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ISLAM Im Hinterzimmer

Die Krise im Iran ist für die Russen eine große Versuchung, doch auch der Kreml fürchtet den heimgekehrten Ajatollah Chomeini: In der UdSSR leben 50 Millionen Moslems.
aus DER SPIEGEL 6/1979

US-Soldaten bauen Ausrüstungen ab, Ausländer verlassen das Land, die neue Regierung kehrt sich vom Westen ab -- das sind Bilder, wie sie der Kreml gern sieht. Das Sowjet-Interesse wird von dem entstandenen Vakuum angezogen. Schon soll an der Sowjetgrenze zu Persien eine Division versammelt sein, deren Soldaten alle die Landessprache Nordpersiens beherrschen.

Nach Westen auf Entspannung festgelegt, im Fernen Osten von China abgeblockt, könnte sich Rußland wie schon in Afghanistan weiter nach Süden wenden, zum Öl. Wer am Persischen Golf herrscht, sei der Meister der Weltpolitik, hatte schon Zar Peter der Große in sein Testament geschrieben.

Die Expansion Richtung Persischer Golf (und Indien) hatte Hitler 1940 seinem Vertragspartner Stalin angeboten, wenn dieser dem Achsen-Pakt beigetreten wäre, doch dem war Ausdehnung nur nach Süden dafür zu wenig. Zweimal schon hat die Rote Armee Nordpersien besetzt und dort eine Sowjetrepublik errichtet, die sich freilich nicht hielt: 1920 und 1945.

Unter massivem Druck des Westens trat Rußland 1946 den Rückzug an. Fortan stand Schah Resa sich gut mit dem Kreml. Kam er in Moskau zu Besuch, schmückte sich die »Prawda« mehrspaltig mit der Anrede »Seine Majestät«. Aus einem Interview mit Persiens Exil-KP-Chef Iskanderi strich die »Prawda« noch im vorigen September das Verlangen des Genossen, den Schah zu stürzen.

Statt dessen rügte die »Litgaseta« nur die »unstabile Situation, unheilschwanger durch Explosionen und Schocks": In jenem Weltwinkel, in dem Stalin sogar »einen Mann mit einer Streichholzschachtel« fürchtete, schätzt Moskau nichts so sehr wie Ruhe und Ordnung.

Obwohl der hochgerüstete Schah Moskau zu Rüstungsanstrengungen auch an der Südgrenze des Reiches nötigte, sorgte er doch für Ruhe. Er machte keine Anstalten, die Stammesbrüder seiner Nordprovinzen auf der anderen Seite der 2600 Kilometer langen Grenze zwischen Persien und der UdSSR in den Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Turkmenistan zur Wiedervereinigung zu rufen.

Das könnte anders werden, wenn im Iran wieder allein die. Mullahs das Sagen haben. Ajatollah Chomeini, heute von Moskau verbal unterstützt, soll früher nachhaltig Glaubensfreiheit für die Moslems in der UdSSR gefordert haben, seine »islamische Republik« kann in Moskau kaum Beifall finden.

Denn mit den Mullahs im eigenen Bereich sind die Sowjets seit einem halben Jahrhundert nicht fertig geworden: Mohammeds Lehre zeigte sich weit resistenter als die von Marx und Lenin.

Die UdSSR ist heute noch der fünftgrößte Moslem-Staat der Welt (nach Indonesien, Pakistan, Indien, Bangladesch). Das Siedlungsgebiet der Sowjet-Mohammedaner reicht fast geschlossen vom Schwarzen Meer bis zum zentralasiatischen Hochland von Pamir, und sie haben sich im letzten Jahrzehnt fast um die Hälfte vermehrt: Von den 261 Millionen Einwohnern der Sowjet-Union sind rund 50 Millionen Moslems.

Gegen Ende des Jahrhunderts, nach nicht einmal einer Generation also, werden es 100 Millionen sein -- womöglich beinahe ebensoviel wie die Russen (heute 135 Millionen), denn das Staatsvolk der Sowjet-Union nimmt ständig ab.

Die Russen bevorzugen die Einkind-Ehe. Folge: etwa 800 000 Geburten im Jahr, weniger als vor 1914. Die vorigen Monat veranstaltete Volkszählung wird wahrscheinlich ergeben, daß die Russen ihre Mehrheit im Vielvölkerstaat UdSSR bereits verloren haben.

Vier Fünftel des Zuwachses an Arbeitskräften in der Sowjet-Union kommen nächstes Jahrzehnt aus Mittelasien: Die Sowjet-Asiaten bringen jedes Jahr rund 1,5 Millionen Kinder zur Welt, fast doppelt soviel wie die Russen. Den Ehrentitel einer »Heldin-Mutter« für zehn und mehr Kinder tragen in der islamischen Sowjetrepublik Usbekistan 1 671 507 Frauen.

