Im Chor der Gutmenschen
Wären Jammern und Klagen olympische Disziplinen, käme alle vier Jahre ein warmer Medaillenregen über Deutschland und die Deutschen nieder. Denn nichts macht den Bewohnern der Bundesrepublik mehr Freude als die ständige Beschwörung ihrer Nöte und Sorgen. Wenn sie nicht gerade durch das soziale Netz fallen oder von einer Asylantenflut erdrückt werden, dann steht ihnen eine Umweltkatastrophe ins Haus: in Gorleben wegen der Anlieferung der Castor-Behälter oder auf dem Mururoa-Atoll, wo Chiracs Leute Atombomben zünden, obwohl Greenpeace, Inge Meysel und Heidemarie Wieczorek-Zeul dagegen sind.
Nein, Zufriedenheit ist Sache der Deutschen nicht. Sie maulen und beschweren sich, daß sie ständig zu kurz kommen und von allen übervorteilt werden. Daß die Franzosen, wenn sie zuviel getrunken haben, ganz selbstverständlich die ganze Marseillaise singen, wir uns aber mit der dritten Strophe des Deutschlandliedes bescheiden müssen; daß niemand den Amis nachträgt, daß sie die Indianer ausgerottet haben, wir aber uns noch immer Vorwürfe wegen der Endlösung anhören müssen; daß die Wildecker Herzbuben noch nicht nach Hollywood eingeladen worden sind und deutsche Autos von den Japanern nicht so oft gekauft werden wie japanische von den Deutschen.
Und wo doch mal ein Funken Lebensfreude im Jammertal unseres Gemüts aufglimmt, halten wir gleich erschrocken inne und fragen: Dürfen wir uns gute Laune leisten, während Millionen in der Dritten Welt hungern? Tragen wir zur Vernichtung des Regenwaldes in Argentinien oder zur Ausrottung der Indianer in Brasilien bei, wenn wir uns einen Hamburger bei McDonald's kaufen? Belastet es nicht die Umwelt, wenn wir täglich frische Wäsche anziehen? Und was werden unsere Enkel sagen, wenn wir weiter Einwegflaschen benutzen?
Fragen über Fragen. Und niemand da, der sie überzeugend beantworten könnte. Dabei fehlt es im Lande nicht an hauptberuflich guten Menschen, die den Sinn des Lebens darin sehen, anderen als Wegweiser zu dienen. Von Friedrich Schorlemmer bis zu Margarethe Schreinemakers, von Horst-Eberhard Richter bis zu Ulrich Wickert, von Christa Wolf bis zu Lea Rosh - alle wollen für ihre Mitmenschen nur das Beste.
Während es in jedem Volk einen bestimmten Bodensatz an Ausbeutern, Betrügern und Scharlatanen gibt, die nur an sich und ihren Vorteil denken, hat sich das deutsche Volk geschlossen in einen Chor von Gutmenschen verwandelt, der seinen Hausmüll gewissenhaft trennt, Umweltfrevel mit Boykott-Maßnahmen bestraft und Lastwagen voller Lebensmittel in Hungergebiete schickt. Edel sei der Deutsche, hilfreich und allzeit bestürzt, daß die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte: friedlich, solidarisch und FCKW-frei.
Soll am deutschen Wesen wieder einmal die Welt genesen, diesmal im positiven Sinn? Soll das deutsche Reinheitsgebot für die Bierherstellung weltweit durchgesetzt werden, zugleich mit dem Verbot, territoriale Konflikte mit Waffengewalt zu lösen? Zwar ist die Bundesrepublik der zweitgrößte Waffenhändler der Erde, aber deutsche Panzer, Raketen und Haubitzen sind nicht der einzige Exportartikel »made in Germany«. Es wird auch »Friedenspolitik« in alle Welt ausgeführt, eine praktische Arbeitsteilung, die sowohl dem Sozialprodukt der Nation wie dem guten Gewissen des einzelnen Deutschen zugute kommt.
Der Schriftsteller Wolfgang Pohrt hat das geniale Wort vom »Täter als Bewährungshelfer« in Umlauf gebracht, der darauf achtet, daß »seine Opfer nicht rückfällig« werden. Der Philosoph Hermann Lübbe spricht vom »Sündenstolz der Deutschen«, die zu ihren Untaten stehen wie andere zu sportlichen Leistungen.
In der Tat konnte man gerade im Jubiläumsjahr 1995, zwischen der Befreiung von Auschwitz und dem Jahrestag der bedingungslosen Kapitulation, bei vielen Rednern den Eindruck gewinnen, als wollten sie nicht nur mal wieder »den Anfängen wehren«, sondern auch sagen: »Den Holocaust macht uns so schnell keiner nach!«
Wie man die Sache auch dreht und wendet: Es ist nicht leicht, ein Deutscher zu sein. Spricht man sich für ein militärisches Eingreifen in Jugoslawien aus, kommt man sofort in den Verdacht, in den Spuren der Nazi-Armee marschieren zu wollen. Spricht man sich dagegen aus, wird einem vorgehalten, man habe zwar aus der Geschichte gelernt, allerdings das Falsche.
