Zeitweise geht es so leise zu, als seien die zu besprechenden Dinge den Ohren Neugieriger vorzuenthalten. Der Vorsitzende Richter spricht gedämpft. Die Frau auf der Anklagebank haucht ihre Worte in kaum moduliertem Singsang. Der Psychiater verfällt zeitweise in murmelndes Selbstgespräch. Keiner scheint vom anderen Notiz zu nehmen.
Das Publikum, unwirsch, will etwas hören. »Es reicht, wenn das Gericht alles versteht. Sie haben keinen Anspruch darauf.« Diesmal spricht der Richter vernehmlich. Die Frau beharrt, daß das Publikum außer ein paar Presseleuten ausgeschlossen werde. Sie wolle vor so vielen Menschen nicht sprechen.
Das Gericht weist sie ab: Ihr werde vorgeworfen, ein Attentat auf einen prominenten Politiker, eine Person des öffentlichen Lebens, verübt zu haben. Da bestehe ein besonderes Informationsinteresse der Allgemeinheit über die Beweggründe der Beschuldigten.
Adelheid Streidel, 43, ist eine seelisch schwer kranke Frau. Sie leidet unter grauenerregenden Wahnvorstellungen, einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. Muß die Öffentlichkeit darüber detailliert informiert werden? Muß diese Krankheit öffentlich vorgeführt werden? Der Richter weigert sich, ein Mikrofon zu benutzen ("weil es die wechselseitige Befangenheit vergrößert"), und findet damit den Weg zwischen Information und Diskretion.
Die Frau nimmt nicht wahr, sie kann nicht hinnehmen. Sie wehrt sich gegen den Gerichtsbeschluß, hilflos, fahrig, sie greift in falschem Ton an, wo sie besser schwiege, sie kann nicht innehalten. Sie ist anderen Autoritäten unterworfen als zum Beispiel der 12. Großen Strafkammer des Landgerichts Köln. Sie fordert, sie erwartet Bestätigung und Unterstützung vom Gericht, nicht Widerspruch. Denn etwas Böses - nach ihrer Logik - hat sie schließlich nicht getan.
Zunächst weigert sie sich auszusagen. Ihren Werdegang ausführlich zu schildern lehnt sie in öffentlicher Sitzung ab. Was habe dies denn mit dem Attentat auf Oskar Lafontaine zu tun? Das sei alles Quatsch. So wird - zwischen Information und Diskretion - die Möglichkeit vertan, etwas mehr als nur dürftige Daten zu erfahren: wo die Bruchstellen in dem trostlosen Leben der Adelheid Streidel sind, welche Erlebnisse bedeutsam waren für den Weg ins seelische Abseits.
So geht es über die Verlesung von Aktenstücken in von Feindseligkeit und Peinlichkeit nicht freiem Ton rasch voran, bis Adelheid Streidel beginnt, von ihren Wahnideen zu sprechen. Sie brachen offenbar in dem Jahr aus, 1978, als ihre Ehe zerbrach. Sie deutet es nur an: »Wir haben geheiratet, dann hat er studiert, und danach haben wir uns getrennt . . .« Sie hat den Mann wohl um seine Ausbildung beneidet, seine ungleich besseren Chancen. Sie konnte offenbar nicht mithalten, hatte die Realschule abgebrochen. »Er fand das höchst albern«, sagt sie, was sie ihm über »Stimmen« und »Erscheinungen« berichtete.
Damals fing es an mit den Wissenschaftlern, von denen sie sich über die Gefahren für Erde und Menschen unterrichtet fühlte. Die ihr angeblich berichteten, in riesigen unterirdischen Tötungsfabriken würden Menschen aus unteren sozialen Schichten zu Konserven verarbeitet oder zu Intellektuellen umfunktioniert, indem man ihnen den Kopf abtrennte und einen neuen annähte. Sie habe einmal einen Film gesehen, in dem Bundeskanzler Kohl eine solche Fabrik besichtigte. Sie wisse, daß es Tötungsfabriken etwa unter dem Frankfurter Flughafen gebe, auch unter anderen Flughäfen, in einem Tal in der Nähe von Bad Neuenahr.
Eines Tages sei ihr Jesus Christus erschienen und habe sie mitgenommen in eine Hamburger Lebensmittelfabrik, in der ebenfalls Menschenfleisch verarbeitet worden sei . . . Er habe ihr gezeigt, was die Politiker verheimlichten.
Die Wissenschaftler hätten ihr eine Frist von etwa zehn Jahren gesetzt, in der sie auf diese von der Bonner Regierung gebilligten Zustände aufmerksam machen sollte. So habe sie Plakate, Flugblätter verteilt und demonstriert gegen die Menschentötungsfabriken. Wenn dies alles nicht helfe, so ihr Auftrag, sollte sie einen deutschen Politiker töten. Jesus Christus habe sie aufgefordert, sofort ans Werk zu gehen, damit dem Töten ein Ende bereitet werde.