Dort schätzt man noch die Großfamilie mit -- als Regelfall -- sieben bis acht Kindern, die alle mit Hilfe der Sowjetmacht genährt und ausgebildet werden. Sie tragen das rote Halstuch der »Jungen Pioniere«, gehen in den »Komsomol« und auch in die Partei -- und bleiben dennoch Moslems.

Bei amtlichen Umfragen erklärte sich im sowjetischen Orient nur ein Viertel für atheistisch, über die Hälfte aber als gläubig. ZK-Sekretär Iljitschow klagte vor einigen Jahren über »himmelschreiende Verletzungen der sowjetischen Gesetzgebung durch die Mullahs":

Eine Reihe von Moscheen, die als geschlossen galten, werden eigenmächtig für Gottesdienste benutzt. In Tadschikistan kann man Moscheen finden, die als Teehäuser oder sogar als Klubs getarnt in Betrieb sind. Einigen muselmanischen Zeremonien wohnen auch Vertreter der lokalen Machtorgane bei.

Offiziell gilt der Islam, so Sowjet-Professor Klimowitsch, als »eine antiwissenschaftliche, reaktionäre Weltanschauung ... im Widerspruch zu der optimistischen und lebensbejahenden materialistischen Lehre, unvereinbar mit den fundamentalen Interessen der Sowjetvölker«.

Dementsprechend wurden im Süden des Reiches -- voriges Jahrhundert erobert, in den 20er Jahren von der Roten Armee erneut okkupiert -- die Koran-Schulen und Scharia-Gerichte verboten, die meisten Moscheen in Lagerhäuser, Hotels oder Büros verwandelt, das Kirchenland enteignet, die meisten Mullahs verhaftet.

1927 begann die Partei eine provozierende Kampagne gegen den Schleier: Hunderte Frauen, die ihn ablegten, wurden von Moslems erschlagen oder als »Prostituierte« vergewaltigt. Einen Kommunisten, der mitten in einem usbekischen Bergdorf ein Lenin-Denkmal errichtete, zerrissen Mullahs in Stücke.

Bis Anfang der 30er Jahre leisteten Moslem-Partisanen bewaffneten Widerstand. Im Zweiten Weltkrieg kollaborierten viele mit den Deutschen, weshalb Stalin fünf Völkerschaften deportieren ließ.

Gleichzeitig mäßigte Stalin die Religionsverfolgung, weil er die Kirchen zur moralischen Aufrüstung brauchte. Und nach dem Krieg brachte die Sowjet-Allianz mit der arabischen Welt den Sowjet-Moslems Erleichterung: Ägyptens Nasser und Indonesiens Sukarno mußten betreut und von sowjetischer Religionsfreiheit überzeugt werden.

So kamen im vorigen Oktober geistliche und weltliche Würdenträger aus Jordanien, die sehen konnten, daß zwar die Basare zu Kolchos-Märkten degradiert und die Handwerksbetriebe verstaatlicht, mithin industrialisiert sind -- doch immer noch begraben die Einheimischen ihre Toten in weißen Leintüchern, mit den Füßen nach Mekka, und in den Teestuben sitzen nur Männer, die meisten sind beschnitten.

Russen und Moslems wohnen in Sowjet-Asien nebeneinander in getrennten Lebensbereichen, sie heiraten auch selten untereinander. Die zugewanderten Russen stellen meist die Fabrikarbeiter und leben in neuen Mietskasernen. Die einheimischen Moslems bleiben am liebsten auf dem Lande und leben auch in den Städten in eigenen Wohnvierteln: in fensterlosen Lehmhütten um einen Hof mit Ziegen und Hühnern an ungepflasterter Straße, die sich bei Regen in Morast verwandelt.

Jede der beiden Volksgruppen hat ihre eigenen Zeitungen und Theater. Der Einfluß des Islam aber wächst. Das Parteiorgan von Tadschikistan schimpfte: »Die Gläubigen beeinflussen immer mehr den Teil der Bevölkerung, der nicht praktiziert.«

Vom Staat nicht lizenzierte Mullahs -Arbeiter in ihrer Freizeit, mitunter sogar Frauen -- ziehen durch die Straßen von Baku und beten mit Gläubigen in ihren Wohnungen. Funktionäre decken illegale Moscheen in Hinterzimmern, fast in jedem Dorf. Mancher Kolchos-Direktor kann seine Bauern nur mit Hilfe des lokalen Geistlichen mobilisieren.

