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Artikel 36 / 85

IM KOMMUNISMUS DEN PROFIT ENTDECKT

aus DER SPIEGEL 47/1965

Jewsej (Eusebius) G. Liberman, 68, Ökonomie-Professor an der Universität Charkow, ist der bekannteste Reformer der Sowjet-Wirtschaft. Am 9. September 1962 veröffentlichte er mit Chruschtschows Billigung den Artikel »Plan, Gewinn, Prämie« in der »Prawda«. Darin regte er an, die sowjetische Planwirtschaft durch Einführung des Gewinnprinzips rentabel zu machen. Musterbetriebe, die nach seinen Reformplänen arbeiten, kannten bereits noch einem Jahr die Produktionskosten um zehn Prozent senken. Liberman studierte 1924 und 1929 jeweils ein Jahr in Deutschland, war ein Schüler des Betriebswirtschafts-Veteranen Schmalenbach und untersuchte die Management-Methoden von AEG und Siemens.

SPIEGEL: Herr Professor, mit Ihrem Namen verbinden sich wirtschaftliche Auffassungen, in deren Mittelpunkt die Forderung nach größerer Rentabilität steht, und vor allem treten Sie für eine größere Unabhängigkeit des einzelnen Betriebes in der sozialistischen Planwirtschaft Ihres Landes ein. Könnten Sie uns aus Ihrer Sicht eine Interpretation der letzten Vollsitzung des sowjetischen Zentralkomitees geben?

LIBERMAN: Es ist bekannt, daß das ZK-Plenum im September dieses Jahres wichtige Entscheidungen in Richtung auf eine Erhöhung der Effektivität der sowjetischen Produktion angenommen hat. Natürlich - für die Verwirklichung (dieser Entscheidungen werden große Anstrengungen des sowjetischen Volkes nötig sein. Diese Arbeit wird allmählich vonstatten gehen, im Zeitraum der kommenden drei Jahre, im Rahmen eines einheitlichen Planes zur Überführung des neuen wirtschaftlichen Systems in die Praxis.

SPIEGEL: Könnten Sie diese, Maßnahmen konkretisieren? Besonders interessant scheint uns die Wiedergeburt der Branchen-Ministerien und die Abschaffung der, unter Chruschtschow geschaffenen Volkswirtschaftsräte.

LIBERMAN: Das Plenum beschloß die Abschaffung der einzelnen, auf regiomal-wirtschaftlicher Grundlage stehenden Volkswirtschaftstäte (Sownarchosen) und schuf Ministerien für einzelne Wirtschaftszweige. Diese Maßnahme erklärt sich dadurch, daß die Vorteile, die sich bei der Schaffung der Sownarchosen im Jahre 1957 ergaben, sich in erheblichem Maße erschöpft hatten, während die Nachteile der territorialen Verwaltung immer schärfer fühlbar wurden und werden. Die neuen Ministerien werden allseitig für die Entwicklung dieses oder jenes Produktionszweiges verantwortlich sein, denn sie konzentrieren in ihren Händen sowohl die Planung wie die Entwicklung neuer Technik sowie die Sorge für die Rohstoffversorgung, für Brennstoff, Energie und Ausrüstung. Damit wird die Einheitlichkeit dessen gewährleistet, was ich Politik der Technik nenne, ebenso wie die Spezialisierung innerhalb einer Branche und die Zusammenarbeit verschiedener Unternehmen untereinander.

SPIEGEL: Entspricht all das, besonders die neuen Ministerien, denn Ihren Vorstellungen von größerer Freiheit für den einzelnen Betrieb?