Der Vorsitzende Richter Dr. Bruno Terhorst, 49, der als besonders versiert im Umgang mit psychisch gestörten Angeklagten gilt, stellt einige Fragen: Ob sie mal Menschen gefunden habe, die ihre Ansichten teilten? Ob sie nicht daran gedacht habe, nach einem Attentat auf einen Politiker festgenommen zu werden? Ob sie denn nicht um ihren Arbeitsplatz gebangt habe?
Solche Fragen bewegen Gesunde. Sie stoßen in die Welt der Adelheid Streidel nicht vor. Sie brauchte nicht Gesinnungsgenossen, sie war sich überirdischer Hilfe sicher. Ob sie ihr Ziel erreicht habe? Nein, das hat sie nicht. Sie mußte einen Politiker töten, um die Menschen in Deutschland vor den Tötungsfabriken zu schützen.
Die Wahnwelt der Frau Streidel ist ein geschlossenes, starres, in sich logisches Gebilde. Sie spricht seltsam spielerisch davon, nicht zerquält von Sorge, Zorn, Angst oder Schrecken. Auch über die Tat spricht sie so: »Es ist richtig, daß ich vorhatte, Herrn Rau oder Herrn Lafontaine zu töten. Es hätte auch jeder andere Politiker sein können. Ich wollte die Halsregion treffen, wissen Sie, ich bin medizinische Assistentin, ich weiß, daß dann ein schneller, wenn auch nicht schmerzloser Tod eintritt. Ich wollte wirklich töten.«
Mit den Vorbereitungen der Tat am 25. April dieses Jahres begann sie etwa 14 Tage vorher. Da kaufte sie sich in einem Kaufhaus ein starkes, spitzes Fleischmesser. Wenig später erwarb sie ein etwas kleineres, falls eines beim Zustechen abbrechen sollte. Bei der SPD-Zentrale in Düsseldorf erkundigte sie sich nach Wahlkampfveranstaltungen.
Am Vormittag des Tattages, an dem Lafontaine und Rau in der Stadthalle von Köln-Mülheim sprechen sollten, verrichtete sie unauffällig ihren Dienst in der Praxis eines Internisten in Bad Neuenahr. In weiße Sommersachen gekleidet, recht unpassend zu jener Jahreszeit, fuhr sie im Taxi nach Köln, trank Kaffee, kaufte sich eine Strumpfhose, weil sie eine Laufmasche an sich feststellte, und zwei Blumensträuße. Schon nachmittags sitzt sie im Saal, als die Ordner das Lokal durchsuchen und eine Rockband probt.
Einer jungen, 1,90 Meter großen Krankenschwester, die aushilfsweise Ordnerdienste tut, fällt die nur 1,51 Meter kleine, weißgekleidete Frau auf: Diese habe etwas ausgestrahlt, was ihr schon bei den Patienten in der Psychiatrie aufgefallen sei. Sie habe verlangsamt und sehr ruhig gewirkt, »irgendwie so ein bißchen daneben«.
Eine weitere Zeugin vom Tatort fühlt sich von der unruhigen Art der Weißgekleideten gestört. »Sie packte die Blumen aus und wieder ein, sie stellte ihre Tasche unter den Stuhl, holte sie wieder rauf, so ging das ständig.«
Die Sicherheitskräfte, so schildert es der Kölner Kriminalbeamte Siegfried von Almsick, der mit dem Innenschutz beauftragt war, hatten Anweisung, »weder Presse noch Zivilpersonen« auf die Bühne der Stadthalle zu lassen. An der Treppe war unter anderen auch die Krankenschwester postiert. Vor Gericht sagt sie: »Wir sollten hauptsächlich keine Presse rauflassen. Doch es gab auch Leute, die auf die Bühne durften. Die kannte ich aber nicht . . .«
Adelheid Streidel versucht zweimal, auf die Bühne zu gelangen, in Reichweite der Politiker. Das erste Mal klappt es nicht, man weist sie zurück. Beim zweiten Versuch aber, da muß es ihr vorgekommen sein, als hülfen überirdische Mächte.
