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US-MARINE Ideales Studienfeld

Als modernes Dachau bezeichnet ein amerikanischer Offizier ein Ausbildungslager der Navy. Er klagt auf Schadenersatz, weil ihm Ausbilder das Rückgrat gebrochen hätten.
aus DER SPIEGEL 17/1976

Dröhnende vietnamesische Musik mischt sich in das Rattern von MOs. Im »Tigerkäfig«, einem 0,5 Kubikmeter kleinen Verschlag, kauert ein amerikanischer Soldat. Für die Notdurft hat er eine Kaffeekanne

Er hört die gurgelnden Schreie eines Kameraden, der auf die »Wasserschaukel«, ein schräges Brett, gefesselt ist: Den Kopf nach unten, ein Handtuch über den Mund gebunden, werden ihm pausenlos Mengen kalten Wassers ins Gesicht geschüttet. Ein Arzt kontrolliert, daß er nicht »ertrinkt«.

GIs in vietnamesischer Kriegsgefangenschaft? Keineswegs, behauptet Leutnant Wendell Richard Young. 28, sondern Teil eines Elitetrainings für Mannschaften und Offiziere der U. S. Navy in Warner Springs, einem Camp in den Bergen 90 Kilometer vom kalifornischen San Diego entfernt.

Der Marineflieger Young hat, mit seiner Frau Joann Marie als Nebenklägerin, die Navy auf 15 Millionen Dollar Schadenersatz verklagt. Seine Zeugnisse nämlich als Bomberpilot waren glänzend gewesen, Young hegte berechtigte Hoffnung, auf eine spätere Karriere bei der Zivilluftfahrt, bis ihm im Februar 1975 in Warner Springs. dem »Dachau von heute« (Young), Ausbilder während einer von seinen Vorgesetzten erzwungenen Fünf-Tage-Übung eine Rippe sowie das Rückgrat brachen -- behauptet er.

Was womöglich noch heute, ein Jahr nach dem Ende des Vietnam-Krieges, ausgewählten Marineleuten in Warner Springs und auch in einem Camp im Nordwesten des US-Bundesstaates Maine als SERE beigebracht wird, war bislang weitgehend geheim: SERE, eine Verbindung der Initialen von »survival, evasion, resistance and escape« (Überleben, Ausweichen, Widerstand und Flucht).

Kein Journalist ist jemals in eines dieser seit 15 Jahren existierenden Trainingslager eingelassen worden. Die Marineführung begründete ihre Haltung stets damit, daß man dem Feind den fabelhaften Ausbildungsstand von Elitetruppen nicht enthüllen dürfe. SERE-Schülern wird angeblich unter Androhung von Kriegsgericht und unehrenhafter Entlassung aus der Armee ein Maulkorb verpaßt.

Laut Youngs Erfahrungsbericht, den er mit der Bitte um Intervention an den kalifornischen Senator Alan Cranston geschickt hat, beginnt das Konditionstraining in der Wüste. Dort würden die Lehrlinge gezwungen zu essen, was immer sie an Pflanzen und Getier finden, Eidechsen beispielsweise.

Beim nächsten Programmpunkt hätten sie Feind-Patrouillen durchbrechen müssen, wobei der »Aggressor« wildes Kampfgeschrei in vietnamesischem und russischem Akzent ausstieß.

In der simulierten Gefangenschaft schließlich, behauptet Young, hätten er und seine 53 Trainingskameraden mit Tigerkäfig und Wasserschaukel Bekanntschaft gemacht, seien mit Fäusten, Handkantenschlägen und Füßen malträtiert worden, hätten vor dem imaginären Gegner auf die amerikanische Fahne spucken, urinieren und exkrementieren, vor Ausbildern onanieren und, in einem Fall, mit einem Vorgesetzten homosexuell agieren müssen.

Bis auf Youngs Schilderung der Fäkal- und Sex-Auswüchse hat ein Navy-Sprecher fast alles bestätigt. Als »Abklatsch der Realität« jedoch. fand Fregattenkapitän Collins, sei all das nicht so gefährlich, wie es den Anschein habe.

Zynisch genug: 1961 erstickte ein Zögling im Tigerkäfig. Sie wurden seither vergrößert. 1967 traf einen Soldat während des Wüsten-Drills der Schlag.

Unter US-Militärs ist Härtetraining in dieser Form seit Jahren umstritten. »Viele Heimkehrer aus Vietnam«, beharrt zwar ein Washingtoner Marinesprecher, »glaubten, daß ihnen SERE erhöhte Willenskraft und Überlebensfähigkeit vermittelt hat.« Einem SERE-Absolventen jedoch schien der Preis, den er in der Ausbildung zahlte, zu hoch: »Ich bin da keineswegs mit gehobenem Selbstgefühl »rausgekommen«, berichtete der Offizier, der nicht genannt sein will. Der Kursus sei vielmehr »entsetzlich degradierend, demoralisierend und entmenschlichend«.

Seit Jahren auch warnen Psychiater vor Härtetraining nach SERE- und Ledernacken-Muster. Die Ledernacken-Truppe ("Marine Corps"), kritisierte 1969 der Militärpsychologe Waldo B. Lyon, könne als »ideales Studienfeld für die Anwendung institutionalisierter Gewalt« angesehen werden.

Zahlreiche psychiatrische Untersuchungen von Korea- und Vietnam-Gefangenen hatten die Effizienz des Brutal-Drills längst fraglich erscheinen lassen.

Kleine Gis ebenso wie hochdekorierte Kriegshelden waren nicht etwa durch Folter oder Erniedrigung weich geworden. Sie zerbrachen vielmehr am Druck der destruktiven Wirkung längerer Isolation und Dunkelhaft.

Wird das Gehirn reizmäßig unterernährt, entzieht man ihm Farben, Töne, Gerüche, Tastempfindungen, so gutachtete vor neun Jahren der Princeton-Psychiater Bryant Wedge, dann sei Gehirnwäsche leicht möglich.

Um so schwerer wiegen die Folter-Vorwürfe des Leutnants Young und weiterer SERE-Absolventen, die laut Youngs Anwalt Dale Meyers bereit sind, über »noch viel scheußlichere Auswüchse« zu berichten.

Sechs Monate, behauptet Young, habe ihm die Navy nach den in Warner Springs erlittenen Rückenverletzungen, die ihm den Dienst beim fliegenden Personal unmöglich machten, außer schmerzstillenden Tabletten keinerlei medizinische Behandlung gewährt.

Dafür hat man Young Psycho-Tests unterzogen: Wohl in der Hoffnung, so der sarkastische Kommentar eines »Newsweek«-Reporters, »daß sich nachweisen läßt, seine ganze Krankheit sei im Kopf anzusiedeln«.

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