»Ich sehe keine Horrorzahlen«
SPIEGEL: Herr Minister, Sie sind dabei, ein Markenzeichen des Sozialstaates Bundesrepublik abzuschaffen: die dynamische Rente. Wie fühlt sich ein Sozialdemokrat in der Rolle des sozialen Abbruchunternehmers?
EHRENBERG: Wir machen keinen sozialen Abbruch. sondern wir stellen den Generationenvertrag, auf dem die dynamische Rente beruht, auf eine sichere Basis.
SPIEGEL: Tatsache ist, daß zunächst einmal die Rentensteigerungen von den Zuwächsen der Bruttolöhne abgekoppelt werden. Wird die dynamische Rente noch einmal wiederkommen?
EHRENBERG: Die dynamische Rente braucht nicht wiederzukommen. Die haben wir, und die behalten wir auch. Es sei denn, der SPIEGEL bezeichnet vier Prozent Steigerung als Stagnation. Dem kann ich aber nicht folgen.
SPIEGEL: Wir sagen nicht, daß das Stagnation ist. Nur irritiert es uns, daß Sie so tun, als wäre überhaupt nichts passiert.
EHRENBERG: Ich tue mit keinem Wort so, als ob nichts passiert wäre. Ich wende mich aber dagegen, daß hier durch die Wortwahl versucht wird, Tatbestände zu dramatisieren, die diesen Akzent nicht verdienen.
SPIEGEL: Uns scheint es schon einigermaßen dramatisch, wenn zum erstenmal seit zwei Jahrzehnten davon abgewichen wird, die Renten mit den Bruttolöhnen steigen zu lassen.
EHRENBERG: Jetzt muß ich Sie ganz konkret fragen, ob Rentensteigerungen von 4,5 und von zwei mal vier Prozent, wie sie von 1979 bis 1981 vorgesehen sind, in Zeiten sehr langsamen wirtschaftlichen Wachstums, in Zeiten, in denen die aktiven Arbeitnehmer in ihren Beiträgen für rund eine Million Arbeitsuchende zusätzlich das Einkommen aufbringen müssen, nicht ein handfestes Stück Dynamik sind.
SPIEGEL: Wir bestreiten ja gar nicht, daß eine Korrektur notwendig war oder notwendig ist. Nur haben wir bei Ihnen den Eindruck, als wenn Sie schönfärben würden. Sie tun so, als müßten Sie nur für drei Jahre eine kurze Atempause einlegen -- und daß (larm alles weitergeht wie bisher.
EHRENBERG: Ich habe mich zu der SPIEGEL-Manier, ständig schwarzzumalen, nie durchringen können. Das entspricht nicht meinem Lebensgefühl; auch nicht den Zuständen in unserer Republik.
SPIEGEL: Wann dürfen wir denn mit den nächsten Horrorzahlen aus Ihrem Hause rechnen, was die Liquiditätslage der Rentenversicherung angeht? Wir werden doch alle halbe Jahre mit neuen Schreckenszahlen überrascht. Die angebliche Schwarzmalerei erwies sich, leider, allzuoft als zutreffend.
EHRENBERG: Ich sehe darin keine Horrorzahlen. Denn daß eine Verlangsamung des wirtschaftlichen Wachstums und vor allen Dingen -- was die entscheidende Meßziffer ist -- langsamer steigende Löhne und Gehälter sich in der Rentenversicherung auswirken müssen, ist doch selbstverständlich. Jeder Prozentpunkt Lohn- und Gehaltssteigerung macht zur Zeit für die Rentenversicherung eine Milliarde Mark aus.
SPIEGEL: Aber heißt das denn nicht, daß Sie auf Dauer die Renten von der Lohnentwicklung lösen müssen?
EHRENBERG: Nein. Die Rente bleibt lohnbezogen. Und was wir jetzt für drei Jahre beschlossen haben, ist eine Übergangsregelung. Das steht ausdrücklich in der Koalitionsvereinbarung.
