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»Ich kann Strümpfe stricken«

Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, über den Kampf der Generationen, die Zeit nach Joschka Fischer und die kommenden Reformen
Von Petra Bornhöft und Dirk Kurbjuweit
aus DER SPIEGEL 26/2003

SPIEGEL: Frau Göring-Eckardt, ist der Eindruck richtig, dass Sie den Aufstand der Jungen gegen die Alten anführen? Dass Sie den Alten etwas von ihrer Rente wegnehmen wollen, damit die Jungen bessere Chancen auf Jobs und Wohlstand haben?

Göring-Eckardt: Nein. Wir wollen keinen Aufstand gegen die Alten. Es geht um einen vernünftigen Ausgleich zwischen den Generationen. Bislang hatten die Renten Priorität. Aus dem Haushalt ist immer mehr in die Rentenkasse geflossen, und die Sozialbeiträge sind gestiegen - und beides geht zu Lasten der Jüngeren und Aktiven. Wenn wir bei allen Einschnitte machen, können auch die Rentner einen Beitrag leisten.

SPIEGEL: Den gleichen Generationenkonflikt gibt es doch auch bei den Grünen. Die Jüngeren stehen im Schatten der Älteren. Wollen Sie das nicht auch ändern? Die Vorfreude auf die Zeit nach Joschka Fischer ist deutlich spürbar.

Göring-Eckardt: Matthias Berninger und Simone Probst sind Staatssekretäre, ich bin Fraktionsvorsitzende. Die jüngeren Politiker der Grünen haben schon ziemlich viel von dem abbekommen, was man Macht nennt. Niemand von uns wird jetzt sagen: Ich will Außenminister werden.

SPIEGEL: Warum denn nicht? Gerade Ihre Generation gilt doch als besonders karriereversessen.

Göring-Eckardt: Man muss ein Amt auch können.

SPIEGEL: Können denn etwa auch Sie es nicht?

Göring-Eckardt: Ich auch nicht. Man sollte nicht in Schuhen laufen, die um so vieles zu groß sind, dass sie nicht nur schlackern, sondern dass der Fuß bei jedem Schritt herausrutscht.

SPIEGEL: Sie wachen jeden Morgen mit dem

Gedanken auf: Gut, dass es den Joschka noch gibt?

Göring-Eckardt: Ich wache nie mit dem Gedanken an Joschka Fischer auf.

SPIEGEL: Nervt es nicht doch, dass er schon so lange im Rampenlicht steht?

Göring-Eckardt: Nein, es nervt überhaupt nicht, im Gegenteil. Ich hoffe, dass er noch lange Außenminister bleibt. Und wenn er es nicht mehr ist, werden die Grünen entscheiden, wie es weitergehen soll.

SPIEGEL: Ist Ihnen schon ein bisschen bange vor dem ersten Wahlkampf ohne die Galionsfigur Joschka Fischer?

Göring-Eckardt: Natürlich würde es dann nicht leicht werden. Das ist immer so: Wenn es eine sehr zentrale Figur gibt, dann können sich die anderen nur begrenzt entfalten. Trotzdem stecken in manchen Grünen noch ungeahnte Potenziale, die sich erst noch entwickeln werden.

SPIEGEL: Wird er denn noch den Wechsel bestimmen können - und das Datum?

Göring-Eckardt: Was die Grünen betrifft: Der entscheidende Faktor ist Joschka Fischer. Fragen Sie ihn. Auch in der Vergangenheit ist es nicht so gewesen, dass Joschka Fischer immer allein bestimmt hätte, wer welchen Job bekommt. Er hat nicht gesagt, ich will, dass die beiden Weiber Fraktionsvorsitzende werden, und dann war das gesetzt. Gerade dieser Prozess ist ja anders gelaufen.

SPIEGEL: Aber an der Berufung von Ihnen und Krista Sager war er nicht ganz unbeteiligt.

Göring-Eckardt: Er war nicht unbeteiligt, aber er war auch nicht begeistert.

SPIEGEL: Aus seiner Sicht nicht zu Unrecht. Nun nerven Sie ihn dauernd mit neuen Reformvorschlägen.

