Was Augenzeugen über die Verbrechen der Serben im Kosovo »Ihr kommt nie wieder«
SAMSTAG, 20. MÄRZ
Mannschaftswagen der Sonderpolizei erscheinen in Nerodimilje. Gazmend Maloku, 15, beobachtet sie von der Haustür aus. Sie umstellen zwei Nachbarhäuser und zünden sie an. Die zwölf Bewohner verbrennen bei lebendigem Leib.
Ein Mann mit einem langen Bart und einem Emblem an der Uniform, das einen abgeschnittenen Kopf zeigt, entdeckt Maloku: »Du hast etwas gesehen, was du besser nicht gesehen hättest.« Er schlägt ihn zusammen. Noch dreimal wird er am nächsten Tag verprügelt. Dann steht der Tschetnik, von dem Maloku weiß, daß er aus Nis kommt, wieder vor ihm. Er zieht seine Pistole und schießt. Die Kugel streift die rechte Schläfe des Jungen.
Der Tschetnik zielt erneut. Andere Polizisten verhindern die Hinrichtung. Maloku wird unter Hausarrest gestellt. Ein Serbe rät ihm: »Hau ab, die bringen dich um.« Er fährt den Jungen in ein Nachbardorf. Maloku schlägt sich nach Urosevac durch.
Dort holen am Abend Polizisten den 54jährigen Xhavit Avdiu ab. Eine Woche lang sieht ihn niemand wieder. Dann wird seine Leiche gefunden. »Sie hatten ihm die Augen ausgestochen, Nase und Ohren abgeschnitten«, erinnert sich seine Bekannte Luljeta Ajeti, 28.
MONTAG, 22. MÄRZ
»Im Kosovo sind derzeit 15 000 Soldaten und 11 000 bis 12 500 Kräfte des Innenministeriums stationiert. Die aktuellen Verlegungen und der teilweise erkannte Aufmarsch von Truppenteilen deuten ansatzweise auf eine Aufstellung zur Vorbereitung einer Verteidigung gegen den erwarteten Angriff hin. Bemerkenswert ist, daß bislang nur in geringem Maße aufgelockert und getarnt wird. Für die Räumung des gesamten Kosovo würden die derzeit verfügbaren Kräfte mehrere Wochen benötigen. Tendenzen zu ethnischen Säuberungen sind weiterhin nicht zu erkennen.«
AUS DEM LAGEBERICHT DER BUNDESWEHR
In Mitrovica mag Ruzdi Voca, 38, nicht warten, bis die Serben kommen. Den Mitarbeiter der OECD hat die Zentrale gewarnt, »daß wir nicht mehr sicher seien«. Schon seit Wochen dürfen seine Kinder nicht mehr in die Schule, »nicht mal den Fernseher dürfen wir laufenlassen«, sagt Tochter Deborah, 16. Weil er glaubt, daß sich Frau und Kinder ohne ihn eher nach Mazedonien durchschlagen können, macht er sich auf den 40 Kilometer langen Weg zur Grenze - ohne Auto, ohne Gepäck, nur in Pullover und Jackett.
Am vergangenen Mittwoch erreicht die Familie wohlbehalten Deutschland (siehe Seite 38).
DIENSTAG, 23. MÄRZ
»Nach Abzug der Verifikateure fehlt seit dem 20. März ein wesentliches Instrument zur Lagefeststellung. Die Bemühungen zur raschen Gewinnung eines Luftlagebildes werden intensiviert. Bisher ist der serbische Kräfteeinsatz weitgehend unverändert. Erste Hinweise über die Zuführung von Infanteriekräften können derzeit noch nicht bestätigt werden. Berichte über umfassende serbische Säuberungsaktionen mit angeblichen Plünderungen und mutwilligen Zerstörungen der Infrastruktur sind zu relativieren.«
AUS DEM LAGEBERICHT DER BUNDESWEHR
Ylora Dylharis, 18, beobachtet fassungslos, wie systematisch ihre Heimatstadt Gjakowa zerstört wird. Erst kommen die Granaten, dann brandschatzen Polizeitruppen ein Haus nach dem anderen. Nur eine Straße wird verschont - die Bewohner haben in großen Lettern an die Häuserwände geschrieben »Hier wohnen Serben«.