SPIEGEL: Wir können den Zusicherungen der sozialliberalen Koalition in der Sozialpolitik. und vor allem bei den Renten, nicht mehr so recht Glauben schenken.
EHRENBERG: Es hat nie von mir eine Aussage gegeben. in der ich gesagt habe: Das gilt so, egal was passiert. Ich habe stets gesagt: Das gilt auf der Grundlage der jetzt erkennbaren wirtschaftlichen Entwicklung.
SPIEGEL: Wenn wir die Aussagen der Koalition aus dem Wahlkampf 1976 nehmen, wenn wir die Aussagen des Bundeskanzlers in seiner Regierungserklärung vor gut einem Jahr nehmen und diese mit den jetzigen Beschlüssen vergleichen, dann stimmt doch wohl einiges nicht mehr.
»Jetzt muß die Rentnerseite ihren Beitrag leisten.«
EHRENBERG: In der Regierungserklärung steht: keine Erhöhung des Beitragssatzes; kein Krankenversicherungsbeitrag der Rentner; und: Festsetzung der Neurenten nach der Bruttolohnformel. bei Bedarf Orientierung der Bestandsrenten am Nettozuwachs. Davon hat sieh nur ein einziger Punkt geändert, der letzte, und der vor allem wegen des verfassungsrechtlichen Gebots der Gleichbehandlung.
SPIEGEL: Wenn Sie nur bis 1980 rechnen. 1981 werden die Beiträge erhöht, 1982 wird der Krankenversicherungsbeitrag eingeführt.
EHRENBERG: Eine Regierungserklärung gilt nun einmal für eine Legislaturperiode.
SPIEGEL: Uns scheint, Sie verniedlichen wieder. Bisher war es ein Prinzip staatlicher Konsolidierungsmaßnahmen, daß die Lasten gleichmäßig verteilt werden. Die jetzige Formel läuft darauf hinaus, daß, zumindest bis 1980, die Rentner allein zur Kasse gebeten werden. Die Aktiven bleiben erst mal völlig ungeschoren.
EHRENBERG: Das ist falsch, und zwar deshalb, weil man die Ausgewogenheit einer Konsolidierung doch wohl nicht nach dem Stichtag der Einführung bemessen kann, sondern in einem längerfristigen Zeitraum betrachten muß. Von 1969 bis 1978 sind die Nettoeinkommen der Arbeitnehmer um 98 Prozent gestiegen, die Renten aber um 124 Prozent.
SPIEGEL: Diese Prozentzahlen sagen nicht sehr viel aus, weil sie ja von zwei unterschiedlichen Basiszahlen ausgehen. Das Einkommen der Aktiven ist einfach höher.
EHRENBERG: Einverstanden! Ich bin ja auch nicht gegen diese Steigerung; die haben wir ja selber kräftig betrieben. Nur kann man diesen Trend nicht endlos weitergehen lassen. Nach den Vorleistungen der Beitragszahler muß jetzt die Rentnerseite ihren Beitrag in Form einer Verringerung der Zuwächse leisten. Und um dann wieder das Gleichgewicht zu halten, ist ja auch eine Beitragserhöhung für die Rentenversicherung von 18 auf 18,5 Prozent zum 1. Januar 1981 Bestandteil des neuen Rentenanpassungsgesetzes.
SPIEGEL: Bei der Verve, mit der Sie die jetzt beschlossene Rentensanierung verteidigen, fragen wir uns. wieso dann eigentlich Ihre Partei ziemlich lange der Ansicht gewesen ist, daß eine gleichmäßige Aufteilung der Lasten auf Beitragszahler und Rentner richtiger ist. Und auch die Gewerkschaften zeigen sich überaus skeptisch.
EHRENBERG: Zu dem jetzigen Vorschlag gibt es noch keine Stellungnahme des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Es ist zwar SPIEGEL-like. etwas vorwegzunehmen, aber meine Art ist das nicht.
