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Artikel 54 / 87

»Ich will das Weltgewissen sein«

aus DER SPIEGEL 37/1972

SPIEGEL: Herr Waldheim, Sie sind auf dem besten Weg, der aktivste aller bisherigen Uno-Generalsekretäre zu werden. Schon in den ersten acht Monaten Ihrer Amtstätigkeit haben Sie einen Rekord an Reisen und an Kontroversen hinter sich gebracht.

WALDHEIM: Ich muß aktiv sein. Denn die Vereinten Nationen befinden sich meiner Meinung nach an einem Scheideweg: Wollen sie bestehen oder sich selbst aufgeben? Natürlich wäre es für mich einfacher, schön still und ruhig zu bleiben. Dann würde ich sicherlich nirgends anstoßen. Aber dann döst die Organisation dahin. Dann erfüllt sie nicht ihren Zweck.

SPIEGEL: Wann erfüllt sie ihren Zweck?

WALDHEIM: Wenn sie nicht döst, wenn man wieder mit ihr rechnet, wenn ihre Glaubwürdigkeit zunimmt.

SPIEGEL: Dafür haben Sie einen ernsten Konflikt mit den USA in Kauf genommen, mit jener Supermacht also, die Gastgeber der Vereinten Nationen ist und nicht weniger als 31,5 Prozent des Budgets bezahlt.

WALDHEIM: Der Generalsekretär vertritt ja nicht den einen oder anderen Uno-Mitgliedstaat, die eine oder andere Großmacht, er vertritt alle 132 Mitgliedstaaten. Man wird mir auf die Dauer nur dann Glauben schenken, wenn ich mich niemals durch Bedeutung oder Stärke eines Landes beeinflussen lasse. Die Vereinten Nationen haben keine Exekutivkraft. Also müssen sie ihre moralische Kraft ins Spiel bringen, gegenüber allen ohne Unterschied. Ich versuche immer, das mahnende unparteiische Weltgewissen zu sein.

SPIEGEL: Dennoch hat Ihnen Präsident Nixon einseitige Parteinahme zugunsten Hanois vorgeworfen.

WALDHEIM: Ich war nicht einseitig. Ich habe nicht nur über das Bombardement nordvietnamesischer Dämme durch amerikanische Flugzeuge gesprochen. Ich habe bereits im April dieses Jahres, nach Beginn der nordvietnamesischen Offensive in Südvietnam, meine ernste Besorgnis über die Eskalation des Krieges zum Ausdruck gebracht. Deshalb bin ich damals von der anderen Seite kritisiert worden.

SPIEGEL: Inzwischen sind Sie gerechtfertigt. Selbst amerikanische Zeugen bestätigen: Die nordvietnamesischen Dämme wurden tatsächlich getroffen.

WALDHEIM: Schauen Sie, meine Erklärungen sind vielfach entstellt wiedergegeben worden. De facto war es so: Ich wurde auf einer meiner üblichen Pressekonferenzen ganz konkret befragt, was ich von den Nachrichten über die Zerstörung nordvietnamesischer Dämme durch US-Flugzeuge wüßte. Hätte ich da etwa sagen sollen: Ich weiß nichts davon? Ich erklärte: Ich habe private inoffizielle Informationen aus Hanoi erhalten, denen zufolge Damme bombardiert werden. Ich bin nicht in der Lage, diese Behauptungen zu verifizieren. Auch vermag ich nicht festzustellen, ob die berichteten Bombardierungen absichtlich oder unabsichtlich erfolgten. Von seiten Amerikas ist mir versichert worden, daß die Dämme nicht bombardiert werden. Falls aber die Informationen doch zutreffend sind, so sehe ich mich veranlaßt zu appellieren, dieses Vorgehen einzustellen, um großes menschliches Unglück unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Schließlich ist es meine Pflicht als Uno-Generalsekretär, immer dann meine Stimme zu erheben, wenn es um humanitäre Anliegen geht.

SPIEGEL: Aus welcher Quelle kamen Ihre »privaten inoffiziellen Informationen aus Hanoi«?

