»Ich werde sterben, und du auch«
Seit seiner Einweihung im Jahre 1982 ist das Washingtoner Vietnam-Memorial - 58132 Namen toter US-Soldaten eingemeißelt in schwarze Marmorplatten - längst zu einem amerikanischen Wallfahrtsort geworden. »The Wall«, die Mauer, hat die einst verachteten Krieger zu Helden gemacht, den Krieg laut Ronald Reagan zum »ehrenhaften Anliegen«.
Ein Stück weiter östlich auf der Mall, dem Pracht- und Paradegrünstreifen der US-Hauptstadt, wurde der Nation am 11. Oktober ein ganz anderes Mahnmal vorgestellt: Bei Sonnenaufgang legten Freiwillige einen riesigen, aus 1920 Stoffbahnen zusammengenähten Teppich aus.
Jede dieser Bahnen, 80 mal 160 Zentimeter groß, war dem Andenken eines Aids-Toten gewidmet, enthielt den Namen des Opfers, oft auch die Geburts- und Sterbedaten.
Eingearbeitet in diese Stoffteile waren die Versuche Hinterbliebener, Freunde, Eltern, Geschwister, mit dem vorzeitigen Tod der 30- bis 40jährigen fertig zu werden. Das reichte von aufgenähten, aufgeschriebenen Briefen und Gebeten zu eingearbeiteten Memorabilien wie Kleidung und Teddybären der Verstorbenen, von der frommen Hoffnung auf Auferstehung und Wiedersehen bis zur trotzigen Feststellung der Todesursache: »Toujours l''amour.«
Sonntägliche Spaziergänger reagierten ähnlich wie vor dem Vietnamdenkmal: Betroffenheit bei Unbeteiligten, Tränen bei Betroffenen. In einem allerdings unterschied sich der Todesquilt von seinem Vorbild: Er war bei weitem nicht vollständig. Am Tag, als in Washington der Teppich entfaltet wurde, hatte das amerikanische Zentrum für Seuchenbekämpfung CDC 24698 Aids-Tote in den Vereinigten Staaten gezählt.
Die Ausstellung des Leidens hatte - auch hier dem Kriegerdenkmal vergleichbar - einen kalmierenden Zweck: jene Diskussion abzuwürgen, die derzeit um Aids in den USA tobt und die, zwischen pragmatischen und ideologischen Flügeln der Regierung ausgetragen, eine sinnvolle Präventivstrategie verhindert .
Sichtbares Zeichen dieses Konflikts: Nach dem Rücktritt ihres Vorsitzenden droht die von Reagan eingesetzte überparteiliche Aids-Kommission an ihren ideologischen Grundsatzdifferenzen zu scheitern .
Das allerdings wäre nichts Neues. Seit im Jahre 1980, lange bevor die Seuche einen Namen hatte, die ersten Aids-Fälle in den USA diagnostiziert wurden, hat Aids-Politik eine Bekämpfung von Aids erfolgreich verhindert. Vorletzte Woche erschien in amerikanischen Buchhandlungen eine Studie, die detailliert nachzeichnet, »wie die Seuche gemacht wurde« (so »Newsweek").
Es ist ein Buch ohne Helden: Vor Aids versagten fast alle Personen und Institutionen. _(Randy Shilts: »And the Band Played ) _(On«, St. Martin''s Press, New York; 630 ) _(Seiten; 24,95 Dollar. )
Sie beantworteten die Herausforderung durch die Krankheit stets mit tödlich falschen Entscheidungen. Akribisch zerstört Buchautor Shilts, ein 36jähriger Journalist aus San Francisco, jene Mythen, die bislang die Hoffnung auf ein absehbares Ende der weltweiten Gesundheitskatastrophe wachgehalten hatten.
Die Aids-Forschung war eben keine Sternstunde der Wissenschaft, deren koordinierte Bemühung das tödliche Virus in erstaunlich kurzer Zeit isoliert und so die Voraussetzungen für dessen Bekämpfung geschaffen hätte.
Aids-Bekämpfung war eben nicht das Ziel, für das Politiker auf allen Ebenen auch nur in angemessenem Rahmen Gelder bewilligt hätten.