»Wir haben das soziale Netz ganz erheblich komplettiert.«
SPIEGEL: Unsere Recherchen haben jedenfalls ergeben, daß die Gewerkschaften Ihr Rentenkonzept ablehnen. Wie sieht es mit der Partei aus?
EHRENBERG: Sie gehen allzu vereinfachend mit meiner Partei um. Es hat in der Sozialdemokratischen Partei und noch mehr in der sozialdemokratischen Fraktion sehr unterschiedliche Meinungen gerade zu dem Thema Beitragserhöhungen gegeben. Grob vereinfachend: Die Sozialpolitiker waren mehr für eine Beitragserhöhung. Die Wirtschaftspolitiker waren strikt dagegen.
SPIEGEL: Herr Ehrenberg, Sie haben Ihr Amt vor gut einem Jahr von dem gescheiterten Walter Arendt übernommen ...
EHRENBERG: ... ich darf Protest gegen das Wort »gescheitert« anmelden!
SPIEGEL: Sie halten Arendt für einen erfolgreichen Minister?
EHRENBERG: Ja, was aber der SPIEGEL sicher noch nicht in diesem Jahr, sondern erst in zehn Jahren zugeben wird.
SPIEGEL: Nun gut. Walter Arendt hat eine ganze Menge an sozialen Wohltaten zwischen den Jahren 1969 und 1976 verteilt
EHRENBERG: ... auch Protest gegen das Wort »Wohltaten«!
SPIEGEL: Wie würden Sie es nennen? Missetaten?
EHRENBERG: Nein. Längst fällige, notwendige sozialpolitische Verbesserungen sind in den Jahren von 1970 bis 1977 eingeführt worden. Ich wende mich gegen das Wort »Wohltaten«, weil es so klingt, als hätte hier eine Regierung bedürftigen Gruppen Geschenke gemacht. So ist das nicht. Wir haben das soziale Netz ganz erheblich komplettiert. aber nicht im Sinne von Wohltaten, sondern im Sinne der Schaffung vernünftiger, längst fähiger Verbesserungen.
SPIEGEL: Wir wollen nicht bestreiten, daß die Koalition in der Sozialpolitik Wichtiges nachgeholt hat. Sind Sie nun aber nicht auf dem besten Wege, vieles davon wieder scheibchenweise abschneiden zu müssen?
EHRENBERG: Nicht doch. Diese Konsolidierung. die wir jetzt vorbeugend vornehmen, ist eine notwendige Anpassung der Leistungen der Rentenversicherung an die wirtschaftliche Entwicklung. Aber nicht nur das: Als 1957 die dynamische Bruttolohnformel eingeführt wurde, kamen auf 100 Arbeitnehmer 33 Rentner. Anders gesprochen: Drei Arbeitnehmer finanzierten mit ihren Beiträgen eine Rente. 1978 kommen auf 100 Arbeitnehmer 58 Renten. Plastischer ausgedrückt: Fünf Arbeitnehmer müssen drei Renten bezahlen.
SPIEGEL: Alle Wirtschaftsexperten sind sich darin einig, daß wir uns im Vergleich zu den fünfziger und sechziger Jahren auf wesentlich niedrigere Wachstumsraten unserer Wirtschaft, und damit der Einkommen, einzurichten haben. Heißt dies nicht auch, daß sich die Sozialpolitiker. die bisher stets kräftig zubuttern konnten, umstellen müssen? Oder anders herum: Dämmert das Ende des Wohlfahrtsstaats?
EHRENBERG. Keineswegs. Die Orientierung der Sozialpolitik an dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum heißt doch nichts anderes als Gleichschritt mit diesem Wachstum. Kein vernünftiger Sozialpolitiker erwartet in der Sozialpolitik die Zuwachsraten der Vergangenheit.