WALDHEIM: Von jemandem, der für mich Kontakt mit Hanoi hält. Wie Sie wissen, war ich schon in der Vergangenheit bemüht, mich hilfreich in das Vietnam-Problem einzuschalten. Ich habe versucht, den Sicherheitsrat einzuschalten. Ich habe wiederholt meine guten Dienste angeboten.

SPIEGEL: Ihre guten Dienste wurden nicht akzeptiert. Washington und Hanoi haben abgelehnt. Ebenso hat London abgelehnt, als Sie Ihre guten Dienste zur Beilegung des nordirischen Bürgerkrieges anboten. Entmutigt Sie das nicht?

WALDHEIM: Nein. Ich bin Realist genug, um zu wissen, daß meine offerierten guten Dienste in gewissen Fällen abgelehnt werden. Die Regierungen verweisen dabei auf den Artikel 2 der Uno-Charta, der jede Einmischung in interne Angelegenheiten verbietet.

SPIEGEL: Mit anderen Worten: Sie bieten Ihre Intervention unverdrossen. ja demonstrativ immer wieder an, um der Welt vor Augen zu führen: Die Vereinten Nationen schlafen nicht, nur läßt man sie leider oft nicht agieren.

WALDHEIM: Richtig! Das gilt für Nordirland, das gilt für Vietnam. Ich will nicht zulassen, daß man den Vereinten Nationen vorwirft, sie seien nicht bereit, etwas zu unternehmen. Die Uno ist als Friedensinstrument in die Welt gesetzt worden. Ihr Generalsekretär hat die Pflicht, seine Hilfe anzubieten, wo immer der Frieden gefährdet

* Mit Dr. Inge Cyrus und Waldheim-Dackel Lexi.

ist. Er hat die Pflicht, kein stummer Zuschauer zu sein. Wenn dieses Friedensinstrument ungenützt bleibt ...

SPIEGEL: ... dann liegt die Verantwortung nicht mehr bei Ihnen und bei den Vereinten Nationen?

WALDHEIM: Eben. Genau das habe ich kürzlich in New York vor einer Versammlung amerikanischer Unternehmer festgestellt. Ich habe gesagt: Ich nehme es nicht hin, daß die Uno ständig wegen ihrer Ineffizienz kritisiert wird, während sie in Wirklichkeit sehr oft durch die Mitgliedstaaten zum Zuschauen verurteilt wird.

SPIEGEL: Ihr Vorgänger U Thant hat lieber in der Stille verhandelt.

WALDHEIM: Das tue ich zusätzlich auch. Ich versuche beides -- den offenen Appell und die »quiet diplomacy«. In Vietnam und im Mittleren Osten habe ich als Generalsekretär selbstverständlich meine Kontakte auf beiden Seiten. Denn solange ich nur das Sprachrohr einer Seite bin, kann ich unmöglich vermitteln.

SPIEGEL: Im Gegensatz zum Außenminister eines Staates hat der Uno-Generalsekretär keine eigenen Botschafter in aller Welt. Welche praktischen Möglichkeiten zur »quiet diplomacy« stehen ihm zur Verfügung?

WALDHEIM: Ich habe keine eigenen Botschafter in aller Welt, das stimmt. Aber ich habe die 132 Bot. schafter der Uno-Mitgliedstaaten, die bei der Uno in New York akkreditiert sind. Wenn sich zum Beispiel ein Grenzkonflikt zwischen den beiden Jemen entwickelt, kann ich mit den beiden zuständigen Botschaftern sprechen.

SPIEGEL: Die Botschafter sind dann allerdings Partei.

WALDHEIM: ich kann ferner Sonderbeauftragte entsenden, die ohne Aufsehen mit den Regierungen im Sinne meiner Vorstellung sprechen. Das habe ich zum Beispiel im Fall Zypern getan. Meine eigene Reise dorthin war monatelang gründlich vorbereitet worden. Ich bin erst gefahren, als ich erkannte, daß die eingefrorene Situation wieder in Fluß kommt, daß wir nun in der Lage sind, die politischen Verhandlungen wieder aufzunehmen.

SPIEGEL: Auf Zypern ist zweifellos ein Fortschritt erzielt worden. Wo noch? Wo sind die Aktiva in der Bilanz Ihrer ersten acht Monate?

