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»Ich war's nicht, verdammt noch mal«

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aus DER SPIEGEL 6/1987

SUSANNE

Nehmen wir an, du triffst mich im Supermarkt. Wir stehen hintereinander an der Kasse. Ich drehe mich um, du siehst mir ins Gesicht. Du wirst nichts an mir entdecken. Nichts Besonderes. Und wenn wir heute darüber sprechen, ob ich ein Kind von Mördern bin - lächerlich! Wie sieht ein Kind von Mördern aus?

Gezeugt wurde ich 1944. Während vielleicht deine Großmutter in irgendeinem KZ umgebracht wurde. Oder danach, nach der Arbeit, nach Dienstschluß. Der Vater kommt nach Hause und legt sich auf die Mutter. Wahrscheinlich nach dem Abendessen.

Mein Vater wurde 1948 zu zehn Jahren verurteilt. 1950 wurde er wieder entlassen. Ich war damals drei Jahre alt, als er auf zwei Jahre verschwand. All das war nie ein Thema bei uns zu Hause. Mein Vater lebt heute noch. Er ist fast 90. Ein großer stolzer Mann, mit immer noch dichtem weißem Haar. Am linken Arm fehlt die Hand knapp vor dem Handgelenk. Er trägt eine Prothese mit einem schwarzen Handschuh.

Ich verbinde mit ihm nichts Böses. Im Gegenteil. Er schlug mich nie, er schrie mich nie an. Er war ruhig und verständnisvoll. Fast ein wenig zu ruhig.

»Ich erzähl' dir alles, was dich interessiert. Frag mich nur«, sagte er oft zu mir. Und dann kam immer wieder dieser entscheidende Satz: »Du mußt es an deine Kinder weitergeben. Es darf nie wieder geschehen.« Er machte mich verantwortlich für die Zukunft. Meine Kinder sollten seine Fehler nicht wiederholen. Problem für mich war nur: Was waren eigentlich seine Fehler? All diese historischen Darstellungen, diese Erzählungen waren immer so anonym.

Als ich sechzehn war, fuhr er mit mir nach Auschwitz. Er kannte das Lager und hatte eine Zeitlang dort gearbeitet. Nie werde ich diese Bilder vergessen. In der Gruppe, die durch das Lager geführt wurde, waren viele in meinem Alter. Der einzige Unterschied: Es waren Kinder von Verfolgten. Mein Vater sprach während dieser Führung kein Wort. Später im Auto, auf dem Weg zurück, begann er mir zu erklären, was seiner Meinung nach der Reiseführer falsch erklärt hatte. Er sprach über die Selektionen bei der Ankunft der Häftlinge und von den Berechnungen, daß es immer zwischen 60 und 70 Prozent der Ankommenden waren, die sofort ins Gas mußten. Der Rest wurde zum Arbeiten abgeführt. Der Mann, der uns durch das Lager geführt hatte, sprach angeblich nur von wenigen, die nicht sofort vernichtet worden waren. Und mein Vater blieb ganz ruhig dabei. Sprach und beendete seine Rede mit der Frage: »Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie furchtbar das alles damals war?«

Es war das Sachliche an ihm, wenn ich heute zurückdenke, was so erschreckend war. Dieses Berichten, Beschreiben, dieses sorgfältige Aneinanderreihen von Erlebnissen. Nie hatte ich ihn zum Beispiel in Tränen gesehen. Nie hatte ich erlebt, daß er aufhörte zu reden, stockte, daß er nicht imstande war zu erzählen.

Alles war seiner Meinung nach erklärbar und hatte seine eigene Logik. Alles was damals geschah, war für meinen Vater ein System von Ursache und Wirkung.

Sein Vater war Offizier, also wurde auch er Offizier. Seine Eltern waren begeisterte Anhänger der Nazis, so wurde auch er einer. Die ganze Familie, aus der er stammt, war von Anfang an dabei. Sein Vater war sogar mit Hitler bekannt.

So war das Schreckliche, was während des Krieges geschah, für ihn auch eine Folge von Bedingungen und Umständen.

Aber, wenn ich ehrlich bin: Mein Vater beschönigte nichts. Er sprach von Mördern und Verbrechen. Nie entschuldigte er oder versuchte zu erklären, daß vieles nicht stimmen würde, was heute in unseren Lehrbüchern steht.