MITTWOCH, 24. MÄRZ
»Einem unbestätigten Hinweis zufolge sollen die jugoslawischen Landstreitkräfte im Kosovo möglicherweise mit Artilleriemunition unterschiedlicher Kaliber beliefert worden sein, die einen nicht näher definierten chemischen Kampfstoff enthalten soll. Es dürfte sich dabei um den Nervenkampfstoff Sarin und den Hautkampfstoff S-Lost sowie diverse Reizstoffe handeln. Ein Einsatz ist nur als Ergebnis einer irrationalen Entscheidung Milosevics in vermeintlich verzweifelter Situation vorstellbar, aber äußerst unwahrscheinlich. Eine umfassende Ver- stärkung der im Kosovo eingesetzten Landstreitkräfte ist noch nicht zu erkennen.«
AUS DEM LAGEBERICHT DER BUNDESWEHR
In Kosovo Polje dringen vier Serben gegen 15 Uhr in das Haus von Adem Sadiku, 68, ein und schleppen seinen Fernseher weg. Dann durchwühlen sie die Schubladen nach Wertsachen und treiben Sadiku und seine Familie auf die Straße. Auch die Nachbarn werden herausgejagt. Aus einem Haus sind Schüsse zu hören, dann geht das Gebäude in Flammen auf. Hier, sagt Sadiku, seien fünf Personen ermordet worden.
»Das ganze Programm«, erzählt Enver Kelmendi, 48, hätten die Serben auch in Pec angewandt. Sie halten einem Jungen, den sie aus einem Konvoi herausgeholt haben, eine Pistole an die Schläfe und verlangen 3000 Mark. Um den Jungen zu retten, legen alle anderen Flüchtlinge zusammen. Kelmendi muß helfen, fünf Männer zu begraben, die zuvor von den Serben totgeschlagen wurden, dann wird auch er mit einem Stahlrohr traktiert. Kelmendi ist sich sicher: »Es waren die Männer des Schlächters Arkan«, der pensionierte Polizeioffizier Vuk habe sie angeführt.
In Urosevac nutzt die serbische Artillerie die Gunst der Stunde. Kaum beginnt das Nato-Bombardement, beschießt sie die Stadt. Der Tischler Enver Cukovci, 30, und seine Frau Miheve, 24, laufen verängstigt aus dem Haus und verstecken sich in einem Keller am Ortsrand. Wenig später muß die Familie zusammen mit den übrigen Kosovaren von Urosevac die Stadt verlassen.
In Pristina, der Hauptstadt des Kosovo, wird der Menschenrechtler und Rechtsanwalt Bajram Kelmendi mit beiden Söhnen aus der Wohnung verschleppt. Zwei Tage später, berichten Augenzeugen, seien ihre Leichen vor der Tunneleinfahrt der Straße nach Kosovo Polje gefunden worden.
DONNERSTAG, 25. MÄRZ
»Die unmittelbaren Auswirkungen der Nato-Luftschläge sind noch nicht quantifizierbar. Es liegen Hinweise auf eine mögliche Planung der serbisch-jugoslawischen Kräfte vor, die UÇK mit Beginn der Nato-Luftschläge kosovoweit in Gefechte zu verwickeln. Infanteriestarke Kräfte sind jedoch offenbar noch nicht im Kosovo eingetroffen. Es ist eine verstärkte Verlegung von Truppenteilen aus ihren Kasernen zu Auflockerungszwecken zu beobachten. Auch die jugoslawischen Landstreitkräfte setzen ihre Auflockerungs- und Dislozierungsmaßnahmen aus den Friedensstandorten fort.«
AUS DEM LAGEBERICHT DER BUNDESWEHR
Musa Shala, 33, muß in Dubovac mit ansehen, wie sein alter Vater vor allen Leuten des Dorfs zusammengeschlagen wird. Er hat mehr Glück als zwei Bewohner des Nachbardorfs. Die werden erst mit Schaufeln zusammengeschlagen und dann am Boden liegend erschossen. Aus Angst vor den Nato-Angriffen, so beobachtet Shala, verstecken die serbischen Milizionäre alle Panzer und schweren Waffen in den Häusern und Scheunen der Albaner.