LIBERMAN: Die neuen Ministerien werden im Unterschied zu den früher (bis zum Jahre 1957) bestehenden keine kleinliche Vormundschaft gegenüber den Betrieben ausüben. Den Betrieben und Fabriken wird jetzt eine erheblich größere Freiheit und Manövrierfähigkeit auf dem Gebiet des Haushalts eingeräumit. Im einzelnen werden die Unternehmen über erhebliche sogenannte Ermunterungs- oder Förderungsfonds verfügen, die sich aus den Gewinnen bilden und mit dem Umfang der realisierten Produktion und der Rentabilität wachsen werden. Diese Aufmunterungs-Etats werden erstens für die individuelle Prämiierung von Arbeitern und Angestellten des Betriebes, zweitens für eine kollektive Prämiierung genutzt, wie den Bau von Wohnungen, Kindergärten, Erholungsheimen und Klubräumen.

SPIEGEL: Gewinn und Anreiz, Rentabilität und optimale Lösungen, selbständiges Suchen und Initiative sind elementare Grundbegriffe jedes wirtschaftlichen und kaufmännischen Denkens. Wie kann man erklären, daß diese Dinge erst jetzt in der Sowjet-Union in den Vordergrund rücken und wie das Ei des Kolumbus angesehen werden?

LIBERMAN: Die Gründe der neuen Reformen haben einen durchaus objektiven Charakter. Die angewachsenen Produktionsmaßstäbe, die geschaffenen Erzeugungskapazitäten, die Entwicklung verschiedenartiger Bedürfnisse sowohl auf der Produktions- wie auf der Bevölkerungsseite, das alles zusammengenommen machte einen von der Wurzel her erforderlichen Umbau des wirtschaftlichen Verwaltungssystems der sowjetischen Industrie notwendig. Ich glaube, daß es sich hier nicht um subjektive Fehler handelt, wenn man von Mängeln in der Praxis des Planens und Stimulierens der Produktion spricht. Das, was gut und richtig war für die Periode der Akkumulation industrieller Kräfte und sogar in der Periode der Überwindung schwerer Folgen des Zweiten Weltkrieges, ist nunmehr veraltet für den heutigen Tag des friedlichen Wettbewerbs mit den kapitalistischen

Ländern. Das Hauptkriterium dieses Wettbewerbs wird der Lebensstandard der Menschen sein. Wir müssen in radikaler Art die Methoden der Wirtschaftsführung ändern, um unsere Industrie zweckmäßig einzusetzen für die Erhöhung des Nationaleinkommens, zur bestmöglichen Ausnutzung, der geschaffenen Kapazitäten und zur schnellen Hebung der Produktionsqualität. Die Sowjetwirtschaft hat ein solches Entwicklungsstadium erreicht bei dem sich mehr als früher die Möglichkeit ergibt, die Aufmerksamkeit auf die Qualität der Produkte der Leichtindustrie zu lenken.

SPIEGEL: Gestatten Sie die Frage, ob Sie kapitalistische Praktiken in Ihren Überlegungen beeinflussen?

LIBERMAN: Ich muß bekennen, daß meine Gedanken über die Rentabilität sozialistischer Betriebe nicht durch -das Studium der kapitalistischen Wirtschaft wachgerufen wurden, obwohl das durchaus nicht bedeutet, daß ich den unzweifelhaften Nutzen eines solchen Studiums abstreite.

SPIEGEL: Können Sie sagen, ob das September-Plenum Änderungen auf dem Investitionssektor gebracht hat?

LIBERMAN: Was die Regierungsinvestitionen in arbeitenden Sowjetbetrieben angeht, so werden diese auf der Grundlage langfristiger Kredite erfolgen. Die Betriebe werden bis zu einem vorher vereinbarten Termin das Darlehen zurückzahlen und für die Inanspruchnahme des Kredits einen bestimmten Prozentsatz zahlen. Das wird die Betriebe dazu anregen, vorsichtiger (als bisher, Red.) Produktionsfonds zu schaffen, und danach zu streben, daß diese Fonds ein hohes Ergebnis abwerfen. Bis zur Rückzahlung deS Darlehns wird der Betrieb natürlich nicht für die Nutzung des Produktions-Etats zahlen, der auf der Grundlage einer langfristigen Kreditierung gewährt worden war. Die bisher bestehenden nichtrückzahlbaren Finanzierungen von Kapitalinvestitionen aus dem Staatshaushalt werden begrenzt und nur gewährt in Fällen von neuen Großbauten und radikaler Rekonstruktion arbeitender Betriebe.