Göring-Eckardt: Natürlich nervt das manchmal, wenn jemand drängelt und sagt: Wir brauchen mehr Veränderung, und wir dürfen nicht warten, bis uns die Realität eingeholt hat. Man muss über den Tag hinaus denken und nicht nur an die nächsten drei Landtagswahlen.

SPIEGEL: Fischer ist der »elder statesman«, und Sie sind die »junge Wilde« - ist das die Rollenverteilung bei den Grünen?

Göring-Eckardt: Bei den Grünen sagen die Älteren, sie seien wild und wir angepasst.

SPIEGEL: Und? Ist das so?

Göring-Eckardt: Die Erfahrungen von Jung und Alt in unserer Partei sind sehr verschieden. Die 68er im Westen sind mit ständig wachsendem Wohlstand groß geworden. Für uns und die kommende Generation ist dagegen klar: Es gibt immer weniger zu verteilen. Auch wer alles richtig gemacht hat - gute Ausbildung, Auslandserfahrung, guter Job -, fühlt sich in einer sehr unsicheren Situation. Wir führen andere Kämpfe als die 68er.

SPIEGEL: Die Generation von Fischer hat Rot-Grün zu einem Projekt gemacht. Hat es für Sie auch diesen Stellenwert?

Göring-Eckardt: Nein, Rot-Grün war für mich nie ein Projekt. Ich stehe zu Rot-Grün genauso wie Joschka Fischer, wir sind eine erfolgreiche Koalition. Aber: Macht man daraus eine Ideologie? Geht es nur so, oder gibt es auch andere Möglichkeiten? Für mich ist das keine ideologische Frage. Ich kann mir die Leute aller Parteien anschauen und dann sagen: Mit dem stimme ich überein - oder nicht. Derzeit sind die Übereinstimmungen mit der SPD am größten.

SPIEGEL: Könnten Sie sich vorstellen, eines Tages Außenministerin zu werden, wenn Angela Merkel Bundeskanzlerin würde? Sie verstehen sich doch ganz gut.

Göring-Eckardt: Wir streiten und lachen ganz gern zusammen. Aber im Ernst: Eine politische Perspektive erwächst daraus nicht.

SPIEGEL: Aber grundsätzlich wäre es doch möglich, oder?

Göring-Eckardt: Nur weil Merkel und ich beispielsweise eine ähnliche Biografie haben, entsteht daraus noch keine gemeinsame Politik. Aber wir haben auch nicht diese langen Kämpfe hinter uns wie die 68er und die älteren CDU-Männer. Man muss schon sehen, dass viel an Verletzungen aus der Vergangenheit mitspielt, über die man sich schwieriger hinwegsetzen kann, als wenn man das Ganze gar nicht erleben musste. Ich denke da an den erbitterten Streit über Fischers Vergangenheit.

SPIEGEL: Haben Sie Fischer mal gefragt, warum er damals in Frankfurt Polizisten verprügelt hat?

Göring-Eckardt: Das war eine andere Zeit. Ich kann die Wut nachempfinden.

SPIEGEL: Haben Sie schon einmal Polizisten verprügelt?

Göring-Eckardt: Nein, noch nicht.

SPIEGEL: Interessant, dass Sie »noch nicht« sagen.

Göring-Eckardt: Ich lebe meine kleine revolutionäre Ader anders aus. (lacht) 1989 war die Gewaltfreiheit für uns ganz zentral. Auch persönlich war ich damals in einer anderen Situation. Ich hatte da gerade mein erstes Kind geboren und bin deshalb von den Demos immer ein bisschen eher weggegangen, um den Wasserwerfern zu entkommen.

SPIEGEL: Spielen Ihre Erfahrungen aus der Wendezeit eine Rolle für Ihre Politik?

Göring-Eckardt: Jemand wie ich, der 1989/90 miterlebt hat und der Meinung war, man müsse die Gesellschaft völlig neu erfinden, ist ganz schön zurückgestutzt worden - auf ein Maß an Veränderung in kleinen Schritten. Damit hatten wir alle nicht gerechnet. Trotzdem ist die Vision, eine Gesellschaft grundlegend verändern zu wollen, eine privilegierte Erfahrung, auch wenn das manchmal nur in kleinen Schritten geht.

SPIEGEL: Statt eine Revolution zu machen, stoppeln Sie nun mühsam ein 400-seitiges Gesetzeswerk zusammen - die Gesundheitsreform -, damit sich wenigstens ein bisschen ändert.