FREITAG, 26. MÄRZ
Kaum sind in Prizren die Detonationen der Nato-Bomben zu hören, beginnen die Serben, Häuser von Professoren, Lehrern und Mitgliedern der Demokratischen Liga zu zerstören. Der Student der klassischen Musik Illir Baxhaku, 22, will »nicht warten, bis wir an der Reihe sind«. Mit seiner Mutter, seinem Bruder, seiner Schwägerin und ihrem acht Monate alten Baby reiht er sich in den Konvoi von Tausenden anderer Leidensgenossen ein. Bis zur Grenze nach Albanien braucht die Familie 50 Stunden. Immer wieder überfallen paramilitärische Truppen die Flüchtlinge und rauben, was die gerade noch hatten retten können.
SAMSTAG, 27. MÄRZ
Um zehn Uhr wird Maloku in Urosevac erneut Zeuge eines Überfalls: Serbische Soldaten räumen 18 Häuser, eines beschießen sie mit einer Panzerfaust. Die Bewohner werden zum Bahnhof getrieben. Maloku: »Von einer Familie wurden 500 Mark für die Fahrt verlangt. Ich hatte kein Geld, wurde aber in Ruhe gelassen.« Im Zug nach Mazedonien werden Männer, Frauen und Kinder getrennt, bei der Ankunft in Blace weiß niemand mehr, wo seine Angehörigen sind.
Auf dem Polizeipräsidium in Pristina ist sich Ramadan Murseli, 42, sicher: »Jetzt ist es aus mit mir.« Maskierte Serben haben den Gerichtsdiener kurz vor der Abfahrt des Deportationszuges gefesselt. Sie schreien ihn an: »Du bist Mitglied der UÇK.« Serbische Kollegen, die mit ihm zusammengearbeitet haben, retten ihn. »Ich hörte, wie einer sagte: ''Laßt den in Ruhe, das ist der Murseli''.« Der Gerichtsdiener darf in den Zug zurück - während der zwölfstündigen Fahrt, berichtet er, sterben acht Kinder.
SONNTAG, 28. MÄRZ
Im Supermarkt der Kreisstadt Strpce wird eine Bekanntmachung der Belgrader Polizei ausgehängt. Albaner, die die Region bis 14 Uhr nicht verlassen haben, so das Ultimatum, »werden erschossen«. Den Rest würden die Nato-Bomben besorgen: »Morgen ist hier jeder tot.« Die Sippe von Emin Avdiu, 58, insgesamt 80 Mitglieder stark, packt eilig ihre Sachen und flüchtet mit Traktoren von Ort zu Ort, immer verfolgt von den Milizen. Zwei Frauen, zwei Greise und zwei Invaliden schaffen den beschwerlichen Weg über die Berge, die meterhoch mit Schnee bedeckt sind, nicht, sie bleiben erschöpft zurück. Als die Kolonne die Grenze erreicht, richten mazedonische Polizisten ihre Gewehre auf die Flüchtlinge und rufen: »Was macht ihr hier, ihr flieht wohl vor der Nato?«
Ein Kommando der serbischen Sonderpolizei mit schwarzen Masken und Gewehren stürmte das Haus von Naser Tahiri, 29, im Stadtteil Kodra e Trimave in Pristina: »Ihr habt in 30 Minuten das Haus zu verlassen.« Die Polizisten sammeln Wertsachen, Autoschlüssel und Papiere ein. Die Kosovaren müssen sich in Viererreihen auf der Straße aufstellen. »Willst du lieber zur UÇK oder zur Uno«, höhnen die Tschetniks und treiben die Menschen zum Busbahnhof.
MONTAG, 29. MÄRZ
»Serbische Sicherheitskräfte gehen, unterstützt durch das Feuer aus schweren Waffen, unvermindert im gesamten Kosovo gegen die UÇK vor. Attacken gegen Kosovo-Albaner werden auch durch bewaffnete Zivilisten beziehungsweise paramilitärische Gruppen ausgeführt. Die Hinweise auf massiven serbischen Terror konkretisieren und verdichten sich; eine Verifizierung behaupteter Vertreibungen und Greueltaten ist derzeit nicht möglich. Nach Informationen des UNHCR wurden am Wochenende Zehntausende Kosovo-Albaner aus ihren Dörfern vertrieben. Die Zahl der Binnen-Flüchtlinge beläuft sich aktuell auf circa 260 000 Menschen.«
AUS DEM LAGEBERICHT DER BUNDESWEHR
Nachmittags gegen 15 Uhr klopfen Soldaten, die Gasmasken tragen, an die Tür von Imer Ferati, 61, in Mitrovica: »Du hast fünf Minuten Zeit, um nach Albanien zu verschwinden.« Einer der Serben hält Ferati die Pistole an den Kopf und droht: »Sonst bist du tot.« Ferati flüchtet. »Auf dem Weg zum Bahnhof sah ich vier Leichen, alles Männer mittleren Alters, in riesigen Blutlachen liegen.« 60 Menschen werden in Busse geladen, jeder muß 200 Mark und 200 Dinar für das Ticket bezahlen.