SPIEGEL: In der Sowjet-Union gibt es gewisse Gradmesser, Normen und Kennziffern für den Arbeits- und Produktionsprozeß. Ist der Gewinn jetzt der einzige oder entscheidende Gradmesser für einen Betrieb in der Sowjet-Union?

LIBERMAN: Viele sowjetische Wissenschaftler, darunter auch ich, betrachten den Gewinn als einen guten Anreiz

für die Produktion in sozialistischen Betrieben. Die Gründe für eine solche Ansicht wurzeln in der Quintessenz des Begriffs Gewinn unter dem Sozialismus. Der Sozialismus unterscheidet sich vom Kapitalismus nicht dadurch, daß der Kapitalismus den Gewinn bejaht und der Sozialismus ihn leugnet. Der Kern des Wandels liegt darin, auf welche Art der Gewinn entsteht und wozu er verwendet wird. Gegenwärtig wird der Gewinn unter den kapitalistischen Bedingungen natürlich bei der Produktion erreicht, aber er wird im Prozeß seiner Verteilung und Wiederverteilung derart entstellt, daß er völlig losgerissen von dem Wert der wirklichen Erfolge der Produktion erscheint. Der Gewinn unter dem Sozialismus entsteht, vereinfacht ausgedrückt, durch den Unterschied zwischen den Preisen und den Selbstkosten der Erzeugung. Wenn man davon ausgeht, daß der Warenpreis bei uns der Ausdruck für die Norm des allgemein notwendigen Arbeitsaufwandes ist, dann drückt der Gewinn sozialistischer Betriebe die Ersparnis gegenüber dem normalen Arbeitsaufwand aus Auf diese Art und Weise stehen hinter unserem Gewinn nichts anderes als ersparte Arbeitsstunden, ersparte Tonnen von Rohstoff, Kilowattstunden und so weiter.

SPIEGEL: Wie aber verträgt sich -das Gewinn-Prinzip mit den Grundsätzen der Verstaatlichung der Produktionsmittel?

LIBERMAN: Unter den Bedingungen des Sozialismus kann niemand den Gewinn zum Erwerb von Produktionsmitteln im Privatinteresse ausnutzen, und unsere Prämien aus den Gewinnen sind ganz einfach ein System der Auszeichnung für hohe Arbeitsleistungen. Diese Arbeitsleistungen betreffen gleichermaßen die Arbeiter wie die Produktionsleiter. Folglich ist das die Verwirklichung des sozialistischen Prinzips der Verteilung nach Arbeit, und keinerlei Schlupfloch entsteht hier für eine Aufteilung nach dem Kapital. Deshalb bin ich der Meinung, daß die Verwendung des Gewinns als Stimulans für die sozialistische Erzeugung durchaus vereinbar ist mit den Prinzipien des Marxismus-Leninismus.

SPIEGEL: Wird das Gewinnstreben die Betriebsleitung zu größerer Initiative anspornen?

LIBERMAN: Ich möchte unterstreichen, daß das Ausmaß des Gewinns jetzt das wirklich grundlegende, aber nicht das einzige Kennzeichen für die Arbeit eines sowjetischen Industrieunternehmens sein wird. Der Gewinn wird unter zwei Aspekten in Betracht gezogen werden:

- als Gewinnsumme, das heißt absolut,

und

- als Rentabilität in Form der prozentualen Beziehung zwischen Gewinn und dem Produktions-Etat, das heißt relativ.

Gewinn und Rentabilität werden als Bewertung der Arbeitseffektivität dienen und als Quelle der Förderung dieser Effektivität. Eine solche Bewertung wird die Betriebe dazu anregen, hochgestellte Planziele für sich auszuarbeiten und anzunehmen. Das bedeutet, daß dieses System die Planung verbessern und vereinfachen wird aufgrund der Vereinigung von Selbständigkeit und Initiative des Betriebes. Keine geringere Bedeutung wird der Erfüllung der Planaufgabe beigemessen werden, das heißt dem Umfang der verkauften Produktion.