SPIEGEL: Ist es wirklich damit getan, daß Sie zukünftig einfach etwas weniger zulegen? Oder müßte nicht das gesamte System der sozialen Sicherung einer Totalrevision unterzogen werden? Heute sieht es doch so aus, daß ein Großteil der Bürger vom Staat soviel zurückerhält, wie er einzahlt. Einige privilegierte Gruppen wie die Beamten und die Landwirte sahnen ganz besonders gut ab, und einige ganz Bedürftige am Rande des Existenzminimums erhalten viel zuwenig von diesem Sozialstaat.
EHRENBERG: Für eine Totalrevision ist dieses System viel zu gut, es hat mehr Vorzüge als Nachteile. Wenn Sie von Totalrevision sprechen, hört sieh das nach Kahlschlag und völligem Neuaufbau an.
SPIEGEL: Das meinen wir nicht. Wir meinen aber, daß der Wildwuchs vielfältiger Staatsleistungen wie Sparprämien, Bafög, Kindergeld oder Wohngeld einmal durchforstet werden müßte.
EHRENBERG: Um da weiterzukommen, haben wir ja im vorigen Jahr die sogenannte Transferkommission einberufen. Nur, man muß sich sehr genau ansehen, was Wildwuchs ist und was nicht. Man darf hie: nicht übereilt vorgehen, sondern wirklich nur Schritt für Schritt.
SPIEGEL: Was geschieht beispielsweise für die vielen Fälle der Kleinstrentner, die mit 300 bis 400 Mark Altersgeld im Monat auskommen müssen?
EHRENBERG: Dieses Problem ist über die Rentenversicherung nicht zu lösen. Wer Renten dieser Höhe bezieht, ist nur verhältnismäßig kurze Zeit beitragszahlender Versicherungspflichtiger gewesen. Ich kann nicht der Solidargemeinschaft der Beitragszahler Leistungen für Bürger auferlegen, die dieser Solidargemeinschaft nicht oder nur vorübergehend angehört haben. Das ist Aufgabe des Sozialstaates generell.
SPIEGEL: Es gibt, nach durchaus ernst zu nehmenden Schätzungen, in diesem Staat zwei bis drei Millionen Menschen, die am Rande des Existenzminimums leben. Gleichzeitig wirft diese Regierung im Jahr rund 14 Milliarden Mark für Spar-, Bausparprämien und Vermögensbildung aus. Da stimmen doch die Proportionen nicht mehr.
EHRENBERG: Ob diese Schätzungen von Armut wirklich sehr ernst zu nehmen sind, weiß ich nicht. Wenn Sie auf die neue Studie des rheinland-pfälzischen Sozialministers Georg Gölter anspielen, so ist die nicht ernst zu nehmen, genausowenig das, was sein Vorgänger, der jetzige CDU-Generalsekretär Heinrich Geißler, dazu sagt.
SPIEGEL: Es gibt also keine Armen in der Bundesrepublik?
EHRENBERG: Natürlich gibt es sie, aber nicht in der Größenordnung, wie es in besagter Studie steht.
SPIEGEL: Wie hoch schätzen Sie die Armut?
EHRENBERG: Dann müssen Sie sagen, was Sie darunter verstehen.
SPIEGEL: Sagen wir: ein Einkommen unter 500 Mark.
EHRENBERG: Als alleiniges Einkommen? Ich schätze, das sind rund eine Million.
SPIEGEL: Und was tun Sie für die? EHRENBERG: Die sind mit unserem heutigen Sozialhilfesystem in einer, wie ich glaube, in der ganzen Welt vorbildlichen Form geschützt. Und ich kann mir dort Verfeinerungen. aber keine grundlegenden Veränderungen vorstellen.
SPIEGEL: Die Mehrzahl der staatlichen Geldleistungen, Herr Ehrenberg, fließt dahin, wo sie als Steuerleistungen hergekommen sind. Das gilt etwa für das Kindergeld, das Wohngeld oder die Bausparprämien. Da rotiert inzwischen eine gigantische, kostenfressende staatliche Verteilungsmaschine, die eines gewiß nicht produziert: mehr soziale Gerechtigkeit.
