»ICH MUSS ZEIGEN, WIE ICH DAS MACHE«
Das Erstaunlichste im Kabinett Kiesinger ist eigentlich, daß es da so viel zu lachen gibt. Die Schockwellen der Krise, die hier ankommen, wirken unversehens auf das Zwerchfell. Ernst ist die Lage der Nation, heiter die Kunst des Möglichen.
Der neue Kanzler wehrt es seinen Ministern nicht, wenn sie das Lachen ankommt über eine besonders schlau verteidigte Forderung an den Etat, über eine besonders wortschöpferisch formulierte Idee von Schiller oder auch einfach über die regelmäßig anbrandende Erkenntnis, wie pleite sie doch sind.
Dann beobachtet er, das üppig versilberte Haupt ein wenig schief gelegt, mit einem Lächeln aus lauter schrägen Fältchen, die Verblüffung ausnahmsweise anwesender hoher Ministerialbeamter, die ihre verreisten Dienstherren vertreten und ganz steife Hälse bekommen vor Staunen darüber, daß so muntere Reden ein so ernstes Geschäft ungerügt begleiten dürfen.
Tatsächlich kennzeichnet Kurt Georg Kiesingers diskrete Befähigung, auf eine Kabinettsdebatte so zu wirken wie ein Cocktail vorm Essen auf die Konversation bei Tisch, seinen Führungsstil genauer als das für den Massenkonsum bestimmte Diktum: »Solange ich Chef dieser Bundesregierung bin, solange wird regiert.«
Seit Kiesinger Chef dieser Bundesregierung ist, soviel kann man mit Gewißheit sagen, wird wieder im Kabinett und mit dem Kabinett regiert. Und da dies »government by discussion« bedeutet, Regierung durch Diskussion, versieht Kiesinger das Amt des Kanzlers wie ein gescheiter Diskussionsleiter. Er regiert mit 19 Ministern aus zwei Parteien, mittwochs um zehn.
Das Placement im Kabinett war anfangs eine Art Zufallsprodukt, dem allein der Umstand, daß Kiesinger rechter Hand von Willy Brandt und linker Hand von Herbert Wehner eingerahmt wurde, eine gewisse Struktur verlieh. Das ist jetzt anders.
Des Kanzlers (vom vormaligen Amtsvorsteher Ludger Westrick übernommener) Persönlicher Referent, Regierungsdirektor Hans Neusel, hat bei seinem Chef eine hierarchisch gegliederte Sitzordnung durchgebracht. So sitzt nun also der Staatssekretär im Bundeskanzleramt, Dr. Werner Knieper, auf Westricks und Globkes angestammtem Platz zur Linken des Kanzlers. Und die Minister nehmen ihre Plätze genau in der protokollarisch festgelegten Rangfolge der Ministerien ein -- aber nicht hinter- beziehungsweise nebeneinander sondern immer einer rechts vom Kanzler und einer links vom Kanzler, einer rechts, einer links, da capo al fine.
Kiesinger leitet die Diskussion, indem er sich anregend und angeregt daran beteiligt. Das heißt, er redet ziemlich häufig selber, am häufigsten über Außenpolitik. Schweigt er, so behält er die Redner mit mimischen Mitteln unter Kontrolle: Er kann ungeheuer gelangweilt aussehen, kann einen rhetorischen Kraftmeier durchdringend fixieren, kann ihm aber auch durch demonstrative Versunkenheit das Gefühl vermitteln, es höre längst kein Mensch mehr zu.
Die Bühnenreife Kiesingerscher Selbstdarstellung ist allseits unbestritten. Sein deklamatorisches Repertoire reicht vom geflüsterten Monolog bis zur geschmetterten Replik, von Hamlet bis Marquis Posa. Alles, was er vor einem Publikum sagt, wirkt einstudiert und ist es zweifellos auch. Kiesinger gehört zu den Politikern, die ihre Ausdruckskraft in der Einsamkeit erproben; die sich auf langen Spazierwegen ihre Rollen zurechtlegen -- nicht nur, was sie nächstens einem Gast, dem Kabinett, dem Volk sagen wollen, sondern vor allem, wie.