Klagen der örtlichen Parteipresse: Ein Komsomol-Sekretär heiratete die Dozentin eines Lehrer-Seminars nach den Scharia-Regeln. Ein Atheismus-Propagandist ließ einen Mullah seinem Sohn einen bösen Geist austreiben.

Offiziell sind in Samarkand nur noch zwei Moscheen geöffnet, 13 in der 1,6-Millionen-Stadt Taschkent, keine in Aschchabad. Zwei Dutzend Pilger im Jahr dürfen nach Mekka reisen. Keine Frau wagt es mehr, einen Schleier zu tragen.

Die Moslems müssen freitags arbeiten, dürfen während der Dienstzeit nicht beten und im Ramadan nicht öffentlich fasten. Für junge Leute ist es zu riskant, eine Moschee zu besuchen. Vor der einzigen Koranschule -- in Buchara (57 Studenten) -- steht ein blauäugiger Russe, verkleidet mit der landeseigenen Kopfbedeckung ("Tjubetejka") und kontrolliert die Taschen der Koran-Schüler. Beginnt der Gottesdienst, überträgt nebenan ein Lautsprecher mit hoher Phonstärke eine Breschnew-Rede.

Doch selbst Touristen bemerken, daß ihr Busfahrer eine Pause zum Gebet nutzt und Kolchos-Bauern keine Schweine halten. Im Hof der Bibi-Khanum-Moschee in Samarkand, längst außer Betrieb und in ein Gottlosen-Museum umfunktioniert, rutschen betende Frauen auf den Knien. Vor dem Schah-i-Sind-Mausoleum, als Kunstdenkmal restauriert, versammeln sich Tausende alljährlich zum Ende des Ramadan.

Die Denkmäler, aber auch allerlei »Heilige Gräber« und ein Berg in Kirgisien ("Thron Salomons") sind zu Pilgerstätten geworden, Ersatz für das unerreichbare Mekka. Unverändert feiern Sowjet-Schiiten in Aserbaidschan den zehnten Tag des Monats Moharram. Früher begingen sie dabei Selbstverstümmelungen, weshalb die Behörden alle Zusammenrottungen an diesem Tag verboten.

Die Moslems, denen das kyrillische Alphabet auferlegt wurde, lernen ungern Russisch: Nur ein Drittel der jungen Sowjetasiaten im Wehrpflichtalter beherrscht die Kommandosprache der Armee, so daß es bei der Bedienung modernen Militärgeräts zu Schwierigkeiten kommt. Den meisten Moslems sind -- so eine sowjetische Fachzeitschrift -- sogar die russischen Bezeichnungen für »Rang«, »Kolonne« oder »Flügelmann« fremd. Den Befehl »Wachtmeister halt, der Rest vorwärts marsch« verstehen sie kraft landeseigener Grammatik als »Wachtmeister marsch, der Rest halt«.

Schon mahnte die Lehrerzeitung »Aserbaidschan muallimi« vorsichtig, den »Prinzipien des Internationalismus« folge nur, wer auch anderen Sprachen »Ehre und Respekt« erweise. Das Blatt empfahl den in Aserbaidschan lebenden Russen, doch endlich selbst Aserbaidschanisch« einen (auch in Nordpersien gesprochenen) türkischen Dialekt, zu erlernen. Das sei zwar an den örtlichen Schulen Wahlfach, doch gebe es dafür weder Schulbücher noch Lehrer und nicht einmal eine pädagogische Hochschule.

Das Selbstbewußtsein der Moslems steigt. Betroffen stellte das sowjetische Atheisten-Zentralorgan »Nauka i religija« fest, daß die Moslem-Geistlichen »die Tatsachen so darstellen, als verkörpere der Islam die nationalen Eigenheiten der Völker des sowjetischen Orients«. Der turkmenische Parteisekretär Tscharyjew mußte 1962 sein Amt abgeben, weil er erklärt hatte, die geographische Lage seiner Republik erfordere eine Orientierung nach dem Süden statt nach Norden.

Im Süden aber entsteht nun nach dem Schah-Sturz womöglich eine Moslem-Republik mit kräftiger Ausstrahlung. Eine Folge der Sowjet-Allianz mit den Arabern war denn auch deren Verzicht auf islamische Mission im Sowjetland. »Was würdet ihr sagen«, argumentierte Ägyptens Sadat angeblich vor Russen, »wenn ich die Ausreise von 30 Millionen Moslems aus der Sowjet-Union verlangen würde -- damit sie in Jerusalem die Heiligen Stätten des Islam gegen die aus Rußland zugewanderten Juden verteidigen?«

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