Hazir Isenaj, 25, muß zuschauen, wie in Klina zwei Männer, die am Brunnen Wasser holen wollen, erschossen werden. Dann wird auch er abgeführt, kann aber das geforderte Lösegeld bezahlen. Für 400 Mark lassen ihn die Polizisten leben, zerschneiden ihm nur sein linkes Ohr.
In Pristina jagen Serben den Englischstudenten Beqir Zekaj und seine im siebten Monat schwangere Frau aus ihrer Wohnung im Stadtteil Dragodan. Milizionäre ziehen durch die Straßen und schießen wahllos in die Fenster. Zekaj verläßt den Treck zum Bahnhof und versteckt sich in der Wohnung eines Freundes im Stadtteil Vranjevc.
Skënder Bullaku, 40, ist einer von rund 20 000 Kosovaren, die in einem langen Troß, immer wieder von den Bewachern mit Gewehrkolben traktiert, durch die Innenstadt zum Bahnhof ziehen. »Es regnete, und wir standen bis zum nächsten Morgen da. Drei Frauen gebaren in dieser Nacht Kinder.« Nach jedem Bombenangriff, berichtet Bullaku, hätten fanatische Tschetniks wahllos Häuser von Albanern angezündet.
DIENSTAG, 30 MÄRZ
»Die Säuberungsaktionen gegen die UÇK werden im gesamten Kosovo fortgesetzt. In der Drenica-Region ist die UÇK nach intensiven Kämpfen vermutlich von jedem Nachschub abgeschnitten, die Llap-Region ist schon weitgehend geräumt.
Ziel der Operationen ist die Vertreibung der kosovo-albanischen Bevölkerung. Der Nato-Angriff auf Ziele der Landstreitkräfte richtet sich vorrangig auf den Raum Pristina, Pec und Kursumlija.«
AUS DEM LAGEBERICHT DER BUNDESWEHR
Jetzt säubern die Serben auch den Stadtteil Vranjevc. Zekaj und seine Frau werden mit etwa 2000 anderen zum Bahnhof getrieben. Immer wieder greifen sich die Sondereinheiten einzelne Männer, drohen ihnen: »Gib uns Geld, oder du stirbst.« Viele zahlen freiwillig, wer sich weigert, wird zusammengeschlagen.
Auch Shehide Maloku ist in diesem Transport, der am nächsten Morgen um zehn Uhr die Grenze von Mazedonien erreicht. Bullaku: »Der Zug war so voll, daß wir kaum Luft bekamen, viele erbrachen sich. Neben den Gleisen sah ich Leichen liegen, die von Hunden angenagt wurden.« In Djeneral Jankovic werden den Kosovaren die Papiere abgenommen und zerrissen: »Die braucht ihr nicht mehr, ihr kommt nie wieder.«
Die in Pristina geblieben sind, verstecken sich in Kellern, trauen sich des Nachts nicht mehr, Licht in ihren Wohnungen zu machen. Heimlich schleichen sich Aziz Jashari, ein Greis von über 80 Jahren, sein Nachbar Mehmet und dessen Schwiegersohn nach oben in die Wohnung: Sie wollen die 18-Uhr-Fernsehnachrichten sehen. Polizisten einer gegenüberliegenden Wache bemerken den schwachen bläulichen Lichtschein des TV-Geräts. Die Männer werden nach Aussagen von Xhelal, 29, auf die Straße geführt und exekutiert.