EHRENBERG: Daß das Geld nur von der linken Tasche des Bürgers in die rechte geht, ist sicher falsch. Durch diese Maßnahmen, die Sie beispielsweise aufführten, findet eine wesentliche Verteilungskorrektur statt, die zugegebenermaßen verfeinert werden könnte, die aber nicht abgeschafft werden sollte.
SPIEGEL: Uns scheint es schon beklemmend genug, daß unsere Sozialpolitiker noch nicht einmal genau wissen, was der einzelne Bürger eigentlich so alles von diesem Staat erhält.
EHRENBERG: Um dies herauszufinden, haben wir ja die Transferkommission berufen, die ermitteln soll, wer heute was bekommt. Bevor ich das weiß, kann ich keine Schlüsse ziehen. Aber ich warne vor der pauschalen Verurteilung der großen Transferströme. Da gibt es ein paar Ungereimtheiten, die zu beseitigen sind. Aber da gibt es auch sehr Vernünftiges.
SPIEGEL: Ein paar Ungereimtheiten? Das scheint uns doch reichlich schöngemalt. Mit Ihrer gerade vollendeten Rentensanierung beispielsweise haben Sie die am meisten verhätschelte Gruppe dieser Republik, die Beamten, wieder einmal völlig ungeschoren gelassen. Die ohnedies bestehenden Ungerechtigkeiten, die zwischen den Altengeldern von Staatsdienern und von Arbeitnehmern der Privatwirtschaft bestehen, werden dadurch noch vergrößert.
EHRENBERG: Wenn sich das auf Dauer so fortsetzen würde, ja. Für den Übergangszeitraum von drei Jahren ist mit einer wesentlichen Verschärfung aber deshalb nicht zu rechnen, weil ich ein sehr viel schnelleres Wachstum der Pensionen im öffentlichen Dienst nicht sehe. Die Pensionen sind ja nicht auf einen Zeitraum der Vergangenheit bezogen, sondern richten sich in ihren Veränderungen nach den aktuellen Gehaltssteigerungen der Beamten in der laufenden Periode. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß es dort wesentlich höhere Zuwachsraten gibt. Auch muß man berücksichtigen, daß Pensionen im Gegensatz zu Renten voll versteuert werden.
SPIEGEL: Selbst wenn Sie damit recht behielten: Müssen nicht die Unterschiede bei den verschiedenen Ruhegeldern schleunigst beseitigt werden?
EHRENBERG: Auf Dauer gesehen, muß hier sicher eine Veränderung kommen. Nur kann man die, wie ich glaube, nicht im Zuge einer mittelfristigen Konsolidierung vornehmen, vor allen Dingen dann nicht, wenn sowieso unmittelbar nach diesem Zeitraum eine grundlegende Neuordnung der gesamten Alterssicherung in der Bundesrepublik erfolgen muß.
SPIEGEL: Dazu hat Sie glücklicherweise ein Spruch des Verfassungsgerichts gezwungen.
EHRENBERG: Das Bundesverfassungsgericht hat uns durch ein Urteil aufgegeben, bis zum 1. Januar 1984 die Gleichberechtigung in der Alterssicherung voll zur Geltung zu bringen. Dieser Termin ist verbindlich für uns. Er wird verstärkt durch das in allen Parteien vorhandene Streben, die eigenständige soziale Sicherung der Frau zu verbessern -- auch ohne den ausdrücklichen Hinweis des Verfassungsgerichts.
SPIEGEL: Heute haben wir doch in der Altersversorgung ein Dreiklassensystem. Da sind die Beamten, die etwa 105 Prozent ihres durchschnittlichen Lebenseinkommens als Altersgeld beziehen; da sind die normalen Arbeitnehmer, die netto etwa die Hälfte dessen beziehen; und den Vogel schießen dann ja wohl die öffentlichen Angestellten ab, die nach ihrer Pensionierung netto häufig mehr erhalten, als ihr letztes Gehalt ausmachte.