SPIEGEL: Sind Sie nicht der Meinung, daß Prämien auf der Grundlage der Rentabilität zu sehr großen Unterschieden unter den einzelnen Betrieben und damit zur Verärgerung führen könnten?

LIBERMAN: Befürchtungen darüber, daß das Ausmaß der Prämien in einzelnen Betrieben sehr unterschiedlich sein könnte, sollten uns nicht besonders beunruhigen: Solche Unterschiede werden zurückgebliebene Betriebe nur dazu anreizen, sich um einen höheren Standard zu bemühen. Ich bin überzeugt, daß die Anwendung der Rentabilität als Kriterium die Produktion nicht nur von Konsumgütern steigern wird, sondern auch von Produktionsmitteln.

SPIEGEL: Wird nach Ihrer Meinung die sowjetische Leichtindustrie jemals die Bedeutung der Schwerindustrie erreichen?

LIBERMAN: Was diese Frage anbetrifft, so muß ich sagen, daß die Bedeutung der Leichtindustrie schon jetzt nicht geringer als die der Schwerindustrie ist, Wir entwickeln die Schwerindustrie und werden sie weiterentwikkeln, denn die Steigerung der Schwerindustrie in gewissen, vernünftigen Grenzen gewährleistet das weitere beschleunigte Anwachsen der gesamten Produktion, darunter auch der Konsumgüter. Aber das Verhältnis des Wachstumstempos der Schwer- und der Leichtindustrie muß zu jeder gegebenen Periode optimal sein, das heißt dergestalt, daß bei wachsendem Lebensstandard die weitere Entwicklung der Industrie- und der Verteidigungskraft der Länder gewährleistet ist.

SPIEGEL: Ist die Annahme richtig, daß in der Sowjet-Union eine Preissenkung zu erwarten ist?

LIBERMAN: Ich möchte feststellen, daß die harten Preise der Konsumgüter nicht geändert werden, aber diese Preise werden überprüft in Richtung einer Senkung nach dem Maßstab des Anwachsens des Produktionsumfangs und der Senkung der Produktionskosten. Der Ausdruck »harte Preise« bedeutet nicht Unbeweglichkeit der Preise. Für modernere und zeitgenössische Waren werden Zuschläge erhoben. Ebenso wird es staatliche Zertifikate für die Qualität der Waren geben. Eigentlich sind diese Zertifikate überhaupt die Grundlage für einen Preisaufschlag. Auf der anderen Seite werden veraltete Waren, die schwer abzusetzen sind, eine Preissenkung erfahren, wobei der Verlust sowohl zu Lasten des Handels gehen wird, der wenig umsichtig schwer absetzbare Waren bestellt hat, wie auch zu Lasten der Produzenten, die Waren produzieren, für die es keine Kaufwilligen gibt.

SPIEGEL: Ist die von Ihnen gewünschte Selbständigkeit des einzelnen Betriebes in der Sowjet-Union vereinbar mit einer zentralisierten, ministeriellen Planung?

LIBERMAN: Ich betrachte die zentralisierte Planung und die Initiative der Betriebe als durchaus vereinbare Prinzipien. In einer entfalteten, planmäßig organisierten Warenproduktion ist eins ohne das andere im Sozialismus nicht denkbar. Es geht hier also gar nicht nur um die Vereinbarkeit, sondern um eine gegenseitige Unabdingbarkeit zwischen zentralisierter Planung und wirtschaftlicher Initiative der Unternehmen.

Sowjet-Professor Liberman*.: »Betriebe noch Gewinn und Rentabilität bewertet«.

Berlingske Tidende, Kopenhagen

Vorstellung neuer Genossen am Revolutionstag

* In seinem Arbeitszimmer in der Universität Charkow.

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