Aber schuldig, schuldig fühlte er sich selbst nie. Kein einziges Mal auch nur, daß er einen Fehler begangen hätte oder an einem Verbrechen beteiligt gewesen wäre. Er war ein Opfer der Umstände. Und ich, ich glaubte ihm immer alles. Glaubte seinen Beteuerungen und hielt alles, was geschehen war, für einen furchtbaren Unglücksfall. Ohne ihn jemals der Mitschuld zu verdächtigen. Doch alles hat sich geändert, als mein Sohn kam, und er mein Weltbild zerstörte. Aber dazu komme ich später.

Ich machte 1962 das Abitur und begann Psychologie zu studieren. Später wechselte ich das Fach und machte meine Ausbildung als Studienrätin fertig. Schon zu Beginn des Studiums lernte ich Horst kennen. 1965 heirateten wir, und 1966 kam mein Sohn Dieter zur Welt. Mein Mann, der Horst, ist auch Lehrer. Seine Fächer sind Deutsch und Geschichte.

Dieter kam vor drei oder vier Jahren nach Hause und erzählte, er habe sich einer Arbeitsgruppe angeschlossen, die sich mit der Geschichte und dem Schicksal der Juden in unserer Stadt beschäftige. Großartig, sagte ich und war stolz auf ihn. Und Horst, der ja Geschichte unterrichtet, sagte ihm, er wolle ihm helfen, wo er könne.

Dieter traf sich regelmäßig mit seinen Freunden. Sie wühlten in Unterlagen des Stadtarchivs, schrieben Briefe an jüdische Gemeinden und versuchten Überlebende aus der Stadt zu finden.

Doch nach ein paar Wochen änderte sich plötzlich alles. Ich bekam ein Gefühl des Unbehagens. Dieter war kaum mehr zu Hause, jede freie Minute mit seinen Freunden zusammen. Und ich spürte irgendwie, daß, je länger er sich mit der Sache beschäftigte, er sich mehr und mehr uns entzog. Er sprach kaum noch über seine Arbeit mit uns, erzählte nichts mehr und wurde immer verschlossener.

Eines Tages, während des Abendessens, sah er plötzlich vom Teller auf, sah mir in die Augen und sagte in einem ziemlich aggressiven Ton: »Was hat eigentlich Großvater während des Krieges gemacht?«

Ich dachte mir, gut, er interessiert sich und hat ein Recht zu wissen, was Großvater damals getan hat. Und ich sollte ihm erzählen, was ich wußte. Mein Vater war damals in einem Altersheim, etwa 80 Kilometer von uns entfernt, und wir besuchten ihn etwa ein- oder zweimal im Monat, nahmen jedoch sehr selten Dieter mit.

So erzählte ich Dieter, was ich wußte von damals, diesem Damals, das ich nur aus Berichten meines Vaters kannte. Er hörte eine Weile zu, ohne mich anzusehen. Sprang dann plötzlich auf, knallte Gabel und Messer auf den Tisch, sah mich mit großen, verschreckten Augen an und schrie: »Du lügst, er ist ein Mörder! Du lügst! Großvater war ein Mörder und ist ein Mörder!« Immer wieder schrie er es, bis Horst aufstand und ihm eine Ohrfeige gab. Dann schrie ich die beiden an, es war schrecklich. Dieter rannte in sein Zimmer, warf die Tür zu und kam für den Rest des Abends nicht mehr zu uns heraus.

Irgend etwas zerbrach in dem Jungen. Wie oft habe ich versucht, mit ihm zu reden, ihm zu erklären, was damals - dieses verdammte Damals - geschehen ist. Ich sprach wie gegen eine Wand. Er saß vor mir, starrte auf seine Knie, krampfte die Finger ineinander und antwortete nie.

Ein paar Wochen später kam er nach Hause, holte aus seiner Schulmappe ein paar Papiere und legte sie vor mir auf den Küchentisch. Es waren alte Dokumente.

»Kennst du eine Familie Kolleg?« frage er mich. »Nein, nie gehört«, antwortete ich ihm. »Hier«, er wies auf die Papiere auf dem Tisch, »sie wohnten einmal in diesem Haus hier.« »Du meinst, in unserem. Haus?« fragte ich und versuchte, eines der Dokumente zu entziffern. »Ja, wo wir jetzt wohnen«, sagte er. Ich wußte nicht, worauf er hinauswollte. »Ja und, was willst du damit sagen?« fragte ich ihn. »Nichts Wichtiges«, antwortete er und sprach ganz ruhig. »Die Kollegs wurden 1941 abgeholt, aus diesem Haus hier, starben 1944 in Auschwitz. Dein lieber Vater ist mit deiner lieben Mutter einen Tag nach der Verschleppung hier eingezogen.«