Mit seinem wie ein Gütezeichen gehüteten Zitatenschatz allerdings geht er dabei sparsamer um, als es gelegentlichen Zuhörern erscheinen mag. Das Wort von Paul Valéry zum Beispiel, daß außenpolitische Prognosen heutzutage nur noch den Wert eines Börsentips haben, hat Kiesinger nicht nur im Kabinett, sondern auch in zwei verschiedenen Beiträgen seines Buches »Ideen vom Ganzen« je einmal zitiert.
Manches andere, vermeintlich gut abgelagerte Zitat ist hingegen das Ergebnis emsiger Sucharbeit der Referenten oder eine morgenfrisch gepflückte Lesefrucht. Das (obendrein falsche) Bibelzitat -- Tobias 6 Vers 3, »O Herr, er will mich fressen« -, das Kiesinger den kleingläubigen Christdemokraten auf dem Wirtschaftstag der CDU spöttisch entgegenhielt, stand am nämlichen Tage genauso im Leitartikel des »General-Anzeiger für Bonn und Umgegend«.
Satzbau und Wortwahl Kiesingers aber haben, was immer der Anlaß seiner Rede sein mag, unweigerlich das Niveau klassischer Lesestücke der Oberstufe: »Nun steht ein neuer, würdiger Bau im Herzen der Landeshauptstadt, den Musen benachbart, wie es sich geziemt; und wir mögen hoffen, daß er ihres Geistes oftmals einen Hauch verspüre.«
Das ist Kiesinger. Er kann Deutsch nicht nur, er demonstriert es auch.
Alles, was Kurt Georg Kiesinger in amtlicher Eigenschaft sagt oder tut, hat einen hohen Gehalt an Demonstration. »Darlegen« ist eines seiner Standardwörter -- und zugleich seine Lieblingsbeschäftigung, der er mit klingenden Vokalen so lange obliegt, bis er das Gefühl hat, daß alle folgen können. Sich auszudrücken, ist ihm Leidenschaft. Und mithin ist er davon überzeugt, daß zum Führen wesentlich dazugehöre: Führung zu. demonstrieren. »Ich muß zeigen, wie ich das mache.«
Das ist ihm wichtiger als die Losung so manchen Sachproblems, muß ihm wohl wichtiger sein, da er doch davon, durchdrungen. ist, daß »die eigentliche Stütze dieser Koalition im Vertrauen des Volkes« liegt. Also »muß das Volk das Gefühl haben: Das sind die richtigen Männer. Das ist das richtige Bündnis«.
Darum demonstriert dieser Kanzler. Führung auch im Kabinett. Das heißt, wenn die schwachen Männer aus der Reihe tanzen, schreibt er ihnen blaue Briefe, die bekannt werden, und wenn sich die starken Männer mausig machen, mahnt er sie mündlich und geheim. Außerdem geniert er sich gelegentlich durchaus nicht, ein langes Minister-Solo vernehmlich abzuklopfen: »Aber, Herr Kollege, das haben wir doch nun schon mal gehört.« Und ein brillierender Experte wie der Wirtschaftsprofessor Karl Schiller muß, wenn er gerade im schönsten Zuge ist, gewärtigen, mit einer stets ein wenig amüsiert klingenden Bemerkung abgebremst zu werden: »Das haben Sie alles sehr schön gesagt, Herr Kollege, ich habe es bloß nicht verstanden. Nun sagen Sie es bitte noch mal.«
Kürzer als unter Ludwig Erhard sind die Debatten dabei übrigens nicht geworden; schon die allererste Kabinettsitzung hat zehn Stünden gedauert.
