In Zimmer C 719 des Berliner Stasi-Zentralarchivs Normannenstraße wird ein Fund begutachtet. Animiert läßt Behördenchef Joachim Gauck - offizieller Bandwurmtitel: Sonderbeauftragter der Bundesregierung für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes - einen Stapel Fotos durch die Finger gleiten. Die Bilder zeigen einstige SED-Prominente in zumeist privater Umgebung.
Als Clou empfindet der Hausherr einen Schnappschuß, der die Oberbosse Erich Mielke und Günter Mittag in Shorts am Strand festhält. »Seht her, diese Strolche . . . ist das nicht wunderbar!« entfährt es ihm so voller Anteilnahme, als sei er gerade dabei, in alten Familienalben zu blättern.
Die Leichtigkeit, mit der sich der Stasi-Nachlaßverwalter über die bekanntesten Gesichter eines menschenverachtenden Herrschaftsapparats lustig macht, mag ein bißchen verwundern - es steckt Absicht dahinter. Gauck ist aus seiner Dienststelle in der Behrenstraße herübergekommen, um das angespannte Betriebsklima etwas aufzulockern.
Denn seit die Archivare nach den ohnehin gigantischen Lagerbeständen nun noch Zigtausende Säcke mit zum größten Teil handzerrissenen Dokumenten entdeckt haben, maulen die Hilfskräfte. Der Papierschnitzelwust drückt schwer auf die Gemüter. Da stellt der Chef gern »die schönen Sachen« heraus, um Erfolgserlebnisse zu suggerieren: »''ne Flasche Schnaps kann ich euch ja leider nicht anbieten«, sagt er jovial bedauernd.
Der Hinterlassenschaft des aufgeriebenen Spitzelstaats handfest und frei von Pathos gegenüberzutreten, entspricht der Gauckschen Ermittlungsphilosophie. Wer das Monströse offenzulegen gedenkt, heißt die Maxime des 51jährigen Pfarrers aus Rostock, sollte sich selbst möglichst unverkrampft verhalten. Lieber über die Firma Horch & Guck gelegentlich witzeln als sie mystifizieren - »alles, was zu ihrer Dämonisierung beiträgt, wird sehr bald der Verdrängung Vorschub leisten«.
So hat er seine Aufgabe schon verstanden, als die erste freie Volkskammer der DDR den Abgeordneten vom Bündnis 90/Grüne zum obersten Stasi-Kontrolleur wählte, und so sieht er sie heute erst recht: Um sich den mehr als vier Jahrzehnten »eines Systems des abgestuften Stalinismus« ernsthaft widmen zu können, »muß der Schleier weg«.
In einer Mischung aus streng sachlicher Analyse und munterem Small talk wirbt der Bürgerrechtler für »die denkbar weitestgehende Information«. Der vormalige DDR-Mensch soll erfahren, was mit ihm geschehen ist, in einem Dossier »womöglich sich selbst begegnen«. Nur so werde er das Erlebte zu verarbeiten fähig sein.
»Stellt euch eurer Geschichte«, rät der Theologe mit dem stechenden Blick unter buschigen Brauen auf Diskussionsabenden, zumeist in Berlin, seinen Landsleuten. »Diesen Prozeß der unerläßlichen Selbstfindung« nicht klügelnd zu bevormunden, mahnt er in Bonn und andernorts die Westdeutschen.
Daß Gauck im allgemeinen Erschrecken über die von ihm beaufsichtigten 175 laufenden Kilometer Aktenbestand Maß und Behutsamkeit walten läßt, hat ihm nicht zuletzt in der alten Bundesrepublik Lob eingebracht. Der Frankfurter Allgemeinen etwa gilt der Sonderbeauftragte als ein Naturell, das »Nüchternheit mit dem Mut, Gefühle zu zeigen« verbindet. Prognose der FAZ: _(* Mit dem Abgeordneten de Maiziere, ) _(Eppelmann, Diestel 1990 in der Berliner ) _(Volkskammer. ) Der Mecklenburger werde als einer der wenigen, die den gewaltfreien Umbruch bewerkstelligten, auch im vereinigten Vaterland »eine zentrale Rolle spielen«.