Dann riß er mir das Blatt aus der Hand und schrie mich an: »Soll ich dir vorlesen? Soll ich dir vorlesen? Hier, hier steht es. Hier wohnten Martha Kolleg, 2 Jahre alt, Anna Kolleg, 6 Jahre alt, Fredi Kolleg, 12 Jahre alt, Harry Kolleg, 42 Jahre alt, und Susanne Kolleg, 38 Jahre alt. Abgeholt am 10. November 1941. Deportiert am 12. November 1942. Offizielles Todesdatum der Kinder und der Mutter am 14. 1. 1944. Vater gilt als verschollen. Ort des Todes: Auschwitz. Todesart - willst du noch Genaueres wissen, Mutter? Und von alldem hast du angeblich nie etwas gewußt? Von alldem hat dein Vater nie etwas erzählt?«

Ich sagte damals gar nichts. Wußte auch gar nicht, was ich darauf hätte sagen sollen. Vater hatte mir nie davon erzählt, daß wir in einem beschlagnahmten Haus wohnten. Ich ging immer davon aus, es sei ein alter Familienbesitz. Aber, was zum Teufel, hätte ich wirklich meinem Sohn sagen sollen? Mich verbünden mit ihm und den eigenen Vater verurteilen?

Ich versuchte, mit meinem Mann darüber zu sprechen, und Horst versprach mir, mit Dieter einmal in Ruhe zu reden. Aber dieses Gespräch half uns auch nicht weiter. Im Gegenteil,

mein Sohn wandte sich nun auch noch gegen meinen Mann.

Horst war auch nicht sehr geschickt mit seinen Ratschlägen. Er ist ein überzeugter Anhänger der Grünen und bezeichnet sich selbst als Linken. Seiner Meinung nach sind unsere heutigen Probleme andere, etwa ökologische und die der Atomkraft.

Und in dieser Richtung versuchte er Dieter zu beeinflussen. Sprach immer wieder davon, daß Faschismus kein Thema für einen jungen Deutschen heute sei und daß die Vergangenheit Vergangenheit sei und endlich vergessen werden sollte. Faschismuskritik sei eine Sache von Philosophen, nicht von jungen Pubertierenden.

Junge Leute sollten heute demonstrieren gegen Atomkraftwerke, gegen die Verschmutzung der Umwelt. Alles andere sei gesellschaftlich bedingt und müsse im Zuge einer gesellschaftlichen Veränderung verändert werden, und dann würde es auch keinen Faschismus mehr geben, blablabla; alles ein theoretisches Gefasel, und Dieter saß vor ihm, schüttelte immer wieder den Kopf und versuchte ihm zu widersprechen, aber Horst ließ es nicht zu.

Als dann Dieter gar nichts mehr sagte und Horst weiter und weiterredete, versuchte ich, die beiden zu unterbrechen und fragte Dieter, was er denn dazu nun sage. Dieter sah mich an, sah Horst an und sagte einen einzigen Satz: »Und was hat das alles damit zu tun, daß mein eigener Großvater ein Mörder ist?« Stand auf und ging in sein Zimmer.

Die nächsten Wochen waren ein Greuel. Jeden Abend Diskussion, Schreiereien, Tränen und Beschuldigungen. Dieter und ich prallten aufeinander, wie zwei aus verschiedenen Religionen, mit verschiedenen Wahrheiten. Langsam entwickelte sich in mir ein Gefühl der Angst, den eigenen Sohn zu verlieren. Der Bruch mit meinem eigenen Vater hatte nie stattgefunden, trotz der vielen Berichte und Beschreibungen, die ich von ihm erfuhr. Nun mußte ich fürchten, daß sich dieser Bruch zwischen meinem Sohn und mir ereignen könnte. Ich kam in die verzweifelte Situation, zwischen meinem Sohn und meinem Vater entscheiden zu müssen.

Ich wollte es natürlich zuerst mit dem Sohn versuchen. Nachdem wir vielleicht zwei Wochen lang überhaupt nicht miteinander gesprochen hatten, bat ich eines Abends Dieter, mir noch einmal zuzuhören. Ich versuchte ihm zu erklaren, wie Opa mir seine Erlebnisse weitergegeben hatte, erzählte ihm von dem Besuch in Auschwitz und anderen Erlebnissen. Ich hatte die ehrliche Absicht, ihm zu zeigen, wie die Geschichte meines Vaters und die des Nationalsozialismus an mich weitergegeben worden war, wie ich darauf reagierte und inwieweit es mich überhaupt beschäftigte.