In Urosevac brennt das Quartier, in dem bis vor wenigen Tagen die Beobachter der OSZE wohnten. Militärs hatten 48 Stunden vorher Sprengsätze aus Dynamit an dem Hotel und dem dreistöckigen Privathaus angebracht. Nur Stunden später geht auch die örtliche Zentrale der Albaner-Partei LDK in der Sanie-Aliu-Straße in Flammen auf. Zwei LDK-Mitarbeiter werden erschossen, die anderen verhaftet. Nexhat Sejdiju, 45, wird direkt nach der Verhaftung in einen Bus verfrachtet, der ihn nach Blace bringt: »Das war alles bestens vorbereitet, täglich kamen 20 Busse aus dem Amselfeld, um uns wegzuschaffen.«
In Prizren sitzt Schulleiter Hoja, 53, der aus Angst seinen Nachnamen nicht nennen will, mit der Familie beim Essen, als die Serben kommen. Zehn Männer bilden eine Einheit, und jede Einheit geht von Haus zu Haus, um die Stadt zu säubern. Mit Lastwagen transportieren sie Kühlschränke und Fernseher ab. Hoja flieht, als er erfährt, daß in dem Nachbarort Krusha der Schulleiter und seine 20 Lehrer vor den Augen der Kinder erschossen worden sind.
MITTWOCH, 31. MÄRZ
»Einige jugoslawische Verbände sollen Kampfpanzer und andere Ausrüstung sogar in Wohngebiete, Fabrikhallen, Schulen und in ausgebrannte Häuser verlegt haben. Eine Beeinträchtigung der Operationsfähigkeit ist derzeit noch nicht möglich. Es werden entlang der Hauptverkehrsstraßen bis zu vier Kilometer breite sogenannte Sicherheitszonen geschaffen, aus denen die kosovo-albanische Zivilbevölkerung vertrieben wird. Die Räume werden dann für den uneingeschränkten Waffeneinsatz freigegeben.«
AUS DEM LAGEBERICHT DER BUNDESWEHR
Wieder werden in Pristina rund 20 000 Menschen zum Bahnhof gejagt. Der Jura-Student Valon Novosella, 25, ist unter ihnen. Zwei Nächte müssen sie am Bahnhof ausharren, bis sie Richtung Mazedonien abtransportiert werden.
Die Studentin Zejmije Beqini, 20, hält es nicht mehr aus: Seit Tagen beobachtet sie, wie die Serben vertreiben und plündern. Noch bevor die Tschetniks ihre Straße erreichen, geht sie und reiht sich in den Flüchtlingstreck ein. »Am Straßenrand und an den Fenstern standen Serben, unsere ehemaligen Nachbarn, mit Knüppeln und Baseballschlägern bewaffnet. Sie haben uns schrecklich beschimpft.«
Daß sie irgendwann ihr Haus verlassen muß, darauf hat sich Gani Gashi, 55, wochenlang vorbereitet. Die Flucht, sagt Gashi, war ein einziger Horror: »Alle paar Kilometer wurden junge Männer und junge Frauen aus dem Konvoi herausgegriffen und auf Lastwagen verfrachtet. Wir haben nichts mehr von ihnen gehört.«
In Senik drohen Polizisten: »Wer keine 1000 Mark hat, wird erschossen.« Elheme Zulfaj sieht, wie zwei Männer und eine Frau erschossen werden. Sie verkauft ihre Perlen und Ringe und darf fliehen. Unter den ehemals 1500 Einwohnern von Senik, so rechnen später die Flüchtlinge in den albanischen Unterkünften zusammen, fordert die Säuberung 65 Opfer. Elheme Zulfaj war immer dagegen, daß ihr Mann und ihr Sohn in den Bergen für die UÇK kämpfen, doch jetzt betet sie für sie. Elheme weiß: »Sie rächen die Toten.«
Zu den Stammgästen des Restaurants »Bufet Spendi« am Rand von Vucitrns Altstadt zählt auch Vucina Dancetovic, Polizeichef der 30 000-Einwohner-Stadt. Als die ersten Soldaten in die Stadt kommen, fragt Gastwirt Gani Tahiri, 40, den Dauergast, wie ernst die Lage ist. Der Polizeichef ist informiert: »Besser, ihr geht, Arkan, der Tiger, hat den Auftrag, euch alle umzubringen.«
DONNERSTAG, 1. APRIL
»Die serbische Seite wird nach den Niederlagen der UÇK bestrebt sein, die eingenommenen Gebiete dauerhaft unter ihre Kontrolle zu bringen. Die Vertreibung der Bevölkerung aus den gesäuberten Ortschaften erleichtert dieses Vorhaben. Die durch die Nato-Luftschläge nicht gehinderten Aktionen haben ein extremes Anschwellen von Flüchtlingswellen in den Nachbarstaaten bewirkt.«
AUS DEM LAGEBERICHT DER BUNDESWEHR
Noch immer ist Pristina nicht völlig geräumt. Salih Salihu, 62, putzt gerade in seiner Wohnung im Stadtteil Kalsola die Gläser seiner Gaslampen, als fünf Männer hereinstürmen und ihn mit Gewehrkolben zu Boden schlagen. Sie werfen ihn auf die Straße, schießen zweimal in die Luft und schreien: »Hau ab, die Stadt gehört uns.«
Agron Kryezin, 21, lief zur Post in Pristina, weil er telefonieren wollte. Überall war Polizei. Zwei Beamte, einer ein Bekannter von ihm, kamen aus dem Gebäude. Ohne jede Vorwarnung erschossen sie zwei Männer auf der Straße.