WALDHEIM: Im Fall von Namibia, ehemals Südwestafrika, wurden zwei gründsätzliche Resultate erzielt: Die südafrikanische Regierung ist nun bereit, einen Beauftragten des Generalsekretärs zu akzeptieren sowie das Recht der Bevölkerung von Namibia auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit anzuerkennen. Über Zypern haben wir schon gesprochen. Auch zwischen Nord- und Südkorea kam es zu einer Annäherung. Im Fall Bangladesch konnten wir uns wenigstens humanitär einschalten. Da haben wir die bisher größte Hilfsaktion der Uno in der Größenordnung von etwa 600 Millionen Dollar gestartet, Millionen Menschen vor einer Hungerkatastrophe bewahrt und hoffentlich zu einer politischen Stabilisierung beigetragen.

SPIEGEL: Was betrachten Sie als die ärgste Enttäuschung Ihrer ersten acht Monate?

WALDHEIM: Daß wir im Nahen Osten nicht weitergekommen sind.

SPIEGEL: Sehen Sie nach der Entfernung der Sowjets aus Ägypten neue Ansatzpunkte für eine Aktivität der Vereinten Nationen?

WALDHEIM: Nein. Ich glaube, man muß erst einmal die allerjüngste Entwicklung sorgfältig beobachten zur Politik gehört halt Geduld und wieder Geduld. Zumindest muß man abwarten, ob während der Generalversammlung irgendwelche Initiativen ergriffen werden, sei es von der Generalversammlung selbst, sei es von der einen oder anderen Partei.

SPIEGEL: Die Bilanz Ihrer Aktiva und Ihrer Passiva zeigt mithin Erfolge bei relativ kleinen Krisenherden, Mißerfolge bei den großen ...

WALDHEIM: Wundert Sie das? Naturgemäß neigen gerade die größeren Staaten dazu, ihre Probleme bilateral zu lösen, und kommen auch dann nicht zu den Vereinten Nationen. wenn die bilaterale Lösung mißlingt. Aber ich lasse mich nicht decouragieren. Wenn erst einmal die kleineren Konflikte aus dem Weg geräumt sind, werden wohl auch die größeren etwas leichter. Denn ich glaube fest daran: Mit jedem gelösten kleineren Konflikt wächst das Prestige der Vereinten Nationen -- es wird à la longue schwieriger werden, uns abzuweisen.

SPIEGEL: Weil wir bei Bilanzen sind: Wie steht es um die Kasse? Sie haben ein Defizit von über 80 Millionen Dollar geerbt, das Sie abbauen müssen.

WALDHEIM: Sagen wir genauer: von etwa 65 Millionen. Die Frage der zusätzlichen 18 Millionen, die Formosa an Schulden hinterlassen hat, bleibt vorerst zwangsläufig ungelöst.

SPIEGEL: Die finanzielle Lage verschlimmert sich noch weiter, weil die USA beabsichtigen, ihren jährlichen Mitgliedsbeitrag von 31,5 auf 25 Prozent des Uno-Budgets zu reduzieren.

WALDHEIM: Immerhin ist es gelungen, die kurzfristigen Finanzfragen zu lösen. Ich habe die Regierungen gebeten, ihre Beitragsleistungen in die ersten Monate des Jahres vorzuziehen. Damit haben wir genügend Mittel, um die Gehälter des Personals zu bezahlen, was in den vergangenen Jahren mitunter fraglich war.

SPIEGEL: Und die langfristigen Finanzsorgen?

* Mit Premier Tschou El-lai.

WALDHEIM: Was sind denn 65 Millionen Dollar? Zum Vergleich kann ich Ihnen sagen: Allein der freiwillige amerikanische Jahresbeitrag für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen beträgt über 80 Millionen Dollar. Ich hoffe, daß es während der bevorstehenden Generalversammlung gelingen wird, die Schuldenfrage auf der Basis freiwilliger Beitragsleistungen zu lösen. Frankreich ist da bereits mit gutem Beispiel vorangegangen. Es hat im April, während meines Paris-Besuchs, freiwillig drei Millionen Dollar bezahlt.