Auch den Unterschied der beiden Generationen versuchte ich ihm klarzumachen. Wir wären doch in seinem Alter nie auf die Idee gekommen, in Arbeitsgruppen die Geschichte der Stadt während der Nazizeit zu erforschen. Wie blöd und naiv und auch uninteressiert waren wir damals gegenüber der Jugend heute. Oder, was auch möglich war: wie sehr belastet dieses Thema damals noch war.

Dieter hörte ganz ruhig zu, stellte mir eine Menge Fragen und war nicht mehr so abwehrend. Aber ich glaube, das Wichtigste für Dieter war, daß ich ihm versicherte, daß ich Opa nicht um jeden Preis verteidigen würde. Daß der Großvater nicht zwischen ihm und mir stehen dürfe und er in mir nicht eine ehemalige Nationalsozialistin sehen könne, die heute immer noch an vergangenen Idealen hängt.

Auch verstand er, daß es nicht so einfach ist, den eigenen Vater als Mörder zu verurteilen, wenn man ihn von dieser Seite nie erlebt oder gesehen hat und er auch nie diese Seite von sich ehrlich und offen dargestellt hätte.

Nun gut, ich bat im Grunde genommen meinen Sohn um Verzeihung und außerdem noch um mehr Verständnis für meine Situation. Außer Zweifel ließ ich meine eigene Abwehr gegen die Zeit damals und die Taten von Opa.

In den Tagen nach diesem wichtigen Gespräch geschah etwas Wunderschönes für mich. Ich solidarisierte mich mit meinem Sohn - gegen den eigenen Vater. Ich interessierte mich mehr und mehr für seine Arbeit in der Gruppe, und er zeigte mir auch alles, was er mit seinen Freunden sammelte und erforschte. Seine Arbeitsgruppe kam nun immer öfter zu uns, und ich saß meist still in der Ecke und hörte ihnen zu.

Aber in Ordnung war längst noch nicht alles. Immer noch besuchte ich meinen Vater, und jedes Mal, wenn ich ihn sah, nahm ich mir vor, mit ihm zu reden. Aber ich schaffte es nicht. Er konnte kaum noch gehen, hörte schlecht, und ich fuhr ihn meistens im Rollstuhl durch den Park des Altersheims. Ich brachte es nicht fertig, ihn auf die Umstände anzusprechen, wie er zu dem Haus gekommen war, in dem auch ich jetzt wohnte.

Ich versuchte Dieter davon zu überzeugen, daß er mitkommen sollte, um mit Opa zu sprechen. Er wollte nicht. Doch nach ein paar Wochen hatte ich Dieter so weit, daß er mitkam. Opa freute sich, als er meinen Sohn sah, er hatte ihn fast ein Jahr nicht mehr gesehen. Er fragte ihn nach der Schule, und die beiden unterhielten sich, als wären sie gute Freunde. Ich dachte schon, daß Dieter seine Absichten aufgegeben hätte. Aber ich täuschte mich. Nach einem anfänglichen Herumgerede über alles mögliche kam Dieter zur Sache.

Er stellte meinem Vater dieselbe Frage wie mir: ob er die Familie Kolleg kenne? Nein, antwortete dieser, er hätte nie

von ihr gehört. Dieter fragte weiter, wie denn Opa zu dem Haus gekommen sei, in dem wir jetzt wohnten. Er hätte es gekauft, antwortete ihm mein Vater. Von wem denn, fuhr Dieter fort. Von einem Hausverwalter, sagte wieder Vater. Ob er denn wisse, wer vorher in dem Haus gewohnt habe, fragte ihn Dieter. Nein, wisse er nicht, sagte Vater.

Und so ging das Gespräch hin und her, ohne daß Dieter wirklich meinen Vater angriff. Er stellte ihm einfache Fragen, und mein Vater antwortete, ohne herumzureden, so wie er immer sprach. In mir kam langsam der Verdacht auf, daß Vater vielleicht wirklich nichts wußte. Aber Dieter mit seiner fast schon penetranten Art, Fragen zu stellen, ließ nicht locker. Bis Großvater die Geduld verlor. »Was versuchst du herauszubekommen?« fragte er Dieter. Und Dieter erzählte ihm von der Arbeitsgruppe und den Unterlagen, die sie über das Haus gefunden hatten, von dem Nachweis der Verschleppung der Familie Kolleg, die in unserem Haus wohnte.

