»ICH HABE IHN GERN, UND ER MAG MICH AUCH«
Auf Roosevelts Betreiben war die Konferenz zustande gekommen - Stalin hatte als Treffpunkt das »Biarritz des Zaren«, den Krim-Kurort Jalta, durchgesetzt. Von einem Rendezvous auf Malta flogen Roosevelt und Churchill mit ihren Stäben (insgesamt 700 Personen) in der Nacht vom 2. zum 3. Februar 1945 in 25 Transportmaschinen nach Jalta und bezogen Ihre vorsorglich entwanzten Quartiere. Stalin und die gesamte Kreml-Prominenz reisten am Morgen des 4. Februar In einem Sonderzug an. Noch am selben Tag traten die Großen Drei zusammen: Stalin, 65, Roosevelt, 63, Churchill, 70.
Stalin
Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili Stalin sieht dem Höhepunkt seiner Laufbahn entgegen, einer der erstaunlichsten, die man sich vorstellen kann:
Der Sohn eines georgischen Schuhmachers, Zögling eines Priesterseminars und Terrorist ist nicht nur Präsident des Rates der Volkskommissare der UdSSR, Generalsekretär der sowjetischen, KP und Marschall der Roten Armee - er ist auch der Herrscher aller Reußen. Unter seinem Befehl steht die gewaltigste Armee der Welt.
Er ist, wie Napoleon, von kleiner Statur. Im Verhältnis zum Rumpf sind
Arme und Beine zu lang. Das Haar ist immer noch voll, aber grau geworden. Die gelben Augen unter schweren halbgeschlossenen Lidern blicken hart und boshaft. Nur gelegentlich verziehen sich die Lippen unter dem dicken grauen. Schnurrbart zu einem Lächeln und legen die von Zigarettenqualm verfärbten Zähne frei.
Die Gesichtshaut, mit roten Äderchen und kleinen Pockennarben, hat einen fahlen Ton - in Moskau »Kreml-Teint« genannt, weil dieser Teint alle kennzeichnet, die auf Stalins Geheiß nachts arbeiten und vormittags schlafen.
Dieser Mann hat sein Leben lang mit Verschwörungen zu tun gehabt: Entweder schmiedete er Komplotte, oder er zerschlug sie. Fünfzig Jahre lang hat er gewissermaßen täglich seinen Kopf riskiert. So ist er nicht nur hart und boshaft geworden - die ständige Gefahr hat in ihm eine abstrakte Grausamkeit erzeugt.
Er weiß, welche Angst er einflößt, nachdem er über so viele Leichen gegangen ist - und diese Angst nährt er. Es bereitet ihm Freude, seine Umgebung zu schikanieren.
Freilich hat Stalin auch (andere) menschliche Seiten: Er liebt einen hellen Rotwein aus dem Mitschuri-Tal; wenn er Schaschlik, Huhn mit Reis oder wildes Bergschaf essen und dazu kaukasischen Wein trinken kann, ist er glücklich. Doch er weiß, daß das Leben, das er wählte, keine Zerstreuung verträgt:
Mit fünfzehn Jahren - in einem Alter, in dem Churchill das unbekümmerte Leben eines Harrow-Schülers führte und Roosevelt das aristokratische College von Groton besuchte - organisierte Stalin Terroristen-Zellen und beteiligte sich an Bankeinbrüchen.
In den Augen dieses Mannes leben Roosevelt und Churchill in einer anderen Welt, denn Stalin verkörpert ja eine Theorie - die revolutionäre Dialektik in ihrer ganzen Kompromißlosigkeit: den Marxismus-Leninismus.
Nur aus taktischen Gründen - weil man mit einem Teil der kapitalistischen Welt verbündet ist - werden diese Partner nicht öffentlich angegriffen. Sie gehen nach den Marxschen Theorien ohnehin ihrem unabwendbaren Verfall entgegen. Nur darf Stalin es nicht jetzt zum Bruch kommen lassen - er kann nicht riskieren, den Westen zu provozieren, da der sich sonst möglicherweise mit Hitler oder seinen Nachfolgern auf separate Verhandlungen einläßt.
