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»Ick fühl mir wie im Krankenhaus«

Korruption und Amtsmissbrauch: Die geheime Waldsiedlung Wandlitz und die Privilegien der DDR-Nomenklatura
Von Hans Halter
aus DER SPIEGEL 47/1999

In seinem langen Leben war Willi Stoph (1914 bis 1999) Maurer, Stabsgefreiter der großdeutschen Wehrmacht, Armeegeneral der Nationalen Volksarmee, Vorsitzender des Ministerrats und des Staatsrates der DDR und - so lange er sich zurückerinnern konnte - Kommunist. Als solcher kämpfte er seit seinem 14. Lebensjahr unverdrossen für die Gleichheit aller Menschen.

Ebenso wie Frau Dr. iuris publici et rerum cameralium Rosa Luxemburg war Stoph, der die KP-Gründerin gern zitierte, für die »Abschaffung aller Standesunterschiede, Orden und Titel«, jedenfalls prinzipiell und als Kommunist. Als »führender Repräsentant« der Deutschen Demokratischen Republik, als jahrzehntelanges Mitglied ihrer »Partei- und Staatsführung« sowie als General sah er die Dinge naturgemäß anders.

Sein Wohnhaus in der geheimen Waldsiedlung Wandlitz, wo 20 der 26 Mitglieder des Politbüros der SED und ihre Familien lebten, war das größte und schönste, jedenfalls vergleichsweise. Es hatte einen separaten Swimmingpool, einen Anbau für die Haushälterin, und draußen im gepflegten Garten kultivierte ein fleißiger Akademiker Grünzeug und Gemüse. Willi Stoph mochte das.

Mit seinen Nachbarn, den anderen führenden Repräsentanten wie Honecker, Mielke, Krenz und Schabowski hatte der griesgrämige Genosse wenig im Sinn. Am liebsten weilte er in seinem Jagdhaus mit Gärtnerei bei Speck an der Müritz. Das mecklenburgische Domizil hatte 8,35 Millionen Mark gekostet, nicht gerechnet den zwei Kilometer langen, eigens gegrabenen Wasserweg von der Müritz zum Specker See. Er erleichterte dem Weidmann die Anfahrt in sein Jagdrevier.

Stophs Wochenend-Datsche im Grünen hatte neun Garagen und bot jeglichen Komfort, der für West-Mark zu haben war. Auch die anderen Politbürokraten mussten sich nicht mit Plaste und Elaste aus Schkopau herumärgern.

Als im Herbst 1989 ein kesses Team des DDR-Staatsfernsehens die getarnte, sorgsam eingezäunte Bonzensiedlung enterte, präsentierte die Kamera minutenlang Küchen und Bäder, die chromglänzenden Nirostaspülen und funktionierenden Duschen. »Macht euch selbst ein Bild«, riet der Reporter.

Die funktionierende Sanitär- und Küchentechnik made in West Germany und das großzügige Ambiente der Häuser - rund 250 Quadratmeter Wohnfläche, Holzvertäfelung, Blick ins Grüne - machten die DDR-Bürger wütend und empört. Wandlitz war für die Zweiraumbewohner aus Plattenbauten der lang gesuchte Beweis: Die da oben predigen Wasser, saufen aber Wein, Moselwein.

Dass die »führenden Kader« der kleinen DDR sich nach dem Vorbild der großen Sowjetunion ein komfortables Parallel-Universum aufgebaut hatten, kam nach und nach ans Licht.

Wer zur »Nomenklatura« gehörte - so nannte man die hauptberuflichen höheren Partei- und Regierungsfunktionäre, alles in allem mehr als 3000 Menschen -, der wohnte vergleichsweise herrschaftlich, hatte zusätzlich ein Wochenendhaus am See, fuhr zuverlässige West-Autos (Mazda, Citroën und Volvo), ernährte sich und die Seinen aus »Sonderläden«, importierte auch die Medikamente vom Klassenfeind. Je höher der Rang, desto westlicher das Leben.

In Wandlitz stammte nicht mal das Knäckebrot aus der DDR. Der alte Erich Honecker bezog seine taillierten Anzüge aus dem West-Berliner KaDeWe, die Softpornos von Beate Uhse und die Jagdwagen von Daimler-Benz und Range Rover; Honecker hatte vier. Der schönste war für 290 000 West-Mark aufgehübscht worden.

Luxus und Komfort galten in den Nomenklatura-Kreisen als völlig selbstverständlich. Westliche Waren - wie etwa Aspirin von Bayer - wurden selbst dann geordert, wenn es haargenau das gleiche Präparat unter Ostnamen gab.

Die glitzernde Warenwelt des Westens, nicht die Lehre von der Freiheit des Menschengeschlechtes, hat die kommunistischen Ideale der Arbeiterführer ruiniert. Am Ende wurde die DDR, wie deren Dissident Wolf Biermann sang, nur noch von »verdorbenen Greisen« regiert.

Das Nomenklatura-System gewährte Schutz und Fürsorge im Austausch für Parteitreue. Wer einmal in den geheimen Orden, von dem die Bevölkerung nichts wusste und dessen Existenz selbst den gewöhnlichen SED-Genossen verborgen bleiben sollte, aufgenommen war, mit dem ging es immer weiter nach oben.