Und da die Verpflegung, wenn über die Mahlzeiten hinweg getagt wird, meistens kalt und immer karg ist, wandelt starke Esser wie den Zwei-Zentner-Mann Kurt Schmücker zuweilen die Versuchung an, grantig zu werden oder vor Schluß wegzugehen. Aber das empfiehlt sich nicht. Denn unter Kiesinger beginnt die Sitzung mit der Tagesordnung und nicht, wie unter Erhard, mit der allgemeinen Aussprache zur politischen Lage; diese kommt jetzt nach der Tagesordnung dran, und wer früher geht, riskiert, das Interessanteste zu verpassen.
Dafür weiß nun aber am Ende auch jedermann, was beschlossen worden ist. Wenn Ludwig Erhard bei seinen Kabinettsherren auf Dissens stieß und sie nicht zu überzeugen vermochte, ließ er den strittigen Punkt einfach fallen, und die Minister erkundigten sich hernach diskret beim Protokollführer, wie man denn nun verblieben sei. Kiesinger hingegen, der sich dergleichen als Chef einer Großen Koalition noch viel weniger leisten kann, als Erhard es sich eigentlich hat leisten können, führt in solchen Fällen eine Mehrheitsentscheidung herbei, deren Ergebnis er mit der juristischen Präzision des gelernten Rechtsanwalts fixieren läßt. Sicher ist sicher.
Nachhaltiger als dieses schlüssige Funktionieren des Vorsitzenden beeindruckt die aus dem Schiffbruch des Kabinetts Erhard erretteten christdemokratischen Minister nur noch das stramme, immer wieder glänzend einstudierte und genau geprobte Auftreten ihrer neuen sozialdemokratischen Regierungspartner. Und dieses Auftreten ist in der Tat das disziplinierende Element, das dem sanften Schrecken, den ein so gebildeter und wortgewandter Mann wie Kiesinger wohl bei allen weniger gebildeten und wortgewandten Mitmenschen hinterläßt, »im Kabinett erst die rechte Wirksamkeit verleiht.
Die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder halten, im Unterschied zu den christdemokratischen, regelmäßig Minister-Besprechungen ab und erscheinen dann so gründlich präpariert zur Kabinettsitzung, als stiegen sie ins Examen. Tauchen dennoch einmal unvorhergesehene Fragen oder drangvolle Entscheidungssituationen auf, dann haben die SPD-Minister immer noch Herbert Wehner.
Der Gesamtdeutsche Minister spricht nicht viel im Kabinett, weniger als der mehr und mehr vom Amt des Außenministers faszinierte Willy Brandt, aber gewichtiger. Denn wenn Wehner spricht, sind es fast immer letzte Worte -- mindestens für die SPD.
Oder auch für Kiesinger. Es war so ein letztes Wehner-Wort, das den Kanzler davon überzeugte, daß an den Kriegsopfer-Renten nichts eingespart werden dürfe. Es war eine der für Wehner charakteristischen, irgendwann während eines stundenlangen Zwiegesprächs ausbrechenden Schrei-Szenen, die Kiesingers Entschluß festigte, nun doch den Vorsitz der CDU zu. übernehmen.
Es ist überhaupt ein, seltsamer Dialog, der den Diskussionen der Großen Koalition die Richtung weist: dieses Gespräch zwischen Kiesinger und Wehner. Manchmal ist es nur eine kurze, gleitende Entladung im Spannungsfeld zwischen dem offen und locker agierenden Chairman und dem wortkarg in seine mannigfachen Aggressionen »verbissenen Mann im Hintergrund des Regierungsbündnisses. Aber in einem solchen. Augenblick fallen Entscheidungen. Und: nur wenige Minister -- der alte Routinier Gerhard Schröder vielleicht, die tollkühnen Defizit-Brothers Strauß und Schiller, oder eine junge Entdeckung wie Georg Leber -- wägen dann noch, mitzureden.