Der militante Marxist - vom Niedergang des Kapitalismus felsenfest überzeugt - muß den Westen nur beruhigen, um das größte sozialistische Land durch Schaffung einer Kette von Pufferstaaten vor seinen verletzlichsten Grenzen sichern zu können.
Stalin hat den Widerstand der Anglo -Amerikaner bereits abgetastet. Er weiß, daß er ohne großes Risiko Finnland, Polen, Rumänien, Bulgarien, sicher auch Ungarn und vielleicht Österreich ins Spiel bringen kann. Er weiß, daß Churchill sich auf alles, was das Mittelmeer berührt, versteifen wird - und hat daher schon Titos Eifer gedämpft.
Zu Milovan Djilas, der ihn im Sommer 1944 im Auftrage Titos besuchte, hat er gesagt: »Vermeidet es vor allem, die Engländer zu erschrecken. Gebt euch so wenig kommunistisch wie möglich. Was sollen die roten Sterne an euren Mützen?«
Stalin bemüht sich auch, den ihm anhaftenden Ruf eines »Mannes mit dem Messer zwischen den Zähnen« zu entkräften. Er hat schon die verschiedensten Mittel angewandt:
Er ließ seine Tochter Swetlana nach Washington reisen, setzte einen Plan zur Milderung der Kollektivierungsmaßnahmen in der Landwirtschaft in Kraft, veranlaßte die feierliche Aussöhnung des Kreml mit der georgischen Kirche und wies der orthodoxen Kirche bedeutende Subventionen zu.
Er ersetzte die »Internationale« durch eine neue Nationalhymne und forderte die Kommunisten in der ganzen Welt auf, »nationale Kampagnen« und »patriotische Fronten« ins Leben zu rufen: Sie erhielten strenge Weisung, zum Gruß nicht mehr die Faust zu erheben.
Roosevelt
Eine leuchtende Gestalt inmitten der
Finsternis - so erscheint im Februar 1945 Franklin Delano Roosevelt, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.
Der Mann, der die USA im Jahre 1932 vor dem Chaos rettete, hat ein gigantisches Programm angekurbelt:
Amerika lieferte an Rußland, Großbritannien, China, Australien und all seine Verbündeten Kanonen, Panzer, Flugzeuge und Lebensmittel; es baute und bewaffnete die größte Flotte; es schuf die mächtigste und wirksamste Luftwaffe; es rüstete eine Armee von achteinhalb Millionen Mann aus, setzte sie an zwei Fronten ein, die voneinander 20 000 Kilometer entfernt lagen.
Trotz lebhafter deutscher U-Boot -Tätigkeit lieferten die USA an die Sowjet-Union 16 Millionen Tonnen Kriegsmaterial auf mehr als 2600 Schiffen; nahezu 500 000 Lastwagen und über 10 000 Kampfwagen, mehr als 35 000 Motorräder und fast 3000 Fahrzeuge für den Transport von Artilleriegeschützen; 1045 Lokomotiven, 50 Dieselloks, 10 000 offene und 1000 gedeckte Güterwagen sowie 120 Kesselwagen; 2,6 Millionen Tonnen Treibstoff und 4,5 Millionen Tonnen Lebensmittel.
So steht Roosevelt im Ansehen eines Titanen.
Doch dieser mächtige Mann ist in den Tagen von Jalta auch ein sehr kranker Mann, er ist schon vom Tode gezeichnet. Fröstelnd hüllt er sich in ein langes, schwarzes Cape. Roosevelt erduldet furchtbare Qualen. Nur noch mit Mühe kann der abgemagerte, erschöpfte Präsident die seit seiner Kinderlähmung im Jahre 1921 eingeschienten Beine bewegen - er wird mitunter auf einer Trage transportiert.
Der große Mann ist gereizt. Mehr denn je neigt er dazu, unliebsame Fragen abzutun. Er improvisiert.
Als Franklin Delano Roosevelt nach Jalta kommt, bringt er nicht nur seinen Talisman mit - einen langen Roßschweif, der einst dem schönsten und erfolgreichsten amerikanischen Rennpferd, Gloucester, gehörte -, ihn beherrschen auch zwei ideale Wünsche: den Krieg schnell zu beenden und einen dauerhaften Frieden zu schaffen.