Die alten Ideale der Arbeiterbewegung - ihre Funktionäre sollten »wählbar, abwählbar und rechenschaftspflichtig« sein - waren außer Kraft gesetzt. Eine Fluktuation, heute Funktionär, morgen wieder in der »materiellen Produktion«, fand nicht statt. Vor der Arbeit als Dachdecker (Honecker), Maurer (Stoph) oder Expedient (Mielke), als Kuchenbäcker (Schalck-Golodkowski), Rinderzüchter (Gysi) und Schlosser (Modrow) fürchteten sich die führenden Persönlichkeiten. Ihr Ideal war ein Leben im Büro.

Deshalb nannten sie ihr höchstes Gremium Politbüro und den Chef Generalsekretär. Seine Arbeit erledigte das Büro des Politbüros. Dort verdiente man rund fünfmal so viel wie ein Arbeiter.

Der wahre Luxus einer gehobenen Nomenklatura-Existenz bestand jedoch nicht im Moselwein und den Bananen satt, auch nicht im Volvo fahren. Er bestand im Service.

Jedem führenden Kader stand gut gedrilltes Personal in Hülle und Fülle zur Verfügung. Die Politbüro-Siedlung Wandlitz wurde von 641 Mitarbeitern umsorgt; für diese Privilegierten gab es Bademeister, Chauffeure, Köche und Diener ohne Zahl, sogar eine Gardinennäherin.

Alle parierten ohne Widerworte. Der Leibwächter, auf dessen Schulter der alte Staatsmann Honecker sein Jagdgewehr beim Schießen abstützte, ist jetzt auf dem rechten Ohr taub.

Die neofeudalistischen Lebensgewohnheiten - man ging zur Jagd, wohnte auswärts im Schloss (Mielkes war das schönste), ließ sich Orden umhängen (Mielke hatte die meisten, 274), brauchte nirgendwo Geld für Speis und Trank - wurden vor dem Volk sorgsam geheim gehalten. Nur die Inflation der Titel fiel auf.

So hielt sich das Ministerium für Staatssicherheit eine eigene, geheime Hochschule, von der so viele zum »Doktor der Tschekistik« promoviert wurden (485), dass dem Proleten Mielke die Geduld ausging: Er verbot das Führen der Doktortitel in seinem Ministerium, denn »ick fühl mir ja sonst wie im Krankenhaus«.

Je länger die DDR bestand und je schlechter ihre ökonomische Situation wurde, desto üppiger wucherte der Warenhunger der Nomenklatura und desto großzügiger fielen die Geschenke aus. Dem Zentralkomitee der SED, einer Art Ständeparlament, in das jede Lobby ihre Vertreter entsandte - vom Generaloberst bis zum LPG-Vorsitzenden, vom Staats- bis zum Heilkünstler - , wollte das Politbüro, als die kleine Republik schon im Sterben lag, noch schnell 213 goldene Uhren dedizieren, jedem Nomenklaturisten eine. Deren Durchschnittsalter betrug 1989 bereits 64 Jahre.

Die alten Herren hatten sich synchron zum DDR-Aufbau viele beneidenswerte Privilegien gesichert. Besonders begehrt war der »A-Schein«, er entband von den Verkehrsregeln, in Sonderheit von der dem Volk verordneten Höchstgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern.

Im Falle eines Falles wurden Nomenklatura-Mitglieder nur sehr vorsichtig und dann von ihresgleichen zur Rechenschaft gezogen. »Sind Sie bei uns eine führende Persönlichkeit?«, hieß die tastende Frage der Volkspolizisten. Wurde sie bejaht, trat der Respekt in sein Recht.

Verständlicherweise suchte die Nomenklatura ihren leiblichen Kindern den lieb gewordenen Lebensstil zu sichern. Abitur und Studium, das war kein Problem.

Als die Berliner Humboldt-Universität Anfang der achtziger Jahre feststellen musste, dass weniger als zehn Prozent ihrer Studenten der Arbeiterklasse entstammten, zog sie sofort die Konsequenz: Sie stellte die Statistik ein.

Die Selektion des Nachwuchses aus den Kaderfamilien - sie galten als »werktätige Intelligenz« - war so erfolgreich, dass die Humboldt-Studenten 1989/90 ganz brav blieben. Kein Graffito verunzierte die Universität. Nur ein einziger Spruch - »Unseren Heiner nimmt uns keiner« - ist überliefert. Er sollte den Rektor, einen Stasi-Spitzel, retten.

Beim Volk hielt sich die Trauer um die Nomenklatura in engen Grenzen. Das Verhalten der Arbeiterführer hat die Idee des Sozialismus dauerhaft ruiniert, vor allem bei den Arbeitern.

Auch Erich Honecker soll sich enttäuscht gezeigt haben. Als er aus dem Ghetto Wandlitz vertrieben worden war, so berichtet es der DDR-Volkswitz, machte er mit seiner lieben Ehefrau Margot einen ersten kleinen Spaziergang. Den führenden Repräsentanten der Partei und des Staates überfiel beim Anblick der DDR-Wirklichkeit blankes Entsetzen: »Drei Tage ist der Egon Krenz jetzt an der Macht, und schon hat er das ganze Land zu Grunde gerichtet!« HANS HALTER

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