EHRENBERG: Sie übersehen einen wesentlichen Tatbestand. Bei den gewerblichen Arbeitnehmern haben sie heute ein sehr starkes Zweiklassensystem: nämlich ungefähr zehn bis elf Millionen Arbeitnehmer, die mit ihren Altersbezügen ausschließlich auf die Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung angewiesen sind; aber fast ebenso viele Arbeitnehmer haben eine Zusatzversorgung. Und dann kommen die Beamten als besonders gesicherte Gruppe noch hinzu -- das ist meine Zweieinhalb-Klassentheorie.
SPIEGEL: Auch die sicherlich bestehenden Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen der gewerblichen Arbeitnehmer ändern doch nichts an dem Umstand, daß die Staatsbediensteten in ihrer Alterssicherung unglaublich bevorzugt werden. Die Höchstrenten der Rentenversicherung für Arbeiter und Angestellte haben etwa das Niveau der niedrigsten Beamtenpensionen.
EHRENBERG: Ich würde meinen schlechten Ruf beim Deutschen Beamtenbund festigen, wenn ich Ihnen recht gäbe. Aber was Sie da sagen, ist so undifferenziert, daß es dadurch nicht stimmt. Es stimmt nur für einen Teil der Beamten, für die unteren Besoldungsgruppen nicht.
SPIEGEL: Wir wollen das gern erläutern. 1975 erhielt ein Arbeitnehmer nach 45 Mitgliedsjahren höchstens 18 000 Mark im Jahr Rente. Das hat die niedrige Besoldungsstufe im öffentlichen Dienst, ein Verwaltungssekretär, schon nach 35 Jahren.
EHRENBERG. Ich kann dieses Beispiel jetzt nicht nachvollziehen. Insgesamt gesehen, stimmt das, was Sie sagen, für den Teil der oberen Besoldungsgruppen der Beamten voll. Für den unteren Teil, für die Postschaffner oder Amtsboten, gehe ich an diese Aussage mit großem Vorbehalt heran. Ich bitte nicht zu vergessen, daß sich die Mehrzahl der Beamten, auf die drei Ebenen unseres Staates bezogen, in den unteren Besoldungsgruppen befindet und nicht, wie in Bonn, in den oberen.
SPIEGEL: Die Privilegien sind jedenfalls nicht zu bestreiten. Trauen Sie der SPD die Kraft zu, da heranzugehen?
EHRENBERG: Wir werden keine Radikalkuren unternehmen, weil sie falsch wären. Aber ich traue uns schon die Kraft zu, hier im Zuge der Neuordnung besser austarierte und besser als bisher auf Eigenleistung bezogene Versorgungsleistungen zustande zu bringen, als es bisher der Fall ist. Aber dazu müssen wir erstens mehr über die Überlappung der verschiedenen Systeme wissen. Wir brauchen zweitens erheblichen Mut. das gebe ich zu, an einige Privilegien-Tatbestände heranzugehen. Ich traue uns diesen Mut zu.
SPIEGEL: Müssen Sie nicht fürchten. daß die vielen Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten in unserer sozialen Sicherung eines Tages auch den sozialen Frieden in der Bundesrepublik gefährden könnten?
EHRENBERG: Ich sehe diese Gefahr nicht, weil die mittelfristig zu erwartenden kleineren Wachstumsraten für alle Beteiligten von einem sehr viel höheren Niveau aus erfolgen. Dadurch sind Fälle krasser Benachteiligung sehr viel seltener geworden, als sie früher waren.
SPIEGEL: Herbert Wehner hat unlängst formuliert, die Republik brauche »eine neue sozialpolitische Offensive Wann fangen Sie endlich damit an?
EHRENBERG: Wir sind schon dabei.
SPIEGEL: Herr Ehrenberg, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.