Göring-Eckardt: Sie hätten lieber ein Gesetz, das nur zwei Seiten umfasst? Wir würden es auch vorziehen, auf zwei Seiten sagen zu können, was jetzt zu machen ist. Die Welt ist nur komplizierter.

SPIEGEL: Sie haben doch selbst gesagt, dass wir in einer »revolutionären Umbruchphase« leben.

Göring-Eckardt: Das mit der Revolution ist ja vielleicht auch nicht mehr so, dass man auf Barrikaden steigen muss ...

SPIEGEL: ... sondern Akten studiert?

Göring-Eckardt: Nicht unbedingt. Man kauft sich heute vielleicht auch keine Bahnsteigkarte mehr, sondern fängt einfach an.

SPIEGEL: Wann fangen Sie denn an?

Göring-Eckardt: Wir haben schon angefangen. Sehr viel von dem, was immer richtig war, ist jetzt zur Disposition gestellt, zum Beispiel, dass die Kassenärzte das Monopol in Deutschland haben, dass jeder nur eine Apotheke besitzen darf.

SPIEGEL: Das System steht auf dem Prüfstand?

Göring-Eckardt: Ja. Das geht bis hin zu der Frage, was man privatisieren kann und was nicht, wenn man eine solidarische Versicherung erhalten will. Auch in diesen Punkten gab es immer Wahrheiten, die keinesfalls hinterfragt werden durften. Insofern: Bei der Gesundheitspolitik - und wahrscheinlich auch bei der Reform des Arbeitsmarktes - wird es immer so sein, dass die Gesetzeswerke viele, viele Seiten umfassen und der Weg dorthin mühsam ist. Trotzdem wird das System verändert.

SPIEGEL: In Wahrheit reicht Ihnen das alles doch nicht. Ungeduld ist eine Ihrer Haupteigenschaften.

Göring-Eckardt: Im politischen Geschäft ist das so, als Mutter bin ich etwas geduldiger. Natürlich, es kann nicht reichen. Wir sind in Deutschland in einigen Bereichen absolut im Hintertreffen. Auch das ist wieder eine Generationenfrage, weil es vorrangig um die Themen Familie, Kinder, Bildung, aber auch um Zuwanderung geht. Wenn Deutschland in Zukunft nicht innovationsfähig ist, werden vor allem die Jüngeren die Nachteile haben.

SPIEGEL: Sind das nicht Sprechblasen? Die Familienpolitik steht für die rot-grüne Koalition ja nicht gerade im Zentrum der Diskussion.

Göring-Eckardt: Immerhin werden wir in dieser absolut schwierigen Situation 5,5 Milliarden Euro für Kinderbetreuung und Ganztagsschulen investieren. Ich will einfach nicht, dass Frauen wieder die Verlierer sind. Wenn wir heute über die vielen Möglichkeiten am Arbeitsmarkt reden, darf es nicht darauf hinauslaufen, dass der Mann seinen Job hat und die Frau mit einem »wunderbaren« Mini-Job dazuverdient und für den ganzen Rest zuständig ist. Das ist nicht die Gesellschaft, die ich mir vorstelle.

SPIEGEL: Gibt es nicht einen Widerspruch zwischen Ihrer Reformrhetorik und den tatsächlichen Verhältnissen? Mit den Reformen identifiziert man Gerhard Schröder, und ausgehandelt werden sie mit der Union. Fühlen Sie sich zwischen diesen beiden Kraftzentren im toten Winkel?

Göring-Eckardt: Da befinden wir uns nicht. Wir sind in der Koalition zum ersten Mal in der Situation, dass wir sehr, sehr eng zusammenarbeiten. Früher war es oft so, dass es nach der Formel ging: drei für die SPD, einen für die Grünen. Wenn man sich anschaut, was bei der Agenda 2010 auf der Tagesordnung steht und was meine Partei vertreten hat, kann man nicht unbedingt davon sprechen, dass wir ins Hintertreffen geraten wären. Alles, was die SPD verhandelt, ist mit uns abgestimmt.

SPIEGEL: Aber die SPD verhandelt doch nicht über den Umbau des Staats im grünen Sinn.