Das liegt erst ein paar Monate zurück, doch im gesamtdeutschen Alltag, der vor allem von materiellen Sorgen geprägt ist, welkt der Lorbeer schnell dahin. Der Stasi-Kontrolleur und seine Bundesoberbehörde sehen sich schweren Vorwürfen ausgesetzt: das Amt verhökere Akten, arbeite schlampig - und nicht nur das.
»Verdächtigungen in Schriftform« (Gauck) machen die Runde. Papiere und Zeugenaussagen, deren Wert sich schwer erkennen läßt, werden zu »Anfragen« zusammengefaßt: Ist der Pastor erpreßbar gewesen? Hat er daran mitgewirkt - und wenn ja, um welchen Preis -, daß 1987 zwei seiner Söhne in den Westen ausreisen durften?
Was seit Wochen blubbert und schwelt, erfährt am Mittwoch voriger Woche im ZDF ein Millionen-Publikum. Der Leiter von »Studio 1«, Bodo H. Hauser, meldet »schwere Zweifel« an, daß der »Herr der Stasi-Akten« integer genug ist.
Als Kernstück eines Potpourris, in dem der schneidige Kommentarton Skandalöses unterstellt, wirft der Magazinmacher dem Behördenchef vor, seine persönlichen Unterlagen im Rostocker Stasi-Bezirksarchiv stundenlang allein eingesehen zu haben. Daß er Grund genug zur Diskretion gehabt haben könnte, schwingt dabei mit: Schließlich sei Gauck als Organisator des DDR-Kirchentages 1988 für den »störungsfreien Ablauf« von der Staatssicherheit höchstselbst belobigt worden. Der Angeklagte bemüht sich um Gelassenheit. Seine Auffassung, die einzelnen Fallgeschichten möglichst unaufgeregt zu erörtern, soll jetzt auch für ihn selber gelten. »Ich bin nie IM gewesen«, sagt er milde und lächelt dabei.
Einer wie Gauck, der von Anbeginn für Öffnung und Information eintrat, soll sich den Teufeln selbst anheimgegeben haben? Als die ersten Gerüchte kursierten, hat der Pfarrer, dem die scharfe Replik nicht fremd ist, mit triefendem Sarkasmus reagiert. Doch die Phase der Belustigung scheint nun vorbei zu sein.
Das ZDF-Interview im Hause des Sonderbeauftragten ist zweimal abgedreht worden. In der ersten Fassung entlädt sich Gaucks Wut über »die Zumutung, sich mit solchem Müll überhaupt beschäftigen zu müssen«. Schöne und authentische Bilder hat das Fernsehteam da im Kasten, die von einem in der Tiefe verletzten Menschen zeugen.
Aber dann dämmert dem Pastor, was ihm ohnehin zu schaffen macht: Er, der sich »im Kommunismus bei aller Unterdrückung gefühlssicher bewegte«, hat »im freien Westen mit der Freund-Feind-Kennung Schwierigkeiten«. Wird da in der flirrenden Medienlandschaft nicht zwangsläufig verkehrt werden, was das empörte Gemüt ausdrücken wollte? Er setzt sich noch mal vor die Kamera.
Nein, sagt Gauck jetzt gefaßt, er habe sich nichts vorzuwerfen - »es gab nie eine Versuchung«. Er sei ja auch schließlich dreimal durchleuchtet worden, dreimal verdachtsfrei: »Meine Akte war eine Opferakte.« Seine Söhne, teilt er an anderer Stelle mit, hätten für ihre Ausreise viereinhalb Jahre selbst gekämpft.
So hängt ihm denn nun vor allem die Dummheit an, die Dokumente letzten Sommer ohne Begleitung geprüft zu haben. Sich dafür zu rechtfertigen fällt ihm sichtlich schwer, und der FAZ scheint das zu reichen, ihr Gauck-Bild umzumalen: Es werde »der Ruf lauter«, schreibt das Blatt, »die personenbezogenen Unterlagen des MfS endlich in nicht vorbelastete Hände zu geben«.