Als Deutscher hat man immer nur die Wahl zwischen Optionen, die wechselnde Anklagen begründen: entweder wegen irrationalen Aktionismus oder wegen unterlassener Hilfeleistung. Dazwischen macht sich schlechtes Gewissen breit und der Wunsch, im Kampf für das Gute und gegen das Böse in der Welt auf der richtigen Seite zu stehen.
Im kleinen Tagesgeschäft genügt es, das Adjektiv »menschenverachtend« in Verbindung mit Substantiven wie »Politik«, »Methode« und »Verhalten« gezielt einzusetzen und Briefe »mit lieben Grüßen« zu beenden. Geht es um mehr, fragt man am besten eine ausländische Kapazität nach den sozialen Ursachen der um sich greifenden Verrohung. »Barbarei ist überall Teil des menschlichen Lebens, Gesellschaften sind nun mal nicht hübsch und nett«, belehrte der amerikanische Sozialwissenschaftler Richard Sennett seine deutschen Wochenpost-Interviewer, die von ihm wissen wollten, warum Menschen Menschen Böses antun.
Die Deutschen sind so fest von ihrer »Unfähigkeit zu trauern« überzeugt, daß sie zum hilflosen Nachweis des Gegenteils Begriffe wie »Trauerarbeit« und »Trauerarbeiter« gebrauchen, als sprächen sie von »Handarbeit« und »Facharbeiter«. Im Zusammenhang mit dem Bau eines zentralen Holocaust-Mahnmals in Berlin war sogar von »Trauerarbeitsräumen« die Rede - und niemand lachte.
Wie kommt's? Der Hang zum moralischen Größenwahn entspringt einem tiefen Unbehagen, vom Schicksal wider Erwarten verschont worden zu sein.
»Was haben wir für ein Schwein gehabt«, müßten sich zumindest die Westdeutschen sagen: »Zuerst haben wir uns selber versklavt, dann einen Kontinent verbrannt und geplündert, schließlich haben wir den Ast, auf dem wir 1000 Jahre sitzen wollten, abgesägt, und als alles vorbei war, da hat es plötzlich Kaugummi und Lucky Strike vom Himmel geregnet. Wir bekamen die Demokratie und die D-Mark verpaßt, wir konnten lesen, was wir wollten, und reisen, wohin wir wollten. Wann ist es Verlierern schon mal besser ergangen?« Statt dessen sagen sie: »Uns geht's zu gut, da kann doch was nicht stimmen.«
Das zentrale deutsche Problem ist weder das Waldsterben im Allgäu noch das Ozonloch über der Antarktis. Es ist die nicht erfüllte Bestrafungserwartung nach dem kollektiven Ausrasten von 1933 bis 1945. Soweit haben die Nazis das moralische Fundament der Volksgemeinschaft doch nicht aufgeweicht, als daß die gewesenen Volksgenossen nicht mehr wüßten - oder wenigstens ahnten -, daß dem Verbrechen die Strafe zu folgen habe.
Die deutsche Teilung und der Todesstreifen in der Mitte des Landes konnten als der historische Denkzettel für Auschwitz verstanden werden, nur waren es die Ostdeutschen, welche die gesamtdeutsche Schuld praktisch allein auf sich nehmen mußten. Einigen war das sogar ganz recht. Sie sei »froh« gewesen, bekannte Christa Wolf, »in dem kleineren, ärmeren der beiden deutschen Staaten zu leben, der die Kriegsfolgen wirklich zu tragen, der viel länger dafür zu zahlen hatte als der größere, reichere deutsche Staat, welcher außerdem weniger radikal mit den Überresten der braunen Vergangenheit umging«.
Mit dem Gedanken »Strafe muß sein!« läßt sich auch der Widerwille westdeutscher Kopfarbeiter gegen das Ende der deutschen Teilung erklären. Von Günter Grass ("Wer . . . Antworten auf die Deutsche Frage sucht, muß Auschwitz mitdenken . . .") bis Walter Jens ("Keine Wiedervereinigung! Schuld!") waren diejenigen, die bis 1989 zwischen Wewelsfleth und Mutlangen das Gewissen der Nation verkörpert hatten, mit dem Kurswechsel der Geschichte nicht einverstanden. Gekränkt darüber, daß ihr Rat nicht gefragt war, zogen sie sich schmollend und grollend aufs Altenteil zurück, um sich gelegentlich von dort wieder zu Wort zu melden und »Wir haben euch gewarnt!« ins Land zu rufen.
Ein paar Stufen unterhalb des Olymps, den die Chefmoralisten besetzt halten, machen sich derweil apokalyptische Lustängste im Volk breit. »Irgendwann muß es uns doch noch erwischen!« Zur Zeit des Golfkrieges wurden Tausende weißer Laken aus Fenstern und von Balkonen gehängt, als wären wieder alliierte Bomber auf dem Wege nach Deutschland. »Ab morgen Dritter Weltkrieg« konnte man überall an Wänden und Mauern lesen. »Wann sind wir dran?« fragten Demonstranten vor der Humboldt-Universität, und ein handgemaltes Plakat forderte die Autofahrer auf: »Hupt gegen den Krieg!«
Das diffuse Gefühl, von der Geschichte nicht zur Verantwortung gezogen worden zu sein, verschafft sich in symbolischen Akten Erleichterung. Hier eine Lichterkette, da eine Mahnwache, dort eine Unterschriftenaktion - es muß nicht immer die Gewißheit sein, daß der dritte Weltkrieg unmittelbar bevorsteht und nur durch eine Protestresolution verhindert werden kann. Auch kleinere Desaster taugen dazu, einen moralischen Anspruch zu demonstrieren, der keine Grenzen kennt und keine Parteilichkeit scheut.