In jedem Falle ist es ein Gespräch, das nicht aufs Kabinett beschränkt bleibt und auch nicht auf die Politik. Wehner hat schon manche Abendstunde bei französischem Rotwein im Palais Schaumburg zugebracht (für Kiesinger ist ein 1954er St. Emilion, Château Ausone, angeschafft worden und, als der ausgetrunken war, ein 1958er Château Talbot, St. Julien, Médoc). Die Kiesingers wiederum sind auch schon bei Wehners in deren holzverkleidetem, bieder eingerichtetem Reihenbungalow auf dem Heiderhof in Godesberg, Weißdornweg 126, gewesen, um dort angesichts der 120 in Dreierreihe aufgebauten Pfeifen des Hausherrn über Privates zu plaudern.
Diese Überblendung vom Amtlichen ins Private und umgekehrt ist kennzeichnend für Kiesingers Sicht, aber auch für sein eigenes Erscheinungsbild.
Es ist riskant, ihm wochenends Routine-Akten mit nach Tübingen zu geben, weil er es eigentlich ablehnt, auch zu Hause noch zu arbeiten. Und wer von seinen Vertrauten ihn dringender Staatsgeschäfte halber über die inzwischen installierte Geheimnummer samstags oder sonntags zu Hause anruft, kann erleben, daß der Kanzler gerade mit seiner zweijährigen Enkelin Caecilia-Domenica, genannt Fröschle, spielt und sie ein bißchen in die Muschel plappern läßt.
Nicht das Bild eines Staatsmannes hat er auf den Schreibtisch gestellt, sondern Fröschles Bild. Und manchmal, wenn er sich auch abends nicht davon trennen mag, nimmt er es mit ins Schlafzimmer.
Kurt Georg Kiesinger ist sicherlich auch der einzige unter den möblierten neuen Herren Bonns, der in dieser frauenlosen Übergangszeit des Lebens aus dem Koffer nichts vom Segen des Zölibats verspürt hat. Bei aller Leidenschaft für lange Gespräche unter Männern kann ihn die allenthalben ausgebrochene maskuline Arbeitskameradschaft nicht für die Abwesenheit der Frauen seiner Familie entschädigen.
Kiesingers Beziehung zum Femininen, zum »Ewig-Weiblichen« im Wortsinn des Olympiers, ist weit intensiver als die Galanterie, deren er durchaus mächtig ist. Er glaubt ernsthaft, daß die Frauen »mit ihren eigentümlichen Gaben und Kräften am Gewebe einer Kultur mitwirken, für welches die Männer allein die Kraft offenbar nicht mehr aufbringen«; daß »die Werkstatt des homo faber wie sein Feierabend zuwenig Platz für das heilsame Wirken der Frau hat«.
Wenn heute seiner Frau etwas zustieße oder seiner (in Amerika verheirateten) Tochter oder auch seinem Enkelmädchen -- es würde ihn viel schlimmer treffen, würde ihn weit eher zum Rückzug aus der Öffentlichkeit treiben als ein Scheitern seiner Großen Koalition.
Diese lebenswichtige Funktion des Privaten ist aber auch das Geheimnis der Distanz Kiesingers zu Bonn -- einer Distanz, die eben nicht nur Abwesenheit zum Zeitpunkt der Missetat bedeutet, sondern auch Gelassenheit bei der Wiederkehr.
Es ist eine Gelassenheit, wie sie sich nur bei Menschen findet, die keine Lebensangst mehr haben. Und davon fühlt sich Kiesinger in der Tat frei, seit sein schwäbischer Sinn für geordnete Verhältnisse eine Ministerpräsidentenpension einkalkulieren kann, welche die bescheiden lebende Familie inskünftig materieller Sorgen überhebt.
Die Außenseiter-Position, die er fern von Bonn eingenommen hat, ist seinem Herzen auch heute noch näher als das Amt, das er ihr verdankt. »Ich bin«, sagt er ernsthaft und doch ganz heiter, »ein Mann der Peripherie.«
Distanz zu Bonn ist aber auch räumlich zu verstehen. Zugleich mit dem unvermeidlichen Umzug in den Bonner Bungalow baut sich Kiesinger ein Haus in Tübingen (sein Domizil in der Goethestraße war nur gemietet). Und wenn ihn an seinem Schreibtisch unter der »Bonner Glasglocke« Entfremdung von der nestwarmen schwäbischen Lebensnähe zu übermannen droht, dann macht er flugs die Augen zu und geht »In Gedanken ein Stück durch den Schönbuch oder einmal rund ums Freiburger Münster«.