SPIEGEL: Derzeit zahlen die Sowjets 14,6 Prozent des Uno-Jahresbudgets, die Chinesen vier. Haben Sie von Ihren Besuchen in Moskau und Peking finanzielle Versprechungen mitgebracht?

WALDHEIM: Ich habe da wie dort auch über das Finanzielle geredet, ohne allerdings bindende Zusagen zu erhalten. Vom nächsten Jahr an dürfte sich die Finanzsituation durch die zu erwartende Aufnahme der beiden Deutschland in die Vereinten Nationen wesentlich erleichtern. Aber ich will gleich hinzufügen: Ich bin nicht etwa deshalb für die Uno-Mitgliedschaft der beiden deutschen Staaten, weil wir solcherart einen Teil unserer Geldsorgen loswerden. Ich bin im Interesse einer wirklichen Universalität der Vereinten Nationen dafür.

SPIEGEL: Ist Ihnen die versprochene innere Reorganisation des Uno-Apparats gelungen?

WALDHEIM: Ich habe meine Spitzenkader weitgehend erneuert und dafür auch Männer aus der Wirtschaft, nicht nur aus der Bürokratie, geholt. Außerdem habe ich mir, wie Sie wissen, das Ziel gesetzt, in diesem Jahr sechs Millionen Dollar an Verwaltungskosten einzusparen. Das dürfte gelingen.

SPIEGEL: Wie denn?

WALDHEIM: Erstens durch eine seit Jahresbeginn verfügte Aufnahmesperre. Mehrere hundert Posten sind dadurch unbesetzt geblieben. Und zweitens durch eine straffe Reduktion nicht unbedingt notwendiger Aktivitäten inklusive der Reisetätigkeit.

SPIEGEL: Allerdings außer Ihrer eigenen Reisetätigkeit.

WALDHEIM: Meine eigene halte ich für unumgänglich nötig. Wer macht einem Regierungschef Vorwürfe, wenn er ins Ausland fährt? Niemand. Wir leben im technischen Zeitalter, wo man in sechs Stunden von New York in Paris oder London und in 16 Stunden in Peking ist. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß die Vereinten Nationen nicht nur in New York existieren. Ich will nicht ausschließlich im Glashaus am East River sitzen und den Kontakt mit der Wirklichkeit verlieren.

SPIEGEL: Nehmen wir ihre kürzliche China-Reise. Was hat sie eingebracht?

WALDHEIM: Ich habe drei Stunden mit Tschou En-lai gesprochen, sechs Stunden mit dem Außenminister. Beide haben zugesichert, die Vereinten Nationen voll und ganz zu unterstützen, wobei sich China besonders um die Mittel- und Kleinstaaten bemüht. Sehr ausführlich sind die asiatischen Probleme erörtert worden. Die Gespräche waren für mich sehr interessant. Schließlich ist die nächste Generalversammlung die erste, an der China voll teilnehmen wird.

SPIEGEL: Wie sehen Sie die Rolle Chinas? Als dritte Uno-Supermacht, gleichrangig neben den USA und der UdSSR?

WALDHEIM: Die Chinesen bezeichnen sich selbst nicht als Supermacht. Sie lehnen diesen Ausdruck ab. Sie sagen: Wir wollen unsere Möglichkeiten nicht negativ ausnützen.

SPIEGEL: Alles in allem: War Ihr Amt schwieriger, als Sie erwartet haben, oder war es leichter? Haben Sie mehr oder weniger Unterstützung gefunden als erhofft und befürchtet?

WALDHEIM: Ich darf mich nicht beklagen. ich habe ja gewußt, daß es ein schwieriger Job ist, daß ich gute Nerven brauchen werde. Ebenso habe ich nach 28 Jahren diplomatischer Tätigkeit gewußt, daß ich in acht Monaten unmöglich alle Probleme lösen kann, mit denen die Uno konfrontiert ist. Manche Enttäuschung soll mich nicht davon abhalten, offen und direkt -- wie unter Freunden üblich -- die Meinung zu sagen. Leisetreterei ist noch nie geachtet worden, vor allem nicht von den Großmächten.

SPIEGEL: Herr Dr. Waldheim, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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