Während der Massenmord in Jugoslawien wie ein Beachball-Turnier beobachtet wird, bei dem mal die eine und mal die andere Seite in Führung liegt, treten alle Gutmenschen der Republik unter der Führung des Stern zum »Protest gegen den Wahnsinn« an, um die Franzosen Mores zu lehren. »Prominente aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft« wollen sich nicht »sagen lassen müssen, wir hätten nicht alles versucht, wenigstens diesen Wahnsinn zu verhindern«. Zwar liegen, wie der Chefredakteur der Illustrierten einräumt, »Zehntausende von Atombomben zur Endlösung der Menschheitsfrage bereit«, aber wen soll man dafür schelten?
Da kam Mururoa wie gerufen, zumal wir nur »die beigefügte Postkarte« unterschreiben und sie via Stern/Hamburg an Jacques Chirac/Frankreich schicken mußten, um das wohlige Gefühl genießen zu können, daß wir »alles versucht« haben, um »diesen Wahnsinn« zu verhindern.
Protest zum Nulltarif, Moral als Massendrucksache. Eine Gastwirtin aus Dieburg legte 5000 Karten in ihrem Biergarten aus, eine Weinhändlerin aus Münster versprach, von jeder verkauften Flasche französischen Weins zehn Pfennig zur Unterstützung von Protestaktionen in Frankreich zu spenden. Und der Stern verloste unter seinen Lesern zwei Tickets für einen Segeltörn nach Mururoa.
Symbolische Proteste können sinnvoll sein als Provokation, Tabubruch, bewußte Regelverletzung. Nur müssen ihre Organisatoren wissen, daß es sich um symbolische Proteste handelt. Wo eine symbolische Handlung als reale Tat genommen wird, dient sie allein dazu, das eigene Gewissen zu beruhigen, ohne die Wirklichkeit auch nur anzukratzen. Die Forderung, Deutschland zu einem Einwanderungsland für alle, die nach Deutschland einwandern wollen, zu erklären, war tugendhafter Schwindel menschelnder Freizeitpolitiker, die genau wußten, daß sie ebensogut hätten fordern können, die FAZ als grünes Supplement der taz beizulegen. Inzwischen bricht der Widerstand gegen die Abschiebung von sieben Sudanesen schon wie ein Kartenhaus in sich zusammen, sobald feststeht, daß es sich nicht bei allen um politische Asylbewerber handelt und der Innenminister ein Machtwort gesprochen hat.
Dennoch hält die Konjunktur des Guten an, neue Protagonisten treten mit neuen Angeboten an und provozieren neue Zweifel. Doch oft sind Grenzen zwischen Fakten und Fiktion nicht leicht auszumachen.
Ist Ulrich Wickert wirklich ein Moralist, dem es um Tugenden im Dienst der Allgemeinheit geht, oder nur ein cleverer Verbreiter von Allgemeinplätzen, der eine Marktnische entdeckt hat, die er nun vollstopft, solange der Moral-Boom anhält? Ist Jens Reich ein apokalyptischer Hysteriker, oder hat er mit seinen Warnungen vor einem »ökologischen Kollaps« recht, der »nicht nur das Klima und die gesellschaftliche Stabilität gefährdet, sondern auch das Überleben der Menschheit«? Und wo nicht weniger als das Überleben der Menschheit auf dem Spiel steht, da wird man bei der Wahl der Rettungsmittel nicht zimperlich sein dürfen. Auf einen globalen Notstand muß mit globalen Maßnahmen reagiert werden. Jens Reich möchte, »daß wir uns rechtzeitig wehren und nicht warten, bis vielleicht ein Wunder geschieht«. Schon macht das Wort von der »Ökodiktatur« die Runde als Ultima ratio im Kampf um die Zukunft des bedrohten Planeten.
»Brent Spar« und »Mururoa« waren nur kurze Zwischenkapitel im großen Buch der Katastrophen. Wenn eines nicht allzu fernen Tages Dagmar Berghoff, die soeben zur »glaubwürdigsten Frau im Lande« gewählt wurde, als Regierungssprecherin unter Bundeskanzler Jens Reich bekanntgeben wird, der Minister für allgemeine Ethik und öffentliche Moral, Ulrich Wickert, habe Annemarie Schimmel zu seiner persönlichen Beraterin in Fragen des interkulturellen Dialogs ernannt, dann werden alle begreifen: Das Überleben der Menschheit ist noch nicht gesichert, aber den größten möglichen Unglücksfall haben wir schon hinter uns.