Weil Roosevelt weiß, daß er bis zur Niederlage Japans mit dem Verlust von mindestens einer halben Million Menschenleben rechnen muß, geht er mit der festen Absicht nach Jalta, die Russen zur Kriegserklärung gegen Japan zu veranlassen. Ihn plagt auch die Frage, ob Hitler
womöglich schon die Atombombe besitzt. Da die amerikanischen Wissenschaftler gerade die erste Kernwaffe herstellen, ist Roosevelt über deren furchtbare Vernichtungskraft im Bilde. So will er - aus vielerlei Gründen - das Ende des Krieges beschleunigt herbeiführen. Er ist von dem ehrgeizigen Traum besessen, der Mann des Friedens zu sein. Er ist bereit, jedweden Preis zu zahlen, um Stalin für seinen Plan zu gewinnen: Die UdSSR und die USA sollen die Säulen der Vereinten Nationen werden.
Aber Roosevelt beurteilt seinen Gesprächspartner Stalin völlig falsch. Er meint: »I like him and I think he likes me« (Ich habe ihn gern, und ich glaube, er mag mich auch).
Roosevelt ist seit Jahren von der Persönlichkeit Stalins fasziniert - wie ein stürmischer Liebhaber, der sich von einer Exotin mit Erfahrung angezogen fühlt. Er ist bezaubert und glaubt an seine eigene Verführungskunst. Er meint, Stalin in einem Strom von Sympathie und Vertrauen mitreißen zu können. Nicht einen Augenblick kommt ihm der Gedanke, daß er es weniger mit einem Menschen als vielmehr mit einer Dialektik in der abstraktesten und rigorosesten Form zu tun hat.
In Roosevelts Psychologie gibt es noch ein anderes Element, das nicht übersehen werden darf: die Koketterie des reichen Mannes nach links, eines Mannes, der um keinen Preis als reaktionär gelten will - und das Hochgefühl eines Kämpfers, mit einem alten Revolutionär den leidenschaftlichen Antikolonialismus teilen zu können.
So spielen die englisch-amerikanischen Gegensätze denn auch in der Stunde von Jalta keine geringe Rolle.
Roosevelt äußert offen seine Sympathie für Gandhi, für den Sultan von Marokko, für die Indonesier. Das geht Churchill auf die Nerven: Er führt den Krieg nicht, wie er sagt, »um der Auflösung des Britischen Empires vorzustehen«. Derlei Streitigkeiten zwischen Engländern und Amerikanern machen es Stalin leicht, zu manövrieren.
Churchill
Was auch immer kommen mag«, so
telegraphierte Roosevelt im Jahre 1942, inmitten der dunkelsten Monate des Krieges, an Winston Spencer Churchill, »es wird mir eine Freude sein, mit Ihnen in der gleichen Epoche gelebt zu haben.« In der Tat ist der britische Premier eine einmalige Erscheinung. Trotz seiner 70 Jahre von nie versagender Gesundheit, besessen von koboldhafter Streitlust, so ist er in diesem Krieg mit Leib und Seele bei der Sache.
In Jalta erscheint er in der Uniform eines Fliegerobersten, mit einer Pelzmütze auf dem Kopf.
Er bringt es fertig, im Bett sitzend
- eine Menge Kissen im Rücken - Besprechungen mit Generälen, Ministern oder Botschaftern abzuhalten, auch mit Nichtengländern. Er sitzt »aufrecht, die wenigen Haare auf dem gewaltigen Schädel zerzaust, eine Zigarre im Mund und neben sich das abgestellte Frühstückstablett; das Bett ist übersät von Zeitungen und Telegrammen« (Arthur Bryant). Und der rotgoldene Drachen auf seinem Morgenrock ist »allein schon eine Sehenswürdigkeit, die einen weiten Weg gelohnt hätte« (Alan Brooke).