Und Aids-Verhinderung war schon gar nicht eine Aufgabe, für welche sich die größte Gruppe der Betroffenen, Amerikas homosexuelle Männer, besonders vehement eingesetzt hätte.
Im Gegenteil: Shilts'' Buch zeigt *___eine Administration, die sich in den ersten Jahren ____angeblich für Aids verwendete Forschungsgelder ____buchstäblich zusammenlog; *___Stadtverwaltungen, die die fortschreitende Seuche so ____lange ignorierten, bis die städtischen ____Gesundheitsbehörden unter der Last der ____Behandlungskosten zusammenzubrechen drohten; *___ein Wissenschafts-Establishment, dem die Aussicht ____auf Nobelpreise und prestigeträchtige ____Veröffentlichungen wichtiger erschien als Erfolge in ____der Therapie-Entwicklung; *___eine Sex-Industrie, die ihre Saunen und Orgienbars in ____den urbanen Zentren Amerikas erst dann schloß, als es ____bereits zu spät war; *___homosexuelle Polit-Aktivisten, die mit phrasenhafter ____Ideologie die Promiskuität auch dann noch verteidigten, ____als sich solches Verhalten längst als tödlich erwiesen ____hatte; *___eine Presse, die das Thema jahrelang verschlief, ____anschließend die falschen Horrorstorys veröffentlichte ____und dabei den Skandal der Aids-Politik übersah.
Die Kernthese des Buches lautet: Nur in den frühen Jahren der Aids-Epidemie, etwa zwischen 1981 und 1985, hätte eine Ausweitung der Seuche wirklich verhindert werden können. Die Bemühungen eines guten Dutzends behandelnder Ärzte, Gesundheitspolitiker, Virologen und Polit-Aktivisten, die das sich abzeichnende Ausmaß der Katastrophe rechtzeitig erkannten, mußten vergeblich bleiben.
Das fing an mit dem Air-Canada-Steward Gaetan Dugas. Er war einer der ersten Nordamerikaner, bei dem jener Hautkrebs Kaposi-Sarkom festgestellt wurde, der - später - als eines der am weitesten verbreiteten Aids-Syndrome diagnostiziert wurde.
Mit den Fluggutscheinen seiner Firma konnte der gutaussehende Mann nach Lust und Laune in Nordamerika herumfliegen und sich austoben. In New York, Los Angeles, San Francisco, Städten, in denen sich Homosexuelle in den Jahren zuvor politischen Einfluß erkämpft hatten, galt jederzeit verfügbarer Sex in Saunen und Backroom-Bars längst nicht mehr als etwas Anrüchiges. Im Gegenteil: »Recreational Sex«, Erholungssex, war einer der kräftig ausgenutzten Nebeneffekte schwuler Emanzipation.
Und Dugas war der Star der Szene. »ICH bin der Schönste«, hieß sein Standardspruch nach einem raschen Taxieren möglicher Partner in Bars und Saunen. Ein tödlicher auch. Später, nach seinem Tod im Jahre 1984, konnten die Seuchenforscher des CDC in Atlanta rekonstruieren, daß in mindestens 40 der 248 ersten US-Aids-Fälle die Opfer Sex mit Dugas oder mit Sex-Partnern von Dugas hatten. In den Studien des CDC tauchte Dugas als »Patient Null« auf.
»Patient Null«, von Ärzten und vom CDC auf die Infektionsgefahr hingewiesen, möchte jedoch so schnell nicht aufgeben. Shilts beschreibt, wie Dugas sich bis zu seinem Tode weiter in der Sex-Szene herumtreibt, Partner sadistisch auf seine Krankheit hinweist und sagt: »Ich werde sterben und du auch.«
Die Frage, ob Dugas wirklich der erste Aids-Infizierte war, ist jedoch belanglos. Der Aids-Forscher Marcus Conant, einer der ersten, die seit 1981 beständig vor der drohenden Gefahr gewarnt haben, sagt: »Wenn es nicht dieser Mann gewesen wäre, hätte es einen anderen gegeben. »
Die frühzeitigen Warnungen von Professor Conant und einigen Kollegen wurden in den Anfangsjahren geflissentlich überhört. Dennoch blieb lange Zeit verborgen, daß die Gesundheitsbürokratie in den ersten Seuchenjahren kaum zu bewegen war, spezifisch für die Aids-Forschung Gelder zu bewilligen.