Göring-Eckardt: Es muss noch weitergehen: Welchen Stellenwert hat Ökologie im Rahmen von Innovationen und welchen Forschung und Bildung? An diesen Fragen wird sich entscheiden, ob die Nachhaltigkeitsphilosophie der Grünen wirklich vorkommt.

SPIEGEL: Da Sie von Ökologie sprechen: Die 68er und ihre Nachfolger haben die Grünen im Westen als Umweltpartei gegründet. Ihnen scheint dieses Thema nicht so am Herzen zu liegen. Haben Sie eigentlich jemals Müll getrennt?

Göring-Eckardt: Natürlich. Ich backe auch Brot selber und kann Strümpfe stricken. Wollen Sie noch mehr hören?

SPIEGEL: Danke. Aber eine Ökopartei sind die Grünen trotzdem nicht mehr.

Göring-Eckardt: Die jüngeren Grünen sind in aller Regel nicht wegen der Mülltrennung in die Partei gekommen. Heute geht es um die Frage der Nachhaltigkeit und damit um eine ökologische Grundhaltung, die sich auf alle Gesellschaftsbereiche übertragen muss, zum Beispiel auch bei der Generationengerechtigkeit. Auch die Frage der Lebensqualität spielt eine zunehmend größere Rolle, das ist öko pur.

SPIEGEL: Was heißt für Sie Lebensqualität?

Göring-Eckardt: Persönlich vor allem die Freiheit der Entscheidung über das, was das Leben ausmacht, auch jenseits der üblichen Muster. Oder nehmen Sie zum Beispiel den rasant gestiegenen Umsatz von grünem Tee im Vergleich zum aufputschenden Kaffee.

SPIEGEL: Und der Boom beim nachhaltig wirkenden grünen Tee ist ein Erfolg grüner Politik?

Göring-Eckardt: Das ist ein Beispiel dafür, dass für viele Lebensqualität eine größere Rolle spielt. Und: Es gibt unter jüngeren Leuten eine neue Wertediskussion. Man besinnt sich auf Familien. Wenn man sich in Berlin am Prenzlauer Berg umschaut, dann stellt man fest, dass es für die jungen Leute, die sich selber für hip halten, inzwischen dazugehört, dass man Kinder hat.

SPIEGEL: Wie können Sie denn Politik und Familie verbinden?

Göring-Eckardt: Die Alltagserfahrung ist unverzichtbar. Wenn man auf einer bestimmten Ebene angekommen ist und keinen Kontakt mehr zu dem hat, was in der Welt tatsächlich geschieht, kann man manches nicht mehr richtig einschätzen. Bei der Euro-Einführung haben wir lange darüber diskutiert, ob nun alles teurer geworden ist oder nicht. Die Statistiker haben gesagt, es sei nicht teurer geworden. Ich saß mit Spitzen-Grünen zusammen, und die haben immer behauptet: Die Statistik sagt, es ist nicht teurer geworden; warum also regen wir uns auf? Ich war jede Woche für meine Familie einkaufen und habe festgestellt, es hat ein Drittel mehr gekostet.

SPIEGEL: Die Grünen haben sich verändert, wie ist das mit Ihnen selbst? »Ich will Macht«, haben Sie gesagt, als es darum ging, ob Sie Fraktionsvorsitzende oder Ministerin werden sollen. Das klang ein bisschen so wie der 68er Schröder, der ...

Göring-Eckardt: ... am Zaun des Kanzleramts gerüttelt hat?

SPIEGEL: Genau.

Göring-Eckardt: Ich finde es nicht unangenehm, über Macht zu reden und sie zu haben. Wenn aber Macht und Politik nicht deformieren sollen, muss man sich immer wieder entscheiden: für ein »wirkliches« Leben neben der Politik und vielleicht auch mal dafür, einen Karriereschritt auszulassen.

SPIEGEL: Sie haben eine relativ geradlinige Karriere hinter sich. Die Machttechniken scheinen Sie auch für Ihre persönlichen Ziele gut genutzt zu haben.

Göring-Eckardt: Das ist nicht verwerflich, natürlich geht es auch darum.

SPIEGEL: Frau Göring-Eckardt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Das Gespräch führten die Redakteure Petra Bornhöft und DirkKurbjuweit.

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