»Ich habe Kurs gehalten«
SPIEGEL: Herr Minister, Sie stehen nach Ihrem eigenen Selbstverständnis für eine Politik des Friedens in der Welt. Nun ist die Bundesrepublik auch zu einer Kriegspartei am Golf geworden. Ist Ihre Politik gescheitert?
GENSCHER: Wir sind Partei, auf der Seite des Völkerrechts, der Selbstbestimmung und auf der Seite derjenigen, die die Entschließung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen durchsetzen. Wenn eine Seite den Krieg will, findet die Politik ihre Grenzen.
SPIEGEL: Sie haben lange den Eindruck erweckt, der Krieg am Golf sei möglicherweise durch Diplomatie zu verhindern. Fehlte die Vorsorge für den Kriegsfall?
GENSCHER: Nein, und keine Bemühung, den Einsatz der Waffen dadurch zu verhindern, daß Saddam Hussein _(* Mit Redakteuren Richard Kießler, Paul ) _(Lersch im Bonner Auswärtigen Amt. ) Kuweit räumt, war verzichtbar, auch wenn die Chancen ihres Erfolgs noch so gering waren. Trotzdem haben wir uns lange vorher auf die immer größer werdende Kriegsgefahr eingestellt. Auf meinen Antrag gab es eine Konferenz der EG in Genf und ein Zusammentreffen mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, der nach seinem Besuch bei Saddam Hussein den Eindruck wiedergab, er habe einem Mann gegenübergesessen, der seine Entscheidung schon getroffen hat.
SPIEGEL: Die Koalition in Bonn wirkte über Tage hilflos. Der Außenminister schwieg, der Kanzler ließ verlauten, er telefoniere in der Welt herum. Keine Führung, kein politisches Konzept für das eigene Land in einer krisenhaften Situation, lautete der Vorwurf.
GENSCHER: Ich halte den Vorwurf für unberechtigt. Schon am Tag nach dem Beginn der militärischen Operationen am Golf habe ich zusammen mit dem Kollegen Stoltenberg in Paris bei der Tagung der Westeuropäischen Union auf den Primat des Völkerrechts verwiesen. Wir haben unsere Entschlossenheit bekräftigt, alle Beschlüsse des Sicherheitsrats durchzuführen, und wir sicherten allen Partnern der Koalition, die völlig zu Recht zu Waffen gegriffen haben, unsere uneingeschränkte Unterstützung zu. Eine völlig klare Haltung. So wie in den Monaten davor und wie seitdem.
SPIEGEL: Keineswegs. Von der Bundesregierung wurden in einer solchen Krise mehr als verbale Bekenntnisse erwartet.
GENSCHER: Zu diesem Zeitpunkt - vor Beginn der Kampfhandlungen - hatte die Bundesrepublik Deutschland schon Finanz- und Sachleistungen im Werte von fast sechs Milliarden Mark erbracht. Wir haben von unserem Boden aus den Lufttransport in den Golf ermöglicht. Die Bundesrepublik hatte sich also schon vor Beginn der Kampfhandlungen beteiligt an den Lasten des Golfkonfliktes. Vielleicht haben wir uns öffentlich nicht genug Selbstlob gespendet. Wir hielten unsere Solidarität in Taten für selbstverständlich.
SPIEGEL: Der Vorwurf aus anderen Staaten lautet, sie leisteten die Dreckarbeit des Krieges, die reichste Industrienation Europas betreibe Scheckbuch-Diplomatie.
GENSCHER: Für alle Beteiligten war klar, daß ein Mehr, im Sinne eines Einsatzes deutscher Streitkräfte im Golf, nicht in Frage kommen konnte. Aus guten Gründen. Aufgrund unserer Vergangenheit haben wir uns in unserer Verfassung Beschränkungen auferlegt. Das Wort Scheckbuch-Diplomatie wird auch nicht richtiger, wenn es deutsche Politiker nachplappern.
SPIEGEL: Bei den Vorbereitungen zum Krieg, beim Aufmarsch der vereinten Kräfte am Golf, sind die Deutschen nicht konsultiert worden. Zeigt sich die Zuverlässigkeit eines Verbündeten nur darin, daß er bedingungslosen Gehorsam leistet, wenn die Amerikaner den Marschbefehl erteilen?
GENSCHER: Der Einsatz am Golf ist kein Einsatz der Nato. Deshalb geht es auch nicht um das Verhältnis von Bündnispartnern untereinander, sondern um die Frage, ob wir, wenn die Staatengemeinschaft sich entschließt, gegenüber einem Aggressor die Entscheidung des Sicherheitsrates durchzusetzen, unbeteiligt beiseite stehen oder im Rahmen des uns Möglichen diese Aktion unterstützen. Das tun wir.