Bei Anhörungen im Kongreß behaupteten Gesundheitspolitiker wie die Reagan-Ministerin Margaret Heckler ihr enger Mitarbeiter Edward Brandt die Chefs des CDC und der staatlichen Forschungsinstitute fortwährend, daß für Aids-Research ausreichende Mittel zur Verfügung ständen. Gleichzeitig verfaßten sie ein internes Memo nach dem anderen, in denen sie - vergebens - um Forschungsgelder bettelten.
Journalisten gegenüber brüsteten sich die Gesundheitsbeamten damit, daß 75 bis 120 Mitarbeiter allein im Seuchenbekämpfungszentrum von Atlanta mit Aids beschäftigt seien. In Wirklichkeit waren es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung allenfalls 10 bis 20.
Besuchern des Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten im Washingtoner Vorort Bethesda wurde weisgemacht, 27 Millionen Dollar seien bereits für Aids-relevante Forschung ausgegeben worden. Doch eifrige Institutsbedienstete hatten schlicht alle Ausgaben für Virusforschung, also auch für Schnupfen, zusammengezählt. An spezifischer Aids-Forschung hatte das gut ausgestattete Institut gerade 750000 Dollar ausgegeben.
Die traurige Ironie dabei: Von Anfang an war der US-Kongreß bereit gewesen,
für Aids-Forschung mehr Gelder zu bewilligen, als die Reagan-Regierung anforderte. Sogar konservative Senatoren sorgten dafür, daß rechte Ideologen, die in der Seuche eine Gottesstrafe entdeckten, die Genehmigung von Aids-Geldern nicht gefährden konnten.
Nicht viel anders das Bild auf lokaler Ebene. Aus politischen Gründen etwa wich Bürgermeister Ed Koch im am schwersten betroffenen New York dem Problem aus: Wahlkampfgegner hatten eine Flüsterkampagne gegen den Junggesellen Koch gestartet. Nun wollte er dem Anschein, er selbst sei homosexuell, nicht durch Ausgaben für die Aids-Bekämpfung neue Nahrung geben.
Einzige Ausnahme unter den Städten ist San Francisco. Weil dort Polit-Aktivisten des Homosexuellen-Bezirks Castro in den vergangenen Jahren die Schwulen-Stimmen geschlossen dem Partei-Establishment der Demokraten zugeschanzt hatten, konnten sie erfolgreich Gelder für die Aids-Bekämpfung einfordern.
Daß 1982 die Stadt allein 20 Prozent aller Aids-Mittel in den USA aufbrachte, spricht, laut Autor Shilts, weniger für Bürgermeisterin Dianne Feinstein, die wie alle anderen Politiker auch nur unter Druck handelte, als für das sträfliche Versäumnis der Politiker im Rest des Landes.
Als im Mai 1987 Ronald Reagan seine erste Rede zur Aids-Epidemie hielt, zählte das CDC bereits 36058 Aids-Fälle und 20849 Tote.
Was bisher als einer der wenigen Hoffnungsschimmer galt, die relativ rasche Isolierung des auslosenden Virus HIV, ist in Wirklichkeit, wie Shilts belegt, auch nur frommer Schein. Das Retrovirus, welches das Immunsystem der Infizierten zerstört, hätte gut zwei Jahre eher entdeckt werden können.
Schon 1981 war den meisten der mit Aids konfrontierten Ärzte klar, daß die sich häufenden Fälle von Kaposi-Sarkom und der Lungenentzündung PCP auf einen Zusammenbruch des Immunsystems zurückzuführen seien, der auf einer Infektion beruhen müßte.
Doch die Suche nach dem tödlichen Virus wurde monatelang aufgeschoben. Mal konnte ein Virologe der Universität von Kalifornien keine 1500 Dollar auftreiben, die er für einen Luftfilter benötigte, um seine Labor-Untersuchungen zu beginnen. Mal blieb eine frühe Feldstudie des CDC, die den ersten indirekten Beweis für eine Infektionskrankheit geliefert hätte, unausgewertet liegen, weil sich das CDC keinen Statistiker leisten konnte.
