschlands jüngste Tragödien verantwortlich ist. Ich halte ihn für den ersten modernen Staatsmann in dem Sinne, daß er versucht hat, die Außenpolitik auf der Grundlage einer Bewertung des Kräftegleichgewichts zu führen, nicht eingeschränkt durch die Klischees einer vorangegangenen Periode.

Wichtiger aber ist: Er begriff, daß man die Macht nur dann als Instrument der Politik einsetzen kann, wenn man bereit ist, in den politischen Schlußfolgerungen, die man daraus zieht, moderat zu sein, und wenn man das Existenzrecht anderer Staaten respektiert, mit denen man über einen historischen Zeitraum zusammenleben muß.

Das führte zu einer virtuosen und außerordentlich komplexen Politik -- und seine Nachfolger waren nicht so genial, eine derart komplexe Politik fortzuführen. Sie vereinfachten sie, und was blieb, war die reine Militärmacht ohne Verständnis für politische und andere Aspekte. So gesehen war Bismarck verantwortlich für einige der späteren Tragödien.

Was aber die Führung der Außenpolitik angeht, das Verständnis für die Notwendigkeit von Optionen. da war er einfach ein Meister.

SPIEGEL: Ja, aber auch er war mit seinem System der Rückversicherungen am Schluß so weit gekommen, daß er es nicht mehr beherrschte. Das ist menschlich, über so lange Zeit.

KISSINGER: Ich finde, daß jemand, der

ein System 30 Jahre lang aufrechterhalten kann, erfolgreich ist. Seine größte Schwäche war die Schwäche aller großen Männer -- daß er seinen Nachfolger nicht gleich mitbrachte.

SPIEGEL: Ja, da hatte er nur Graf Herbert Bismarck. Gezeugt hatte er immerhin einen.

KISSINGER: Es wäre ideal gewesen, wenn er sein Vermächtnis an jemanden hätte weitergeben können, der begriff, was er zu erreichen suchte. Und wenn der dann einen Kaiser gehabt hätte ...

SPIEGEL: ... eben, eben ... KISSINGER: ... und der genauso bereit gewesen wäre, den Nachfolger agieren zu lassen, wie es Bismarcks Kaiser gewesen war, dann hätte das Bismarcksche System doch erheblich länger überdauern können.

Aber es ist wohl richtig, daß der schwerwiegendste Vorwurf, den man Bismarck machen könnte, darin besteht, daß sein System so komplex war, daß es ein Genie in jeder folgenden Generation erforderte. Und das ist einfach zuviel verlangt. »Natürlich

wurden Fehler gemacht.«

SPIEGEL: Gilt das möglicherweise auch für die amerikanische Außenpolitik der letzten acht bis zehn Jahre?

KISSINGER: Die größte Schwierigkeit besteht darin, die Kontinuität sicherzustellen. Wie spektakulär auch die Erfolge gewesen sein mögen, wenn sie nicht fortgeführt werden können, dann muß man sich fragen: Liegt das in der Natur der Politik, in der Natur der Nachfolger oder an einer Kombination von beidem? Auf jeden Fall ist es ein Problem.

SPIEGEL: Bismarck verbrachte allerdings Monate auf seinen Gütern, was Sie nicht konnten, als Sie die amerikanische Außenpolitik leiteten.

KISSINGER: Teilweise, weil ich keine hatte.

SPIEGEL: Wenn Sie die wichtigen Entscheidungen, die Sie während Ihrer acht Jahre in der Regierung getroffen haben, vor sich Revue passieren lassen, welche Entscheidung war von heute aus gesehen falsch nach Ihrer Ansicht?

KISSINGER: Ich finde, es ist ein bißchen zu früh, das zuzugeben.

SPIEGEL: Was war der Höhepunkt in Ihrem politischen Leben?

KISSINGER: Ich möchte nicht gern auf diese und die vorangegangene Frage antworten. Natürlich wurden Fehler gemacht, natürlich gab es Höhepunkte, aber ich möchte das lieber im historischen Rahmen und in seiner Entwicklung dargestellt sehen, und dafür ist ein SPIEGEL-Gespräch dann vielleicht doch nicht das beste Forum.

SPIEGEL: Für Ihr Buch bleibt Ihnen doch noch genug über?

KISSINGER: Ich glaube, das Wichtigste, was ich versucht habe -- ob mit Erfolg, weiß sogar ich wirklich nicht -, bestand in dem Bemühen, die amerikanische Außenpolitik auf einigen grundsätzlichen Prinzipien des nationalen Interesses aufzubauen und die Schwankungen zwischen Euphorie und Panik zu vermeiden, die für uns so charakteristisch waren. Ob das erfolgreich war, werden wir abwarten müssen. Wenn nicht, wird jemand anders es tun müssen.

SPIEGEL: Was war der Höhepunkt in Ihrem politischen Leben? Die Beendigung des Vietnam-Krieges, die Steuerung des Nahost-Krieges 1973 und Vermittlung des Waffenstillstands oder vielleicht das Zusammentreffen mit den chinesischen Führern in Peking?

KISSINGER: Jedes einzelne dieser Ereignisse ist für mich von ungeheurer persönlicher Bedeutung gewesen. Aber was ich wohl doch am intensivsten zu erreichen gesucht habe, war eine Beendigung des Vietnam-Krieges unter ehrenhaften Bedingungen.

SPIEGEL: Mußte es für Sie da nicht wie ein Schock wirken, wie eine große moralische Niederlage, als Sie im Fernsehen Ihren Saigoner Botschafter sahen, wie er mit dem Sternenbanner unterm Arm zum Hubschrauber auf dem Dach seiner Botschaft rannte?

KISSINGER: Das war sehr schmerzlich. Und wir haben uns das selbst angetan, indem wir die Hilfe für Vietnam nach dem Pariser Waffenstillstands-Vertrag vom Januar 1973 in jedem Friedensjahr um 25 Prozent reduzierten. Aber es war immer noch besser, daß wir nur 1200 Leute zu evakuieren hatten. Stellen Sie sich die Szenen vor, wenn wir das mit 500 000 hätten machen müssen.

SPIEGEL: Sie haben einmal geunkt, in zehn Jahren würde möglicherweise ganz Europa marxistisch sein. War das nur eine melancholische Eingebung, oder ist das Ihre Überzeugung?

KISSINGER: Nein. Es gibt bestimmte Märchen, die immer wieder auftauchen. Ich habe nicht gesagt, daß ganz Westeuropa in zehn Jahren marxistisch sein würde.

SPIEGEL: Wir kennen gar kein marxistisches Land. Kennen Sie eines?

KISSINGER: Bestimmt nicht östlich des Eisernen Vorhangs.

SPIEGEL: Dr. Kissinger, Sie sind jetzt 55 Jahre alt, und Sie haben die interessanteste Pflicht gehabt, die man, wenn man Ihre Biographie bedenkt, in der Weltpolitik übernehmen kann. Talleyrand war viermal Außenminister Frankreichs, zuletzt mit 61 Jahren. Darf oder muß die Welt damit rechnen, daß Henry Kissinger zweimal Außenminister der Vereinigten Staaten gewesen sein wird?

KISSINGER: Wir sollten die Leute des State Department nicht mit dieser Aussicht entmutigen.

SPIEGEL: Mr. Secretary, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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