Ein Fernsehteam das Bayerischen Rundfunks wird am Ende der Veranstaltung nach einigem Hin und Her hinaufgelassen. Adelheid Streidel versucht, sich anzuschließen. Doch wieder heißt es: »Sie wissen doch, daß Sie nicht hinauf dürfen.«
Da mischen sich Referenten der Ministerpräsidenten ein. »Sie sollte die Blumen ruhig überreichen«, erinnert sich von Almsick. Eine solche Szene paßt ins Bild. »Die Frau wurde dann am Arm praktisch hochgezogen . . .«
Eine solche Szene: wie eine Frau mit schwärmerischem Blick und den Worten »weil ich Sie so verehre« Blumen überreicht. »Wir standen beide im Scheinwerferlicht«, sagt Adelheid Streidel. »Herr Lafontaine beugte sich zur Unterschriftsleistung nieder«, sie hatte ihm ein Poesiealbum für ein Autogramm überreicht. »Dieser Augenblick war in meinem Tatplan so vorgesehen.«
Sie stand zwischen beiden Ministerpräsidenten. »Dann sah ich, wie sie den Arm hochhob und gegen Herrn Lafontaine richtete. Dann war lautes Schreien«, berichtet der Beamte von Almsick dem Gericht. Warum Lafontaine? Die Entscheidung fiel spontan. »Weil er mir im Moment politisch wertvoller erschien«, sagt Frau Streidel.
Im Polizeiprotokoll steht, daß es ihr um einen deutschen Politiker nicht leid tue. Vor Gericht korrigiert sie sich: »Es tut mir schon leid. Aber es ist verdient . . . Der Auftrag . . . Ich bin der Meinung, daß ein Politiker genauso getötet werden darf, wie man es zuläßt, daß andere getötet werden. Es tut mir weh, daß so etwas sein muß.«
Die Welt der Adelheid Streidel ist für sie nicht brüchig. Sie bewegt sich darin mit großer Sicherheit. Sie fühlt sich gesund, sie hält sich für »absolut normal«, und wenn es ihr einmal nicht so gut geht, dann sind es »Angriffe von außerhalb«. Sie habe in der Psychiatrie gearbeitet und wisse genau, daß sie nicht schizophren sei. »Ich bin total normal, Sie müssen sich mit mir nur korrekt unterhalten«, sagt sie und hebt leicht die Augenbrauen.
In den Jahren nach der Scheidung verlor sie mehr und mehr an Tritt. Sie verlor ihre Arbeitsstellen bei Ärzten, in einem Sanatorium, dann war sie jahrelang arbeitslos. 1986 legte sie Feuer. Ein Ermittlungsverfahren wegen versuchter schwerer Brandstiftung wurde eingestellt wegen Schuldunfähigkeit. Sie griff ihren Vater tätlich an, demolierte die elterliche Wohnung. Vor Gericht sagt sie: »Das kann nicht sein. Ich war eine außerordentlich liebenswürdige Tochter.«
So wurde sie einmal sechs Wochen stationär in der Landesnervenklinik Andernach untergebracht mit der Begründung, es gehe eine erhebliche Fremdgefährdung von ihr aus, sie sei völlig unberechenbar, es seien jederzeit Angriffe von ihr zu erwarten.
Im Gegenzug aber, bei der Aufhebung von sichernden Anordnungen, scheint man recht lässig verfahren zu sein. In Andernach entließ man sie nach sechs Wochen, eine Gebrechlichkeitspflegschaft, die ihre ältere Schwester für sie übernommen hatte, wurde 1987 nach neun Monaten aufgehoben. Sie habe sich »völlig von ihren psychotischen Wahnideen distanziert«, befand das Amtsgericht Bad Neuenahr-Ahrweiler.
Tatsächlich hatten sich die schizophrenen, paranoiden Symptome unter dem Einfluß von Neuroleptika höchstens ein wenig gebessert. Da Adelheid Streidel sich für gesund hält, verweigert sie in Freiheit die Einnahme jeglicher Medikamente. Im Januar dieses Jahres beantragte die Schwester erneut eine Pflegschaft, dringlich. Sie bat, daß die Einweisung in eine psychiatrische Klinik geprüft werde. Sie war offenbar erheblich beunruhigt. Sie sah das Unglück kommen.
Adelheid Streidel wurde in Köln von dem Dürener Psychologen Helmut Spies, 41, und dem Psychiater und Neurologen Dr. Helmut Köster, 67, taktvoll und sachkundig begutachtet. Adelheid Streidel kann für die Tat, die sie an Oskar Lafontaine begangen hat, nicht zur Verantwortung gezogen werden. Sie sieht das Unrecht nicht ein. Sie ist aufgrund ihrer Krankheit schuldunfähig. Ihre Verstandesfunktionen werden von den Wahnideen überflutet, sie stehen ganz in deren Dienst. So kommt es, daß die Tat planvoll und folgerichtig erscheint und wahnwitzig zugleich.
Ob Adelheid Streidel jemals durch ärztliche Kunst und Anstrengung wieder in die Lage versetzt werden kann, ein einigermaßen normales Leben in Freiheit zu führen, mochten die Sachverständigen nicht eindeutig beantworten. Die Aussichten sind nicht besonders gut. Die Frage ist, ob ihr ein beschütztes, beschützendes Leben ermöglicht werden kann.