Wichtige Forschungsergebnisse in den frühen Jahren der Aids-Bekämpfung wurden nicht rechtzeitig bekannt, weil ihre Verfasser sie zur Veröffentlichung in Fachblättern aufsparten. Dann wiederum fehlte es schlicht an Kooperationsbereitschaft. Der Star der amerikanischen Aids-Forscher, Professor Robert Gallo, weigerte sich, dem CDC Hilfestellung zu geben, nachdem die Seuchenzentrale in Atlanta einen seiner Assistenten abgeworben hatte.
Als verhängnisvollste Verzögerung in der HlV-Forschung erwies sich der Kampf zwischen Gallos National Cancer Institute und dem Pariser Pasteur-Institut um die Frage, wer denn als erster das Aids-Virus entdeckt habe. Da ging es nicht nur um Nobelpreise, sondern auch um Patente für die profitversprechende Entwicklung eines Aids-Tests.
Gegen die Franzosen, die das Virus bereits 1983 isoliert hatten, führten amerikanische Forscher einen Gerüchtefeldzug: Die Blutproben des Pasteur-Instituts seien unsauber gewesen, die Ergebnisse mithin falsch.
Eine außergerichtliche Einigung, die 1987 den Franzosen Luc Montagnier und den Amerikaner Robert Gallo als »Co-Entdecker« des Virus ausweist, bezeichnet Shilts als »freundliches Märchen": Gallo habe das Virus von Präparaten gestohlen, die das Pasteur-Institut zur Überprüfung seiner Ergebnisse nach Washington geschickt hatte - ein Vorwurf, den Gallo vehement dementiert.
Ungehindert konnte sich die Seuche aber auch deswegen ausbreiten, weil die Mehrheit homosexueller Politiker und Bürgerrechtsaktivisten sich nicht dazu durchringen mochte, rechtzeitig für Präventivmaßnahmen zu werben und von sich aus darauf zu dringen, die Sex-Paläste in den Großstädten zu schließen. Am Beispiel San Franciscos schildert Shilts den Pyrrhussieg derjenigen, die seit 1982 auf die Gefahr von Promiskuität hingewiesen hatten.
Ärzte, die ihren Patienten wenigstens »Monogamie a la Liz Taylor« empfahlen, also jeweils nur einen Liebhaber zur Zeit, wurden als »Sexualfaschisten« diffamiert. Der Chefredakteur der Homosexuellen-Zeitung »Bay Area Reporter beantwortete einen offenen Brief von Aids-Kranken, für sexuelle Zurückhaltung einzutreten, auf seine Weise: Jedesmal, wenn ein weiterer Briefschreiber gestorben war, strich er mit rotem Filzstift die Unterschrift durch.
Der Besitzer einer örtlichen Schwulen-Sauna beendete die Konfrontation mit einem Aids-Arzt im San Francisco General Hospital mit den Worten: »Wir wollen doch beide das gleiche. Geld. Wir machen das Geld, wenn sie in die Sauna kommen. Ihr Ärzte macht das Geld, wenn sie dann hierherkommen.«
Als der Chef der Gesundheitsbehörde von San Francisco 1984 endlich durchgriff und dieser Art kommerzialisiertem Sex ein Ende bereitete, war es längst zu spät. Über die Hälfte aller Homosexuellen in San Francisco hatte sich bereits infiziert.
Wenn alles so weiterläuft wie bisher- und Shilts'' Buch gibt kaum Anlaß, daran zu zweifeln -, besteht wenig Hoffnung, die Seuche in den nächsten Jahren einzudämmen. Der Aids-Opfer-Teppich wird weiterwachsen.
In 35 Städten wollen die Organisatoren des Projekts das makabre Mahnmal im nächsten Jahr auslegen. Wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl soll der Quilt nach Washington zurückkommen. Dann wird er, so hofft und fürchtet Aktionschef Cleve Jones, die ganze Mall bedecken.
Dann wird Aids auch genauso viele Amerikaner getötet haben wie der Vietnamkrieg. _(Mit dem amerikanischen Surgeon General ) _(Everett Koop. )
Randy Shilts: »And the Band Played On«, St. Martin''s Press, NewYork; 630 Seiten; 24,95 Dollar.Mit dem amerikanischen Surgeon General Everett Koop.