Zuweilen trinkt er schon am frühen Morgen Champagner oder Kognak. Während er sich rasiert oder Briefe diktiert - oder beides zugleich tut -, läßt er sich gern Schallplatten vorspielen: Kinderlieder, Volkslieder, Militärmärsche, am liebsten »Üb' immer Treu' und Redlichkeit« und »Fuchs, du hast die Gans gestohlen«.
Diese Mischung aus Falstaff und Richard III. macht sich über die Sowjets keine Illusionen. Gewiß, Churchill hütet sich, Stalin mit Formulierungen zu traktieren, wie er sie noch vor dem Kriege benutzt hat: »Der Bolschewismus ist keine politische Doktrin, er ist eine Krankheit.« Er bemüht sich vielmehr um freundschaftliche Beziehungen zu dem Kreml-Boß. Aber er läßt keine Zweifel darüber, daß ihm Roosevelts Vertrauensseligkeit gegenüber Stalin Verdruß bereitet.
Zudem gedenkt er nicht zum Konkursverwalter beim Bankrott des in seinen Augen größten Unternehmens zu werden - des Britischen Empires. Jeden Schlag gegen ein Glied dieses Weltreiches empfindet er als einen Schlag gegen sich selbst. Er hat gesehen, wie dieses Reich ins Wanken geriet - erst unter Hitlers Ansturm, dann unter den Stößen der Japaner.
Churchill wünscht sich einen starken angelsächsischen Block. Angesichts des in Wunden liegenden Frankreich, des erschütterten Italien, des nahezu vernichteten Deutschland, angesichts eines Europa, dem die jahrtausendalte Führungsstellung entgleitet, hält er es für ratsam, rings um den Atlantik eine mächtige Familie zu schaffen, die die gemeinsame Sprache und die gleiche Achtung vor den sakrosankten Freiheiten verbindet.
Doch Winston Churchill ist auch zu sehr Politiker, um nicht zu spüren, daß die Amerikaner ihn nicht für aufrichtig halten. Sie sehen in ihm den habgierigen Imperialisten, der nur seinen Schatz hüten will, auch wenn dafür das Leben vieler tausend amerikanischer Soldaten geopfert werden müßte. Sie befürchten sogar, sich in seiner Gesellschaft zu kompromittieren. In ihren Augen ist er der alte Mann einer alten Nation. Churchill weiß, daß sie so denken.
Seine erste Sorge gilt einer möglichst soliden und dauerhaften Sicherheit der britischen Insel. Um dieses Ziel zu erreichen, gibt es nur zwei Mittel: eine große Besatzungszone in Norddeutschland und die Intensivierung der Freundschaft mit Frankreich. Churchill wird um nichts in der Welt auf die Besetzung Hamburgs verzichten.
Seine zweite Sorge gilt der Sicherung der Verbindungswege nach Indien: Stalin darf sich nicht an der Mittelmeerküste festsetzen. Und so hat Churchill dem Kreml-Herrn deutlich gemacht: »Laß mir meinen Einfluß in Griechenland, Jugoslawien und Italien - und ich werde dir deinen Einfluß in anderen Gebieten nicht streitig machen.«
Bei dieser Teilung der Interessensphären gibt es nur eine Schwierigkeit: ein Land namens Polen, um dessen Unabhängigkeit willen gerade Großbritannien in den Krieg eintrat. Und deshalb muß man Polen, das Lemberg und die Pripjetsümpfe abtreten soll, erlauben, sich im Westen auf Kosten Deutschlands bis zur Oder-Linie auszudehnen.
Doch Churchill weiß, daß dies ein reiner Defensiv-Plan ist, und so etwas ärgert ihn. Zum erstenmal kommt sich der britische Premier klein vor neben den beiden Kolossen.
Aber nicht nur das. Und nicht nur, daß er sich dazu verurteilt sieht, acht Tage in dieser verteufelten Gegend zu verbringen. Der britische Premier ist in der Villa Woronzow untergebracht, die sich neben dem Schloß Liwadia (Residenz Roosevelts und Tagungsort) wie eine bescheidene Dependance ausnimmt. Winston Churchill ist sehr schlechter Laune. Seine Tochter Sarah hat ihn noch nie so verdrossen gesehen.