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IM MING-GRAB LAUERN BÖSE GEISTER

aus DER SPIEGEL 46/1966

Sechs Wochen lang bereiste Anne-Marie Carmentrez, Direktions-Sekretärin aus Paris, als Touristin Rotchina. Sie gehört zu den wenigen westlichen Augenzeugen der Kulturrevolution und berichtet unter anderem:

Kanton. Wir haben eine Fabrik für

Elfenbeinartikel besucht. Auf dem Rückweg begegnen uns Karren voller geschlachteter Hunde. Wir wagen nicht mehr, das Fleisch anzurühren, das man uns in China anbietet.

In dieser Nacht schlafe ich schlecht. Ich wache auf vom Geräusch ungewöhnlicher nächtlicher Aufmärsche. Ununterbrochen wiederholen ganz junge Männer und einige junge Mädchen mit leiser Stimme Losungen, bei denen stets eine Litanei wiederkehrt, die - wie ich später erfuhr - eine Folge von Lobpreisungen auf Mao ist. Am nächsten Tag frage ich den Reiseleiter, und er antwortet: »Eine Studentenkundgebung.«

Hangtschou. Ich habe das Gefühl, daß etwas Gewaltiges passieren wird. Wir machen im Bus eine Stadtrundfahrt. Massen ziehen durch die Straßen. Sie tragen Tausende von roten, gelben und grünen Fahnen und Porträts von Mao Tse-tung. Wieviel sind es? Hunderttausend? Zweihunderttausend? Viele Kinder und Jugendliche. Eine seltsame Musik: Gongs, Trommeln, Zimbeln. Für unsere westlichen Ohren wirkt diese Musik schrill, stechend.

Alle fünf Meter brüllt ein Anführer Sätze, die er aus einem roten Buch abliest. Es sind die Gedanken Mao Tse tungs. Seine Gruppe wiederholt ebenfalls brüllend, was er gesagt hat: die vier Richtlinien eines jeden Chinesen: die Werke des Vorsitzenden Mao zu lesen, das Wort des Vorsitzenden Mao zu hören, gemäß den Direktiven des Vorsitzenden zu arbeiten und ein guter Schüler des Vorsitzenden Mao zu werden.

Ein Reiseleiter erzählt mir, was die Partei sonst noch verlangt: Kein Mädchen darf unter 25 Jahren, kein junger Mann unter 30 Jahren heiraten, die Geburtenkontrolle muß streng beachtet werden. Am Hochzeitsabend ist ein Berater für Empfängnisverhütung zugegen

Wieder in Kanton. In vier Tagen ist China durch die Kulturrevolution erschüttert worden. Zwischen dem Bahnhof und dem Hotel überall junge Leute, die, mit Quasten bewaffnet, an alle Wände rosafarbene, rote, grüne und gelbe Plakate kleben.

Peking. Alles ist umgetauft. Der Reiseleiter übersetzt uns: Der »Tempel des Himmels« ist zum »Park des Volkes« geworden. Die Geschäfte heißen jetzt: »Kaufhaus der Roten Fahnen«, »Kaufhaus der Masse«, »Kaufhaus des Volkes«. Der Pei Hai-Park, den wir kurz besucht hatten, heißt »Park der Arbeiter, Bauern und Soldaten«.

Wir sind überrascht und fragen unsere StadtfÜhrer. »Die neuen Namen wurden vom Volk ausgewählt und eingesetzt«, antwortet man uns.

Überall sind Wände und Schaufenster mit Plakaten in jeder Größe und Farbe bedeckt. Auf den einen werden Gedanken Maos zitiert. Andere enthalten Befehle an die Bevölkerung. Wieder andere richten sich im einzelnen an einen bestimmten Personenkreis, etwa die Kaufleute. Sie befehlen ihnen, alle Luxusartikel verschwinden zu lassen, die den Kunden verführen und ihn von seinen revolutionären Aufgaben ablenken können.

Ich wage nicht mehr, die Straße zu überqueren, obwohl dort nur Fahrräder fahren; an allen Straßenkreuzungen herrscht ein wildes Durcheinander. Man geht ebenso bei Rot wie bei Grün über die Straße. Rot ist nicht mehr »eine Farbe des Stillstandes«. Die Bedeutung der Farben ist umgekehrt. Die Chinesen haben sich aber noch nicht daran gewöhnt.

Frauenhaare auf den Bürgersteigen. Alle Chinesinnen haben ihre Zöpfe abgeschnitten. Man sagt uns, daß die Rotgardisten es am Vorabend angeordnet haben. In den Straßen reichten sich die jungen Mädchen die Scheren zu.

Ich bin ein bißchen beunruhigt, mit meinem schulterlangen Haar spazieren zu gehen. Alle betrachten mich mit sonderbaren Blicken. Glücklicherweise bin ich blond und überhaupt kein asiatischer Typ.

Der Sommerpalast, die frühere Sommerresidenz der Kaiser, die aus dem Jahre 1750 stammt, ist zum »Volksgarten« geworden. Alle Gemälde, die an die Heldentaten der Kriegsherren aus der Ming-Zeit erinnerten, sind zerkratzt oder überklebt.