Die Beleglage, sofern sich dieses Wort überhaupt gebrauchen läßt, bleibt dürftig. Allenfalls mag erreicht worden sein, den Sonderbeauftragten, der nach eigenem Bekunden in der Normannenstraße manchmal »im Dreck« wühlt, selbst ein bißchen anzuschmuddeln. Aber das wäre ja schon immerhin etwas.
Denn daß der Stasi-Ermittler endlich gedeckelt werden muß, hält ein Konglomerat aus Bonner Parteichristen und Geheimdienstlern fast für eine gesamtdeutsche Bürgerpflicht. Der Mann ist ihnen schlichtweg zu uneinsichtig. Wer wie Gauck zäh auf DDR-autonomer Vergangenheitsbewältigung beharrt, soll sich nun nicht wundern, wenn er unter Druck gerät. »Normalerweise«, so hat bereits vor Monaten der Hamburger Verfassungsschutzchef Christian Lochte stellvertretend für seine Zunft gefordert, »gehört ein Pastor auf die Kanzel.« Dem CDU-Mitglied mißfiel die Weigerung des Aktenverwalters, das Erbe des SED-Überwachungsstaats bundesdeutschen Nachrichtendiensten aufzuschließen.
Diese Haltung ist inzwischen von Gauck selbst relativiert worden. »Das war nicht ganz sachgerecht«, sagt er leise - doch der Streit um das sogenannte Stasi-Unterlagengesetz beschreibt ja nur zum Teil, was ihn zunehmend verunsichern muß. Bedrückender schlägt der Fall des Lothar de Maiziere, ehedem DDR-Regierungschef und als »IM Czerny« politisch desavouiert, durch.
Daß der Berliner Behördenleiter da seinerzeit nachhalf, indem er »gezielt Informationen streuen ließ«, gilt zumindest konservativen Hardlinern als ausgemacht. Zwar fehlen auch hier die Beweise - aber was heißt das schon? Die in Bonn vorherrschende Logik begnügt sich damit, daß ein Mann, der sich inzwischen den Sozialdemokraten nahe fühlt, einen CDU-Würdenträger kippen wollte.
Dem so von Rechts geschürten Argwohn gesellt sich das wachsende Mißtrauen derer hinzu, die im schönen 89er Herbst mit Gauck die Stasizentralen stürmten. Was ist davon in die Gegenwart herübergerettet worden? Freunde aus Bürgerkomitees attackieren den »Revolutionspastor« (Rostocker Zeitung), er habe gerade in der Affäre um den vormaligen Ministerpräsidenten seine politische Unschuld verloren: »Da hätte mehr bei rumkommen müssen, als sich hinter Schäuble zu verstecken.«
Joachim Gauck zwischen den Fronten. Sucht er in der Bundeshauptstadt Überzeugungsarbeit zu leisten, empfängt ihn nicht selten nur höflich-kühle Förmlichkeit. Sicher ist es kein Zufall, daß sich der Kanzler seinen Sonderbeauftragten vom Leibe hält.
»Bonn liegt weit weg von Deutschland«, sagt der Pfarrer ironisch verständnisvoll - doch in Berlin hat er ja derzeit auch keinen leichten Stand. Auf einer Veranstaltung der Volkshochschule Wedding wird ihm ein »unaufhaltsamer Wandel vom Bürger zum Beamten« angekreidet. Er, der gute Geist von gestern, schreit ein Diskutant, sei »ein würdiger Vertreter des Staats mit der Funktion einer Milchglasscheibe geworden«.
Es geht abermals um de Maiziere. Erregt werfen ehemalige DDRler dem Stasi-Kontrolleur vor, wenig Mut zu beweisen. Zwar habe er seinem Innenminister jede Menge Belastungsmaterial an die Hand gegeben, auf dessen Verwertung aber nicht mehr gedrängt. Hätte ein wirklich unangepaßter Mensch da nicht schwer auf den Putz hauen, sein Amt notfalls drangeben müssen?
»Was ich festgestellt habe, wissen Sie ja gar nicht«, brüllt der Gescholtene zurück. Der Pastor, Sohn eines Seekapitäns und noch mit über 50 eine drahtige Gestalt, neigt zu Explosionen, wenn er sich schlecht behandelt fühlt. Doch ebenso rasch zwingt er sich wieder zur Ruhe und erklärt den Versammelten, was ihm seine »Rechtsstellung« erlaubt: Konkret hat er leider zu schweigen, im Prinzip kann er die an ihn gerichteten Fragen »nachvollziehen«.