Distanz zu Bonn heißt schließlich: Abstand vom Bonner Apparat. Kiesingers distanziertes Verhältnis zur Bürokratie ist allerdings nicht vergleichbar mit Erhards völligem Desinteresse. Denn erstens ist Kiesinger von Hause aus Jurist, und zweitens hat er die Bürokratie von verschiedenen Seiten durchaus kennen -- und dabei verachten -- gelernt. Er weiß also: Wer den Apparat nicht in der Hand hat, muß ihn wenigstens treten; sonst läuft er nicht.
Es gibt bequemere Vorgesetzte. Und es gibt keine Brigade Kiesinger. Im Bonner Kanzleramt lernen die Referenten jetzt, wie es ist, wenn kaum ein Arbeitspapier den Ansprüchen des Chefs genügt: »Wie können Sie mir so was vorlegen!«; wenn kaum ein Entwurf unbeanstandet bleibt: »Aber so schreibe ich doch nicht!«
Kiesinger kann selber nur schwer feste Zeiten einhalten, wird aber ungeduldig, wenn andere es nicht können. Er reagiert ungnädig, wenn eine Akte nicht gleich gefunden wird, ist dann aber gar nicht betroffen, wenn sie auf seinem » eigenen Schreibtisch gelegen hat. Mitarbeiter, deren Wichtigkeit ihm zweifelhaft ist, verlassen ihn nicht selten in ihres Nichts durchbohrendem Gefühle.
Kanzler-Diener, die Adenauer, Erhard und Kiesinger bewußt miterlebt haben, bringen diese Entwicklung denn auch auf die Formel: »Vom Herrn über den Bürger zum Herrscher.« Und solche, die im Umgang mit Kiesinger schon Blessuren davongetragen haben, fügen hinzu: »Regieren muß er vielleicht noch lernen, aber Herrschen kann er schon.«
Tatsächlich beginnt der amtliche Tageslauf· des neuen Kanzlers mit einer Art Lever. Diese Übung wird begünstigt durch den, ansonsten ungemütlichen, Umstand, daß Kiesinger derzeit noch im Palais Schaumburg wohnt -- möbliert und ohne Bad, in zwei dazu gänzlich ungeeigneten Zimmern hinter dem Arbeitsraum: Sein Bett steht im ehemaligen Teesalon (die mehrere Meter hohe Tür zum angrenzenden Kleinen Kabinettssaal verstellt notdürftig ein Allerwelts-Kleiderschrank), und sein Wohnzimmer ist ein ehemaliger Speiseraum, mit dessen zusammengewürfelter Einrichtung ständig experimentiert wird.
Eine knappe Stunde nachdem er von der Telephonzentrale oder von Erhards nachgelassenem Hausfaktotum Margarete Köppke (56) geweckt worden ist, einen leichten dunklen Anzug, meist ohne Weste, angezogen und mit seiner Frau telephoniert hat, bittet er, um halb neun, seinen Stab zum Frühstück. Das heißt, er frühstückt (Kaffee, Brötchen mit Butter, ein weiches Ei), und währenddessen bildet der Stab einen Halbkreis um seinen Tisch.
So formiert, hören Kiesinger sowie Staatssekretär Knieper, die Abteilungsleiter Praß und Osterheld, die Regierungssprecher von Hase und Ahlers, der Pressereferent des Kanzleramts Dr. Enseling, samt dem Kanzler-Referenten Neusel und dem Leiter des persönlichen Kanzler-Büros, Oberst Stamp, den Pressevortrag des Grafen Schweinitz vom Bundespresseamt an.