SPIEGEL: Die Deutschen haben sich in den letzten 45 Jahren von einer kriegerischen zu einer friedlichen Nation entwickelt - nun werden sie der Feigheit und Drückebergerei beschuldigt, weil sie sich aus Kriegen möglichst herauszuhalten suchen.
GENSCHER: Niemand sollte beklagen, wenn Deutsche in Fragen von Krieg und Frieden nachdenklich sind und nicht unbedenklich. Ich sehe darin eine neue und demokratische Reife unseres Landes. Es muß allerdings auch bei Friedensdemonstrationen eindeutig sein, wer der Aggressor ist, es ist Saddam Hussein. Er und nicht die USA und die anderen Staaten haben den Golfkrieg begonnen - am 2. August 1990.
SPIEGEL: Bei Ihrem Koalitionspartner werden Sie als Schönwetter-Außenminister verspottet, der in Schwierigkeiten gerät, wenn Kugeln pfeifen.
GENSCHER: Ich weiß nicht, wer vom Schönwetter-Außenminister spricht und was er damit meint. Ich habe in der deutschen Außenpolitik schon manche Stürme zu bestehen gehabt, wenn das Wetter gar nicht schön war. Ich erinnere etwa an die Auseinandersetzung um die Nachrüstung oder meine Ablehnung der Modernisierung der Kurzstreckenraketen. Ich habe in sehr schwierigen Situationen meinen Kurs durchgehalten.
SPIEGEL: An die Bundesregierung wird durch Druck von außen und innen die Forderung gestellt, größere Verantwortung zu übernehmen.
GENSCHER: Diejenigen, die das jetzt erst sagen, kommen spät. Ich habe das früher schon gesagt.
SPIEGEL: Aber die meinen womöglich etwas anderes als Sie: Germans to the front.
GENSCHER: Für mich steht Verantwortungspolitik gegen Machtpolitik. Ich bin der Meinung, daß wir als vereinigtes Deutschland größere Verantwortung tragen, wenn es darum geht, die Europäische Union zu schaffen, die KSZE zu einem wirklichen Stabilitätsrahmen für Europa auszubauen. Wir müssen auch zu größeren materiellen Leistungen für die Entwicklung in Mittel- und Osteuropa, in der Dritten Welt und für weltweiten Umweltschutz beitragen. Und wir müssen zusätzliche Verantwortung als Mitglied der Vereinten Nationen übernehmen. Das zu sagen ist Aufgabe der politischen Führung. Es wäre ein Trugschluß, anzunehmen, größere Verantwortung könne sich nur militärisch ausdrücken. Das ist altes Denken.
SPIEGEL: Es sieht so aus, als sei das neues Denken. Zunächst wollte sich die Koalition durch einen Angriff aus dem Irak auf die Türkei nicht in einen Krieg hineinziehen lassen. Die Bundesregierung konnte diese Position nicht durchhalten.
GENSCHER: Hier geht einiges durcheinander. Wir haben Flugzeuge in der Türkei aufgrund einer Vereinbarung, die 1970 getroffen wurde. Um diese Flugzeuge und die Soldaten vor einem möglichen Bombenangriff zu schützen, haben wir entschieden, daß Flugabwehreinheiten in die Türkei gehen. Mit dem, was unter dem Stichwort Bündnisfall diskutiert wird, hat das überhaupt nichts zu tun.
SPIEGEL: Sehr wohl. Es gab lange Diskussionen in der Regierung, ob Deutschland bei einem irakischen Angriff auf die Türkei überhaupt zum Beistand verpflichtet sei.
GENSCHER: Die Regierung hat immer gesagt, wir fassen keine theoretischen Vorratsbeschlüsse. Aber jeder kann sich darauf verlassen: Wir erfüllen unsere Bündnispflichten. Mehr ist dazu nicht zu sagen.
SPIEGEL: Für die deutschen Soldaten in der Türkei jedenfalls ist nicht mehr der Friede der Ernstfall, wie sie es bei der Ausbildung gelernt haben, sondern der Krieg. Damit hatte kein Wehrpflichtiger ernsthaft gerechnet.
GENSCHER: Natürlich haben wir auch früher schon einen Zustand erhöhter Spannungen gehabt in Europa, wo Soldaten im Einsatz gewesen wären, wenn es zu einem Konflikt gekommen wäre. Ich erinnere an die Spannungen etwa 1968 in der CSSR-Krise oder 1956 in der Ungarn-Krise.
SPIEGEL: Von einem tatsächlichen Einsatz war die Bundeswehr damals weiter entfernt als heute.
GENSCHER: Sicher. Aber die Verlegung von deutschen Einheiten in die Türkei ist kein Einsatz im Golfkrieg. Ein deutscher Soldat wird unter der gegenwärtigen Verfassungslage nicht außerhalb des Bündnisgebietes eingesetzt. Daß die betroffenen Soldaten sich aber Gedanken machen, dafür habe ich großes Verständnis.