Joachim Gauck sucht seine Rolle. Einerseits möchte er aus den »Oktober- und Novembertagen« soviel Spontaneität wie irgend möglich in das neue Deutschland mitnehmen. Andererseits lernt der Rostocker Bürgerrechtler nach einem halben Jahrhundert der Entmündigung mit geradezu glänzenden Augen »die Segnungen des demokratischen Rechtsstaats« kennen. »Ich bin verliebt in ihn!« ruft er emphatisch in den Saal.
Rechtsstaat aber heißt, daß er sich auch in Fällen gesetzestreu zu verhalten _(* 1989 in Rostock beim ) _(Donnerstags-Gottesdienst. ) hat, in denen das Herz nach Regelverstößen verlangt. Obschon in ihm mitunter noch jene »aufrührerische Freiheitsliebe« anno ''89 pocht, geht es »nicht, jetzt den Kohlhaas zu spielen oder gar Partisanenmentalität vorzuführen«.
Joachim Gauck ist darüber hinaus ehrgeizig. Wer geglaubt haben mag, er lasse sich auf den Posten eines Oberarchivrats festnageln, unterschätzt seine Ambitionen. Es dürfe den Deutschen »kein zweites Mal passieren, daß sie ihre Geschichte nicht wahrhaben wollen«, mahnt der Behördenvertreter vor der Charlottenburger Hermann-Ehlers-Akademie fast im Stil eines Politikers - er sieht sich durchaus als Politiker.
Blauäugig wird er bisweilen genannt, und ein bißchen kokett spielt der Pastor ja selbst mit solchen Bewertungen: Er wolle sich »eine gewisse Naivität, ein bestimmtes Staunen schon bewahren«. Schief gewickelt wäre freilich, wer ihm das als Trotteligkeit auslegte.
Daß das vormalige DDR-Staatsvolk seine papierenen MfS-Giftmülldeponien bis zu einer endgültigen Entscheidung durch den Bundestag selbst aufräumen darf, ist nicht zuletzt sein Verdienst. Gauck kann sich darauf berufen, das Zusatzprotokoll im Einigungsvertrag maßgeblich mitgeschrieben zu haben - um die Kernsätze kämpft er jetzt. Seine Landsleute, in deren Köpfen er noch »das Beschaffensein zum Untertan fortwirken« sieht, sollen nicht schon wieder fremdbestimmt werden.
Seiner hartnäckigen Forderung gegenüber den Wessis entspricht die Rigidität, mit der der Sonderbeauftragte einstigen DDR-Bürgern in die Parade fährt. Die Behauptung etwa des Schriftstellers Rolf Schneider, wonach im ehedem Sozialistischen Einheitsstaat »16 Millionen Opfer 16 Millionen Täter jagen«, weist er als »gefährlichen Unsinn« zurück: »Das verunklart nur.«
Nein, zumindest was die Stasi anbelangt, will er nichts verschwimmen lassen. Um des lieben Friedens willen das Material großzügig zu sortieren wäre nach seiner festen Überzeugung schon der Anfang vom Ende. »Die Herrenklasse von gestern«, sagt der Gottesmann ungnädig, müsse »zunächst mal traurige Augen kriegen«, um womöglich später Barmherzigkeit zu erfahren.
Wer so redet, denkt nicht an Rücktritt. Daß ihm sein Dienstherr Wolfgang Schäuble nach eingehenden Untersuchungen schon vor der ZDF-Sendung den Rücken gestärkt hat, freut ihn natürlich. Aber Gauck will vor allem im Amt bleiben, »um die Wende weiterzutreiben«.
Denn wie sehr da noch ein Bedarf besteht, glaubt er nun auch am eigenen Beispiel belegen zu können: »Was hier gegen mich läuft, ist klassische Stasi-Strategie.«
* Mit dem Abgeordneten de Maiziere, Eppelmann, Diestel 1990 in derBerliner Volkskammer.* 1989 in Rostock beim Donnerstags-Gottesdienst.