Aber mein Vater wehrte alles ab. Das habe er nicht gewußt, er habe das Haus ganz normal gekauft, und er würde heute zum ersten Mal davon hören, daß in dem Haus vorher Juden gewohnt hätten. Dieter glaubte ihm nicht, verzichtete aber darauf, mit Opa einen Streit zu beginnen. Er flüsterte mir zu, daß es keinen Sinn habe, mit Opa darüber zu reden. Und so ließen wir es.

An diesem Tag starb mein Vater für mich. Den Menschen, den ich in den folgenden Monaten besuchte, kannte ich nicht mehr, und er interessierte mich auch nicht mehr. Belangloses sprach ich vor mich her, während ich ihn durch den Park schob, keine wirklichen persönlichen Gespräche gab es mehr. Vater war für mich seit dem Besuch mit Dieter ein Lügner. Und ich wollte gar nicht daran denken, was er mir im Laufe meines Lebens alles für Lügen erzählt hatte. Nichts war mehr sicher, alles konnte vielleicht nur teilweise oder verdreht berichtet worden sein.

Heute besuche ich Vater nur noch einmal pro Monat. Dieter kam seit damals nicht mehr mit. Ich fragte ihn auch gar nicht. Ich bin heute auf seiner Seite, und all meine Hoffnungen liegen bei ihm. Er ist unbeeinflußt von der Generation meines Vaters, und das ist gut so. Er wächst wesentlich freier auf als ich und ist auch lange nicht so autoritätsgläubig.

Aber das entscheidende Erlebnis mit meinem Sohn ist sicherlich das Loslösen mit ihm und durch ihn von meinem Vater. Dieser alte Mann im Heim dort ist mir völlig fremd. Wurde ein anderer im Rollstuhl sitzen, den ich durch den Garten fahre, es würde mir nicht auffallen.

STEFANIE

Mein Alter, der ist fromm wie ein Mönch. Immer nur Güte, immer nur Liebe. Aber Liebe so übers Hirn, verstehst du? Als ich das erste Mal über Nacht wegblieb, hat er geheult und gebetet. Liebe heißt für den, anderen in den Arsch kriechen. Immer mit dem Kopf nach unten herumgehen, die Augen bei den Schuhen des anderen. Was hab' ich bloß für einen Vater!

Und Mutter? Die ist nicht viel anders. Beide sind sie bei den Zeugen Jehovas. Warten auf irgendeinen Erlöser. Da bleiben nur sie und ihre Freunde übrig. Der Rest von uns geht unter. Der Tag hat bei uns immer so ausgesehen: Aufstehen - Beten - Jammern - Beten - Weinen - Beten - Schlafengehen. Aufregend, was?

Na ja, du weißt ja, warum das alles. Den Alten meines Vaters haben sie hingerichtet. Gleich nach dem Krieg. Manchmal, wenn Mutter völlig durchdreht, sagt sie, daß in mir der gleiche Teufel steckt wie in Großvater. Und mich würde genauso Gottes Strafe erreichen wie ihn. Schöne Aussichten, wa? Aber mich können die nicht irre machen.

Über Großvater darf zu Hause überhaupt nicht gesprochen werden. Der kommt nur in den Gebeten vor, Gott solle sich seiner Seele annehmen, und daß die Eltern in ihrem Leben alles wiedergutmachen würden. Fragt sich nur, was. Die machen sich kaputt und noch mich dazu, nur weil der Alte irgendein hohes Tier bei den Nazis war. Ich kenn' ihn von Bildern. Der sah toll aus. Die schwarze Uniform, die Stiefel, ein geiler Typ. Und der Haarschnitt, diese starren Augen, vor dem haben sicher alle gezittert. Nicht so wie bei meinem Alten, da zittert er vor allen.

Man kann ja sagen, was man will, über die Nazis, aber toll ausgesehen haben die schon. Die Männer zumindest. Die Frauen in ihren Blusen und den Frisuren, die kannst du vergessen. Aber es muß was los gewesen sein, damals. In der Schule sahen wir Filme mit Aufmärschen, Paraden. Wie die alle vor Begeisterung gebrüllt haben. Zeig mir doch heute mal ähnliches, du wirst nichts finden.

Ja, ich weiß, es war eine schlimme Zeit. Der Krieg, nichts zum Fressen, die Bomben, die Juden. Wir hatten da einen Geschichtslehrer. Lange Haare, Bart, Norwegerpullover. Was hat der uns nicht alles vorgelabert. Stundenlang über die Juden, die Kommunisten, die Zigeuner, die Russen, alles Opfer, nichts als Opfer. Der tat immer so, als ob er verfolgt worden wäre. Als ob heute noch die Nazis hinter ihm her wären. Aber was war er denn? Weder Jude noch Zigeuner, noch Russe. Höchstens Kommunist vielleicht. Ich hab' ihm das alles nie abgenommen. Wer weiß, ob das alles so schlimm war.