Denn der Kanzler schätzt es nicht, den Tag mit intensiver Zeitungslektüre zu beginnen. Er liest lieber in Ruhe Bücher oder Zeitschriften-Artikel, und auch die nur, »wenn ich weiß, das ist ein Kopf, der das geschrieben hat«. Den vom Presseamt mehrmals täglich zusammengestellten Nachrichtenspiegel verschmäht er ganz. Lieber läßt er sich vortragen. Er ist ein Hör-zu-Kanzler.
Das gilt so ähnlich auch für Kiesingers Umgang mit Akten. Er legt sich beiseite und nimmt zum Lesen mit ins Bett, was ihn interessiert: was sein stets ungestilltes Interesse für Politik als Drama, als Element der Historie wachruft. Aber es darf nicht zuviel Papierkram sein. Denn wenn die »kritische Masse« erreicht ist, läßt er alles liegen. Oder er sagt gleich: »Schaffen Sie mir die Akten weg, ich« verliere die Übersicht.«
Das meiste allerdings bringt er, da er durchaus Routine in der Abfertigung von Aktenvorgängen hat, nach kurzem Anhören oder Anlesen beim Aktenvortrag schnell vom Tisch -- vorausgesetzt, es kommt überhaupt soweit. Denn auch bei Kiesinger ist, wie schon bei Erhard, der Aktenvortrag das Stiefkind des Terminkalenders. Aufbereiter Neusel bringt dabei nur die Hälfte von dem an, was er anbringen möchte. Abgearbeitet wird zwischen den Besucher-Terminen oder im Bundestag, während die zweite Garnitur spricht.
Denn Kurt Georg Kiesinger regiert vor allem dialogisch. Selbst Pressebericht und Aktenvortrag verwandelt er durch häufiges Unterbrechen in Dialoge und, wenn keiner Antwort geben mag, in Monologe. Er ist meist bereit, zu hören, immer bereit, zu sprechen. Nie wird er müde, in langen Gesprächen an der Echowand, die ein intelligenter Dialogpartner für ihn darstellt, Gedanken und Erinnerungen aufklingen zu lassen: Politik als Konversation.
Wer dieses intellektuellen Vergnügens schon teilhaftig geworden ist, hat einen Kanzler kennengelernt, dünnhäutig und reagibel, der im Ernst nicht mehr damit gerechnet hatte, ein Kanzler zu werden; der dies Amt genommen hat wie ein zwar angemessenes, aber gleichwohl erstaunliches Präsent, nicht wie die Bestätigung eines höheren Auftrags.
Die Welt verbessern will er nicht. Er weiß im Gegenteil, daß es tausenderlei Dinge gibt, an denen er auch als Kanzler einer Großen Koalition nicht das mindeste ändern kann. Also wird er es auch nicht versuchen. Für ihn ist es ein Gebot der Klugheit und des guten Geschmacks, »ein gelassenes Verhältnis zur Macht und zu den eigenen Möglichkeiten« zu haben. Wo wir nicht gewinnen können, so lautet seine Parole, da treten wir gar nicht erst an.
Dennoch ist ihm klar, daß die Große Koalition, deren Scheitern er ungeniert mit einer »Krise unserer Demokratie« gleichsetzen würde, sich erst noch bewähren muß. Aber es ist ihm ebenso klar. daß sie sich zuvörderst auf einem Gebiet bewähren muß, das nicht seines ist und von dem er meist nur mit einem Anhauch von Vorbehalt spricht: auf dem Gebiet der Wirtschaft und der Finanzen.
Zu Kurt Georg Kiesingers bevorzugten Anekdoten gehört eine, die gleichermaßen typisch ist für seinen Anspruch wie für seine Gelassenheit: Der Papst Johannes XXIII., so weiß er zu berichten, erzählte einem Kardinal, der sich von der Bürde seines Amtes bedrückt fühlte, das sei ihm, dem Heiligen Vater, anfangs nicht anders gegangen, und er habe seinen Kummer im Traum dem Heiland anvertraut. Der aber habe ihn lächelnd beschieden: »Giovanni, nimm dich nicht so wichtig.«