SPIEGEL: Durch Verfassungsänderung soll demnächst der Einsatz der Bundeswehr auch außerhalb des Nato-Bereichs ermöglicht werden. Soll das gelten für Uno-Friedensaktionen oder auch für Uno-Militäraktionen oder sogar für Fälle wie den Golfkrieg, wo Gewaltanwendung zur Befreiung Kuweits erlaubt wurde?
GENSCHER: Es soll unsere Mitwirkung an den Aktionen der Vereinten Nationen ermöglicht werden, die die Uno-Satzung vorsieht - nicht mehr und nicht weniger.
SPIEGEL: Wenn die Verfassung bereits geändert wäre, könnten die Deutschen am Golf schon dabei sein?
GENSCHER: Sie ist aber nicht geändert worden, und sie wird auch nicht für diesen Anlaß überstürzt geändert werden.
SPIEGEL: Sollten künftig auch multinationale Verbände außerhalb des Nato-Gebietes, aber nicht unter dem Dach der Uno eingesetzt werden?
GENSCHER: Nein, nur unter dem Dach und autorisiert durch die Vereinten Nationen. Eine weitergehende Verfassungsänderung wird es nicht geben.
SPIEGEL: Muß dann die Struktur der Bundeswehr geändert werden: eine Berufsarmee neben einer Kadertruppe für Wehrpflichtige?
GENSCHER: Die Bundeswehr muß Wehrpflichtarmee bleiben. Aber viele Fragen stellen sich für eine Wehrpflichtarmee anders als für die Berufsarmeen der USA und Großbritanniens.
SPIEGEL: Sollten zu solchen künftigen Militäraktionen nur Freiwillige herangezogen werden?
GENSCHER: Dafür spricht viel, aber das ist im Zusammenhang mit einer Verfassungsänderung noch gründlich zu überdenken.
SPIEGEL: Unter Druck hat Bonn auch mit der bisherigen Praxis des Rüstungsexports gebrochen und Waffen an Israel geliefert.
GENSCHER: Nein, ausschlaggebend war die Androhung des Völkermords gegenüber Israel durch Saddam Hussein. Nach dem Völkermord an den europäischen Juden ist es das erste Mal, daß als Kriegsziel die Vernichtung eines ganzen Staates und Volkes ausgegeben wird. In einer solchen Lage kann und darf sich ein Land wie Deutschland nicht verweigern.
SPIEGEL: Die Scud-Raketen wurden mit deutscher Hilfe für den Angriff auf Israel einsatzbereit gemacht. Mit deutschen Zutaten wurde Giftgas hergestellt, das jetzt die Israelis bedroht. War das mitentscheidend für die Revision der bisherigen Grundsätze?
GENSCHER: Wir haben keinen Grundsatz aufgegeben. Es ist eine Ausnahmesituation. Die Einmaligkeit dieser Situation darf kein Präjudiz sein für eine Umorientierung unserer Waffenexportpolitik. Die Mitwirkung von Deutschen bei der Herstellung von Giftgas ist nach dem, was in Auschwitz geschehen ist, ein schreckliches Verbrechen, das ich bei der Entscheidung nicht außer acht gelassen habe.
SPIEGEL: In Ihrer Regierung gibt es andere Vorstellungen. Die Frage heißt: Wollen wir Menschen, gegenüber denen die Deutschen eine Schuld haben, vor Husseins Gasangriffen schützen, andere aber, die Saudis etwa, nicht?
GENSCHER: Niemand hat die Vernichtung Saudi-Arabiens und seiner Menschen angedroht. Es bleibt bei dem, was ich auch im Bundestag über die Einmaligkeit gesagt habe.
SPIEGEL: Die Gesetze werden immer erst verschärft, wenn neuer Druck entsteht. Zeigt das nicht mangelnde Ernsthaftigkeit bei der Verfolgung illegaler Rüstungsexporte?
GENSCHER: Wir haben erleben müssen, daß immer wieder neue Formen der schwerkriminellen Tatbegehung gefunden wurden. Das gilt in besonderer Weise für die Technologiesöldner und für die Produzenten und Händler des Todes. Deshalb kann es gar nicht ausbleiben, daß neue erkannte Schlupflöcher durch weitere Gesetzgebung geschlossen werden müssen. Ich hätte mir manchmal schnellere Einsichten gewünscht . . .
SPIEGEL: Auch bei Ihren eigenen Parteifreunden?
GENSCHER: Auch in der FDP wurde die Exportpolitik mit unterschiedlichen Argumenten diskutiert. Das wissen Sie ja aus der Behandlung des Regierungsentwurfs aus dem Jahre 1989, als uns die Erkenntnisse über die Giftgasfabrik im libyschen Rabita bekannt wurden.