Einer aus der Klasse hat ihn mal gefragt: »Wo war denn das Tolle damals? Warum haben denn so viele Hurra und Heil gebrüllt? Warum waren die alle so begeistert? Da muß es doch

noch etwas anderes gegeben haben?« Da schaute er blöde, fing an, den Schüler als Neonazi zu beschimpfen, ob er denn keine Achtung vor den Opfern hätte. Aber wir anderen ließen nicht los. Endlich hat das einer mal ausgesprochen. Wir wollten wissen, was damals wirklich los war.

Da hatte sich richtig was aufgestaut. Immer nur Verbrechen und Schandtaten, und immer waren's wir, die Deutschen. Die ganze Klasse schrie durcheinander. Das sei alles Schwachsinn, was er uns hier erzähle, rief einer. Wir hätten es doch in den Filmen gesehen, die er uns gezeigt hat. Die lachenden Kinder, die leuchtenden Augen der Frauen, Hunderttausende in den Straßen, und alle haben sie gejubelt. Woher kam denn diese Begeisterung?

»Sie lügen uns was vor, Herr Lehrer«, sagte ich ihm ins Gesicht. Der guckte erst mal blöd aus der Wäsche, aber dann ging's erst richtig los. Der hat vielleicht losgebrüllt. Weg war der linke Softie von 68. Das war Wahnsinn, was sich dann getan hat. Der ging plötzlich los auf mich und hat nur noch getobt. Von mir hätte er nichts anderes erwartet, wenn eine so einen Großvater hätte, der als Verbrecher, nein, Kriegsverbrecher hat er gesagt, ich weiß es noch genau, also als Kriegsverbrecher hingerichtet worden sei. Ich sagte gar nichts. Aber hinter mir saß die Gudrun, meine Freundin. Die schrie plötzlich, er solle froh sein, daß mein Großvater nicht mehr lebe, sonst... weiter kam sie nicht. Da war dann so ein Wirbel, daß man niemanden mehr verstehen konnte.

Der Lehrer hat dann ohnehin durchgedreht. Der Feigling hat sich an den Direktor gewandt. Der linke Held, immer vom Widerstand gegen die Mächtigen reden und dann zum Direktor gehen. Ich kann dir sagen, der war verlogen, der Typ. Der Direktor kam in die Klasse und hielt eine lange Rede. Schuld und Scham liege auf uns, hat er gesagt. Auf ihm vielleicht, aber nicht auf mir. Mir brauchen die kein schlechtes Gewissen einzureden. Ich habe niemanden umgebracht, niemanden geschlagen, ich hab' keinem Hitler zugejubelt.

Wenn die glauben, daß sie was falsch gemacht haben, gut. Sollen sie sich einen Domenkranz aufsetzen und weinen bis an ihr Lebensende. Ich habe genug davon. Genug davon, daß immer nur wir Deutschen die Bösen waren. Daß immer wir alle daran erinnert werden müssen. Was heißt das - wir haben den Krieg begonnen, die Juden vergast, Rußland zerstört. Ich war's nicht, verdammt noch mal. Und keiner aus meiner Klasse und keiner meiner Freunde, und mein Vater schon gar nicht. Der zuckt schon zusammen, wenn einer die Tür zuschlägt.

Die haben doch damals alle, die sie für schuldig hielten, in Nürnberg hingerichtet. Die hatten doch ihr Schauspiel damals. Mein eigener Großvater war dabei. Was wollen sie noch von mir? Jedes Jahr das gleiche Theater in der Schule, Filme über KZ, Bilder über KZ, ich sag' dir, ich kann's nicht mehr hören.

Großmutter sagt immer, daß Großvater ermordet wurde. Für sie war das keine Verurteilung und Hinrichtung. Sie ist schon alt, 85, sitzt im Rollstuhl und redet oft so vor sich hin. Von Großvater erzählt sie nur, wenn Vater nicht dabei ist.

»Er war ein schöner Mann«, sagt sie dann immer, »groß, stolz, und in seiner Uniform konnte ihm keine widerstehen.« Auch von Hitler erzählt sie manchmal. Sie hat ihn einige Male persönlich gesehen. Leider sei er zuletzt verrückt geworden, sonst wäre der Krieg nicht verlorengegangen. Na ja, klingt alles ein wenig verrückt, aber sie erzählt das halt so. Und die Juden, meint sie, die hätten vernichtet werden müssen, sonst hätten die Deutschland vernichtet.