In Podujevo beobachtet Halil Dedaj, 48, aus seiner Wohnung im vierten Stock in der Obrançes-Straße 8 ein Massaker: Gegen 16 Uhr kommen vier Traktoren mit Flüchtlingen aus zwei Nachbardörfern in die Straße. Kurz vor Dedajs Haus stoppt ein Polizist in blauer Uniform den Treck. Ein Dutzend Soldaten, manche von ihnen maskiert, fordern alle auf, abzusteigen, die Frauen werden davongejagt. Sie sind kaum ein paar Meter entfernt, da eröffnen die Serben das Feuer auf die anderen. Fünf Männer sterben.
* Im roten Kreis serbische Panzer, der rote Winkel markiert alle abgestellten Autos, der blaue die zusammengetriebenen Kosovaren.
Basri Petrovci, 39, steckt mit seiner Frau und den drei Kindern in einem Stau von 700 Autos vor der mazedonischen Grenze. Zu Fuß läuft er los, um etwas zu essen zu besorgen. Am Betonwerk in Djeneral Jankovic schreien zwei Mädchen, beide kaum 18. Serbische Grenzsoldaten versuchen sie in ein Haus zu zerren. Petrovci will helfen. Da zielt einer der Männer mit der Kalaschnikow auf seine Stirn, schießt dann aber nur zweimal in die Luft. Petrovci wird zusammengeschlagen.
KARFREITAG, 2. APRIL
Vor Dedajs Haus stoppt um 16.30 Uhr ein Landrover der Polizei. Die Insassen werfen die Leiche eines älteren Mannes auf die Straße. Der Wagen rast davon.
Gut eine Stunde später wird sein Nachbar, Sabit Magastena, 50, ohne Warnung erschossen, als er sein Haus verlassen will. Minuten darauf wollen Xhevahir Garhi, 22, und seine Mutter Sadije, 50, aus dem selben Haus flüchten: Auch sie sterben im Kugelhagel.
Die Medizinstudentin Nebahate Cakolle, 29, war eine Woche zuvor aus ihrem Elternhaus zu ihrem Onkel in Pristina geflüchtet. »Es war ein Horror zu sehen, wie sie Straße für Straße leerten.« Ihrer Nichte Kimete, die aus Angst in den Wald fliehen wollte, schossen Polizisten ins Bein.
In Vucitrn werden fast 50 000 Kosovaren aus der Stadt und den umliegenden Dörfern zusammengetrieben. Plötzlich, berichtet Hynee Hama, 37, fielen Schüsse: Die Serben, deren Häscherkommandos sich alle paar Meter postiert hatten, befahlen: »Legt euch auf den Boden, das Gesicht zur Erde.« Einige Busse standen bereit, die sie Richtung Tetovo fuhren, die meisten mußten mit Traktoren, Pferdeanhängern oder zu Fuß gen Süden trecken.