SPIEGEL: Eine der größten Ausreden der Exporteure heißt »dual use": Der Lieferant könne nicht wissen, ob der Besteller zivile Produkte für militärische Zwecke verwende.
GENSCHER: Bei der jetzigen Ergänzung der Gesetze wird das Auswärtige Amt darauf bestehen, daß auch Absichten der militärischen Verwendung berücksichtigt werden.
SPIEGEL: Könnten nicht Länderlisten nach Cocom-Muster aufgestellt oder gar das amerikanische Modell übernommen werden: Nur das ist erlaubt, was nicht verboten ist?
GENSCHER: Wenn es nicht gelingt, in der jetzigen Novelle alle Schlupflöcher zu schließen, sehe ich keine andere Möglichkeit, als das amerikanische Modell zu übernehmen.
SPIEGEL: Die SPD möchte ins Grundgesetz ein Exportverbot von Rüstungsgütern außerhalb der Nato einführen. Was meint der Außenminister dazu?
GENSCHER: Ich weiß nicht, ob man, wenn es im Grundgesetz steht, sehr viel mehr erreichen kann. Wie wir jetzt gelernt haben, ist die Hauptgefahr gar nicht der genehmigte Export von Kriegswaffen - siehe Irak, wo seit 30 Jahren nichts genehmigt worden ist -, sondern das Hauptproblem ist die Mitwirkung von deutschen Unternehmen und Einzelpersonen bei der Herstellung von Vernichtungs- und anderen Kriegswaffen im Ausland, als Zulieferer von Material und Ersatzteilen, aber auch als Technologiesöldner. Das muß man in den Griff bekommen.
SPIEGEL: Ein Problem sind auch die Rüstungskooperationen: Die Bundesrepublik hat nach den Verträgen mit anderen Ländern keine Möglichkeit, einen Export durch den Geschäftspartner zu verhindern. Kann das auf Dauer so bleiben?
GENSCHER: Ich unterstütze deshalb die Bemühungen, zu internationalen Regelungen über eine Restriktion der Rüstungsexporte zu kommen.
SPIEGEL: In den Grundsätzen aus dem Jahre 1982 heißt es aber: »Dem Kooperationsinteresse ist grundsätzlich Vorrang einzuräumen.«
GENSCHER: Solange die Rüstungsexportpolitik so unterschiedlich ist, wird man keinen Partner finden, der sich darauf einläßt, bei Bedenken der Bundesrepublik auf den Export eines gemeinsamen Produkts zu verzichten. Wir werden umgekehrt auf eine Kooperation nicht verzichten können, schon gar nicht im Rahmen des Zusammenwachsens in Europa. Um so wichtiger ist es, daß wir mit dem Zusammenwachsen auch die Koordinierung der Rüstungsexportpolitik verbinden.
SPIEGEL: Seit langem gibt es die Forderung nach mehr Transparenz: Deutschland sollte eine Statistik über Exporte und jährliche Zuwächse veröffentlichen.
GENSCHER: Ich habe mich bei den Vereinten Nationen für ein Rüstungsexportregister seit langem eingesetzt.
SPIEGEL: Warum fängt die Bundesregierung damit nicht an?
GENSCHER: Ich habe kein Problem damit, mehr Transparenz herzustellen. Ich vermute, das wird jetzt ein wichtiger Punkt in der Diskussion werden.
SPIEGEL: Krieg ist nach Ihrer Überzeugung, Herr Genscher, unter keinen Umständen ein Mittel der Politik. Sie selbst wurden vorgeschlagen als Kandidat für den Friedensnobelpreis. Haben Sie nie daran gedacht, von Ihrem Amt zurückzutreten, nach dem Beispiel des französischen Verteidigungsministers?
GENSCHER: Ich fliehe nicht aus der Verantwortung, und auch Herr Chevenement hatte andere Gründe. Ich habe am Anfang unseres Gesprächs gesagt, wenn eine Seite den Krieg will, sind die Möglichkeiten der Politik begrenzt. Aber die Politik darf trotzdem nicht resignieren. Und ich möchte dazu beitragen, daß die Politik nicht resigniert. Ganz sicher wird es künftigen potentiellen Rechtsbrechern durch das entschiedene Eintreten für das Völkerrecht am Golf jetzt schwerer gemacht. Für mich hat die Logik des Krieges die Logik des Friedens nicht außer Kraft gesetzt. Im Gegenteil, die Logik des Friedens wird am Ende die des Krieges überholen.
SPIEGEL: Herr Minister, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
* Mit Redakteuren Richard Kießler, Paul Lersch im Bonner AuswärtigenAmt.