Ja, ja ich weiß, ich kann mir schon vorstellen, was du jetzt denkst, aber die Alte ist halt schon ziemlich weg vom Fenster. Obwohl, ganz unrecht hat sie nicht. Schau dir doch die Juden an heute. Angeblich haben kaum welche überlebt. Aber heute sitzen sie wieder überall. Ob ich einen persönlich kenne? Nein, eigentlich nicht. Aber sonst im Fernsehen, im Radio, in den Banken, den Zeitungen, überall wieder Juden. Ein Beispiel? Na, laß mich nachdenken. Na, zum Beispiel der Rosenthal mit seinem Dalli dalli.

Mißversteh mich nicht, ich bin kein Rassist. Ich hab' nichts gegen Juden, die sind mir ziemlich egal. Ich kenn' ja auch keinen. Aber mir immer vorwerfen, daß ich mit meinen 19 Jahren mitschuldig an der ganzen Sauerei gegen die Juden sei, ist doch lächerlich. Was heißt, wir hätten denen damals alles weggenommen? Was haben wir denn heute?

Meinem Vater haben sie den eigenen Vater weggenommen. Zwölf war er, als sie ihn hingerichtet haben. Die Mutter war allein mit den Kindern mit wenig Geld und ohne Ehr'. Jahrelang hat der Alte sich aufgeopfert, »fürs Vaterland gelebt und gekämpft«, und dann die Schlinge um den Hals. Mein Vater hat vielleicht eine Macke, aber ich kann's ihm nicht verübeln. Ich kann's schon verstehen, daß er zur Kirche gelaufen ist.

Weißt du, manchmal wär' ich ganz gern so ein armes Judenschwein. Heute zumindest, damals sicher nicht. Aber heute? Von allen bemitleidet, immer das große Opfer. Das Geld würden sie mir hinten reinschieben vor lauter schlechtem Gewissen, und alle Türen wären offen. Wiedergutmachung? Wenn ich das schon höre: Wer hat uns denn geholfen? Zu viert haben wir in einer Hinterhofwohnung gelebt, in drei Zimmern. Einmal pro Woche gab's Fleisch. Und an Taschengeld für Kino oder sonstwas war gar nicht zu denken. Was die denen gegeben haben, haben sie mir weggenommen.

Ja, ich hab' noch eine Schwester, von der rede ich nicht so gerne. Wir verstehen uns nicht besonders. Die ist drei Jahre

älter als ich und in jeder Beziehung das genaue Gegenteil von mir. Immer nur Gutes tun. Was hat die nicht alles gemacht, um die große Schuld loszuwerden. Buße, Sühne, lächerlich. Wofür? Was mischt sie sich da ein'?

Fährt jedes Jahr nach Israel, um in einem Lager freiwillig ohne Bezahlung zu arbeiten. Sitzt im Komitee gegen Ausländerhaß und im Komitee für christlichjüdische Verständigung. Die geht einem auf den Geist. sag ich dir.

Solche wie die haben uns doch kaputtgemacht. Die große Schwester. Daß ich nicht lache, ein großes Vorbild. Was sollte ich von der lernen? Die läßt sich ein Glas Bier ins Gesicht schütten und tut so, als ob es regnet. Die und ihre Freunde, die haben doch keinen Stolz. Das sollen die neuen Deutschen sein?

Das ist keine Menschlichkeit, was die zeigen. Das ist schlechtes Gewissen, gekrümmter Rücken und Angst. Natürlich bin ich nicht dafür, daß sich das alles noch einmal wiederholt wie damals. Aber dazu brauchen wir doch erst recht starke Typen, die das verhindern sollen. Aber meine Schwester und Company? Wenn die hier das Ruder übernehmen, wandere ich aus. Weg von diesen Jammerlappen.

Wenn ich es mir aussuchen könnte, dann in ein Land, das nicht einen Krieg verloren hat. Ich möchte einmal unter Siegern leben, nicht ständig unter Verlierern. Schau dir die Franzosen an, wie die stolz sind auf ihr Land. Oder die Engländer oder sogar die Russen. Würde einem von denen einfallen, im Ausland die eigene Nationalität zu verbergen? Meine Schwester spricht im Ausland immer Englisch, damit man sie nicht als Deutsche erkennt. Das muß man sich mal vorstellen!