Ein betrunkenes Serben-Kommando stürmt das Haus von Emin Muharremi, 50, in Urosevac. »Sie hatten Messer in den Händen und wollten ihren Spaß haben. Haut ab, worauf wartet ihr.« Die ganze Straße wird zum Bahnhof getrieben, von dort mit Bussen nahe an die Grenze gefahren. Den Rest der Strecke müssen die Menschen auf den Bahngleisen laufen. Serbische Militärs drohen, jeden zu erschießen. Muharremi: »Wir haben auch Alte und Behinderte im Rollstuhl über die Schwellen geschoben, es war grausam.«
Schon vier Tage haben Bergarbeiter Fadil Preteni, 46, und seine Frau Sanije ihre Wohnung nicht mehr verlassen, die Serben kontrollieren jede Straße der Stadt. Zwei Maskierte stürmen ins Haus: »Willst du sterben, oder sollen wir deine Frau töten? Einer von euch muß dran glauben.« Doch dann reißen sie Sanije nur den Ehering vom Finger und verschwinden.
SAMSTAG, 3. APRIL
In Gjinoc drohen die Serben: »Alle jungen Männer, die uns in die Hände fallen, werden sofort erschossen.« Daraufhin, sagt Hamza Danush, 63, sei sein Enkel mit seinen Freunden in die Berge geflohen. Bewaffnete Einheiten der Polizei hätten 50 Häuser angezündet.
In Musutiste mischen sich unter die serbischen Polizisten auch serbische Nachbarn der Albaner. Sie tragen Masken, aber Achmed Karsnici, 60, erkennt sie an ihren Schuhen. »Sie haben ein Massaker veranstaltet«, sagt er, »die Alten, die nicht fliehen konnten, wurden mit Messern ermordet.«
In Strpce töten mit roten und schwarzen Mützen maskierte Polizisten den Bauern Demir Joni, 48, und Qamil Rexhepi, 58, aus dem Nachbardorf. »Sie haben ihnen die Kehle, die Pulsadern und die Blutgefäße an den Fesseln durchschnitten«, erzählen der Landwirt Haztr Shabani Bajnic, 28, und der Automechaniker Zehir Salihu, 24. Bevor Rexhepi gelyncht wird, muß er die Häuser seiner Freunde in Brand stecken. Bajnic und Salihu fliehen in Frauenkleidern in den Wald. Unterwegs finden sie die Leiche von Imer Hiseni. Der Greis ist entsetzlich zugerichtet, ihm wurden die Augen herausgestoßen und die Kehle durchschnitten.
OSTERSONNTAG, 4. APRIL
Jetzt ist in Pudujevo auch Dedaj dran. Zwei Minuten lassen ihm die Tschetniks, seine Wohnung zu verlassen. Er kann nicht einmal Schuhe für seine vier Kinder - neun, sieben, drei und zwei Jahre alt - mitnehmen. Nach der Registrierung auf einer Polizeistation werden sie in eine nahe gelegene Schule gebracht, in der bisher serbische Flüchtlinge aus der kroatischen Krajina lebten. Dann schafft sie ein Bus, eskortiert von zwei Polizeiwagen, zum Bahnhof von Pristina. Der Zug nach Blace, zwei Dutzend Waggons, ist vollgepfercht mit Menschen.
Im Dorf Mazgit, wo Hynee Hama und ihre Familie Unterschlupf gefunden haben, fahren gegen 16.30 Uhr zwei serbische Truppentransporter vor, schießen gleich in das erste Haus mit einer Panzerfaust. Das wirkt: Wenig später setzt sich ein Konvoi - viele Traktoren, ein paar Autos - in Bewegung. Tausend Menschen fliehen.
Auch in Kosovo Polje, berichtet Ajet Raqi, 60, soll es an diesem Tag zu einem grausamen Gemetzel gekommen sein: Dutzende Kosovaren seien zum Schlachthof getrieben worden, wo ihnen Tschetniks die Kehle durchschnitten. Später durften die Angehörigen die Leichen abholen, aber, so Raqi, nicht auf den Friedhof bringen. Sie mußten in den Gärten verscharrt werden.