Was ich jetzt mache? Gar nichts. Ich lebe, das genügt doch. Ein Jahr vor dem Abitur haben sie mich aus der Schule geworfen. Es war aber auch gleich, ich war sowieso nie dort. Ich war schon vorher mit Peter zusammen. Dann bin ich erst mal zu ihm gezogen, weg von zu Hause. Dann haben wir geheiratet. Ganz auf altmodisch. Peter hat sich einen alten Mercedes-Sportwagen gekauft, und wir sind nach Italien gefahren. Affengeil, sag' ich dir. Mit offenem Wagen. Aber auch das ging vorbei.

Zurück in Berlin, hab' ich versucht, Arbeit zu finden. Ich finde nichts. Was die mir auf dem Arbeitsamt anbieten. Die spinnen. Bin ich eine Türkin? Mich ödet das an. Job geben sie mir keinen, weil ich kein Abitur habe. Na ja, jetzt sitz' ich herum und warte auf Peter, bis er nach Hause kommt. Er hat mit einem Freund seine eigene Bude aufgemacht. Hat keinen Chef. Der hat's richtig gemacht.

Glaubst du, daß die damals alle so frustriert waren, wie sie uns heute einreden wollen? Ich möcht' so stolz sein wie die damals. Immer Kopf hoch und an die Zukunft glauben. Auch wenn's schiefgegangen ist, aber bis dahin muß es doch ein Wahnsinn gewesen sein. Ich möcht' mich auch so freuen können. Und ich schaff' das schon, ich sag's dir. Auf jeden Fall nicht so wie mein Vater. Was ist denn aus der alten Offiziersfamilie geworden?

Im Fotoalbum meiner Großmutter haben alle Männer Uniform an. Nicht nur der Großvater. Auch der Urgroßvater und der Ur-Urgroßvater. Alles heiße Typen. Wir waren mal wer. Herr und Frau General, Herr und Frau Obermarschall oder wie die alle damals hießen. Großmutter hat mit Großvater in einer Villa im Grunewald gewohnt und nicht so wie wir in drei Zimmern in Moabit. Der hatte einen eigenen Chauffeur und sechs Bedienstete, erzählt Großmutter immer.

Und da war was los damals. Herr und Frau Minister zum Tee, Herr Baron Soundso zum Abendessen, Bälle, Empfänge. Ich weiß ja nicht, ob es alles stimmt, was Großmutter erzählt. Aber es hört sich verdammt gut an. Vielleicht hat der Alte, als er schon am Galgen hing, gedacht, es hat sich trotzdem gelohnt.

Was hat er denn so Schreckliches getan, daß sie ihn aufhängten? Das hat mir noch keiner erklären können. Wie oft hab' ich meinen Alten schon danach gefragt. »Er war ein böser Mensch«, kam immer als gleiche Antwort. Und der Teufel sei in ihm gewesen, er habe Millionen Menschen auf dem Gewissen, habe Unheil über die Menschheit gebracht, so ging's weiter. Nicht ein normaler Satz. Nicht eine Erklärung, die ich verstanden hätte. Was war er? Ein Magier? Einer aus dem Zirkus, der Menschen verschwinden läßt? Ich weiß nicht, bin ich zu blöd, um das alles zu kapieren, oder die, die mir's erzählen?

Aber ich sag' dir, mir kann keiner einreden, daß es eine Schande ist, eine Deutsche zu sein. Die Zeit ist vorbei. Auch Peter und unsere Freunde denken so. Die 68er Softies können uns mal. Die sollen aufs Land ziehen, Gemüse anpflanzen, Müsli essen und Hühner mit Körnern aufziehen. Ich mag die Grünen nicht. Mit denen gibt es keinen neuen Stolz. Die haben Angst vor dem Atomkrieg, vor der chemischen Industrie, dem Waldsterben und der Volkszählung. Die sagen uns täglich, daß wir alle demnächst zugrunde gehen.

Ob ich ein Vorbild habe? Sag du mir, an wen soll ich mich halten hier in Deutschland? Die Gestrigen, die alten Nazis? Oder die neuen Grünen? Oder solche wie meine Eltern, die ihr Leben verzittern? Die letzten Mohikaner sind das. Wen ich toll finde? Na, mich.

(1987 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln.)

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Der Sohn eines hohen Wehrmachtsoffiziers »Sie sollen endlich alle aussterben. Vielleicht haben wir dann eine Chance für ein neues Deutschland.«

Peter Sichrovsky

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