OSTERMONTAG, 5. APRIL
Ekrem Haxhiu, 47, wird per Bahn an die Grenze deportiert. Zwischen Urosevac und Lipljan sieht er, wie eine Frau erschossen wird: Sie weigerte sich, Schmuck herzugeben. »Später hörte ich Schreie und Schläge, viele gerieten in Panik. Ich habe mich nicht mehr getraut, nach draußen zu schauen.«
DIENSTAG, 6. APRIL
»Bisher konnten durch die Nato-Luftangriffe noch keine wesentlichen Auswirkungen auf die Einsatzbereitschaft der Landstreitkräfte erreicht werden. Die Kasernen wurden größtenteils verlassen und vermutlich auch Munitionsdepots ausgelagert, so daß Angriffe auf diese Ziele auch in Zukunft nur geringen Einfluß auf die Einsatzbereitschaft der Truppenteile haben werden.«
AUS DEM LAGEBERICHT DER BUNDESWEHR
Die 300 Häuser von Brod sind von Artillerie umstellt. Um 9.30 Uhr eröffnen die Serben das Feuer. Azem Limoni, 66, und seine Frau Shukrie, 56, laufen um ihr Leben. Das Bauern-Ehepaar hat das Ultimatum der Polizei mißachtet, das Dorf bis zum 5. April zu verlassen.
MITTWOCH, 7. APRIL
»Die Operationen der serbischjugoslawischen Kräfte stehen vor einem aus serbischer Sicht erfolgreichen Abschluß. Der militärische Widerstand der UÇK ist vermutlich im wesentlichen gebrochen. Jugoslawien wird daher über die Masse ihrer Truppen für ein von ihr erwartetes Verteidigungsgefecht verfügen. Eine Unterbrechung der Nato-Luftangriffe konnte genutzt werden, die Logistik der Kräfte zu verbessern. Eine Betriebsstoffknappheit kann bisher nicht bestätigt werden.«
AUS DEM LAGEBERICHT DER BUNDESWEHR
Für Daut Morina, 45, und seine Familie geht eine lange Flucht glücklich zu Ende. Seit März 1998 wird er von Milizen durch das Kosovo gejagt. Im August vergangenen Jahres entdeckte er in den Dörfern Gllareva und Pllaqaiqa einen Leichenberg. »Ich habe 24 tote Männer gezählt. Sie waren zusammengetragen und auf einen Haufen gelegt worden. Die Polizei hatte sie als angebliche UÇK-Kämpfer gesucht und erschossen.« Morina wird von fünf Polizisten aus seinem letzten Fluchtquartier, einer Wohnung in Pristina, geholt und in einen Zug in Richtung Grenze verfrachtet.
DONNERSTAG, 8. APRIL
»Für den von Belgrad ausgerufenen einseitigen Waffenstillstand im Kosovo gibt es bisher keine eindeutigen Anzeichen. Die serbischen Kräfte werden vermutlich zu flächendeckendem Selbstschutz übergehen. Das Tarnen von Gefechtsfahrzeugen und Gerät in zerstörten Ortschaften wird zunehmend gängige Praxis.«
AUS DEM LAGEBERICHT DER BUNDESWEHR
Nach drei Tagen und drei Nächten Marsch, ohne Essen und Schlaf, erreicht die Sippe des Lehrers Fehmi Kogja, 49, Mazedonien. Soldaten mit Tarnfarbe im Gesicht hatten sie am Ostermontag um acht Uhr morgens in Kacanik auf die Straße und über die Berge gejagt. Von den 80 Mitgliedern der Großfamilie erreichen nur noch 22 Kinder und 15 Erwachsene den rettenden Grenzübergang. Die anderen bleiben erschöpft in den Wäldern zurück.
KLAUS BRINKBÄUMER, CAROLIN EMCKE,
SUSANNE KOELBL, BETTINA MUSALL, RAINER PÖRTNER, ALEXANDER SZANDAR, THILO THIELKE, ANDREAS ULRICH, HANS-JÖRG VEHLEWALD
[Grafiktext]
Januar Serbische Einheiten beginnen im Norden ihre Of- fensive gegen die UÇK. An der Grenze sammelt sich ein starker Panzerverband. Februar Vormarsch nach Süden. UÇK-Kämpfer fliehen in die um- liegenden Cicavica-Berge. Von Osten her stoßen weitere serbische Verbände in das Süd- Kosovo vor. März/April Die Streit- kräfte werden für die sich - vor allem in der Zentralregion - aus- weitenden Kämpfe ver- stärkt. Vormarsch Rich- tung Westen in die Region um Pec.
[GrafiktextEnde]
* Im roten Kreis serbische Panzer, der rote Winkel markiertalle abgestellten Autos, der blaue die zusammengetriebenenKosovaren.