Als ich auf den Haupthof hinausgehe, sehe ich eine Hundertschaft Rotgardisten, die in Reih und Glied angetreten sind. Sie hören einem Menschen zu, der ihnen Befehle erteilt. 10 Minuten später wiederholen sie die Losungen im Chor. Sie halten das kleine rote Buch mit den Gedanken Mao Tse-tungs hoch. Dann teilen sie sich in kleine Gruppen auf, gehen in verschiedenen Richtungen davon und stimmen dabei einen revolutionären Gesang an.

Die Propaganda-Bücher, mit denen man uns überhäuft hat, wiederholen das allgemeine Thema all dieser Ansprachen: »Die wichtigste Aufgabe der großen sozialistischen Kulturrevolution in unserem Lande besteht darin, radikal das alte' Denken, die alte Kultur, die alten Sitten und Bräuche zu vernichten, deren sich die Ausbeuterklasse im Laufe von Jahrtausenden bediente, um das Volk zu vergiften. Sie besteht darin, in den großen Volksmassen ein völlig neues Denken, eine neue Kultur, neue Sitten und Gebräuche zu schaffen und zu entwickeln: das Denken, die Kultur, die Sitten und Bräuche des Proletariats.«

»Nicht unser Vorsitzender Mao hat uns all diese Veränderungen befohlen«, sagte mir unser Reiseführer, »er hat dem Volk Handlungsfreiheit gelassen, und das Volk tut, was ihm gut erscheint.«

Auf dem berühmten Tien An Men -Platz, dem größten Platz in Peking, in der Nähe der »Verbotenen Stadt«, sehe Ich Männer auf Leitern mit Hammer und Meißel in der Hand die Skulpturen an den Außenmauern der Regierungsgebäude zerstören. Ich habe auch gesehen, wie auf Lastwagen - aber dieses Mal mit größter Vorsicht - zwei der Steinlöwen am Eingang der Altstadt abtransportiert wurden.

Die Kundgebungen in den öffentlichen Gärten, in den Restaurants, an allen Straßenkreuzungen werden zahlreicher. Die Rotgardisten reden zum Volke, lassen Mao Tse-tung hochleben und erteilen Befehle.

Wir sollten die Grabstätte der Ming -Dynastie sehen. Verschlossene Türen. Quer darüber befinden sich handgeschriebene Plakate mit der Unterschrift der Rotgardisten. Sie lauten: »Im Inneren lauern böse Geister und Gift. Die Türen werden wieder geöffnet, wenn alles desinfiziert ist.«

Dafür führt man uns ins Revolutionsmuseum zur »Ausstellung abgeschossener amerikanischer Flugzeuge": Man sieht ein Flugzeug, das von einem bußfertigen Überläufer Tschiang Kaischeks nach Volkschina gebracht wurde (und der für diese Tat - wenn ich richtig verstanden habe - 125 Kilo Gold als Belohnung erhielt), zwei ferngelenkte, pilotenlose Flugzeuge und eine U-2.

»Seit 1959 wurden 21 Flugzeuge abgeschossen«, sagte man uns voller Stolz, »und das wird so weitergehen. Das ist das Gesetz der Natur und gerecht. Wenn imperialistische Flugzeuge nach China einfliegen, können sie nicht mehr hinaus. Wir haben eine viel mächtigere

Waffe als selbst die Atombombe: das Wort unseres Vorsitzenden Mao.«

Ein Randbezirk Pekings. Auf Gerüsten werden »Gegenstände des Aberglaubens« ausgestellt, die öffentlich vernichtet werden sollen: Buddhas, denen man ein schwarzes Kreuz ins Gesicht gezeichnet hat, und zerrissene Bücher. Aus den Schaufenstern ist alles verschwunden. Die Antiquitätenläden schließen. Die Blumenläden ebenfalls. Schnittblumen gibt es nicht mehr. Die Rotgardisten haben angeordnet, daß in den Restaurants nur noch ein Gericht serviert wird.

Man dreht sich immer noch nach uns um. Wenn wir vorbeigehen, stoßen sich die Menschen mit dem Ellenbogen an. Man folgt uns aber nicht mehr. Die Leute machen einen feindseligen Eindruck. 13-, 14jährige Mädchen werfen uns böse Blicke zu. Binnen weniger Tage sind wir wieder »schmutzige, westliche, kapitalistische Bourgeois« geworden, »Langnasen, die nach Hammelfleisch stinken«.

Im Bus lesen Pioniere nacheinander aus Werken Maos. Dann stimmt einer ein Revolutionslied an und erteilt allen Fahrgästen den Befehl, es im Chor zu wiederholen. Uns sieht man nicht einmal an.

Auf der Rückfahrt kommen wir an der Universität von Peking vorbei. Tausende von Studenten. Sie erwarten Befehle. Sie kommen aus allen Ecken und Enden Chinas. Einer erklärt mir, daß alles, was hier geschieht, vor allem die zukünftigen Generationen angeht.

Die Kinder sollen nicht eines Tages ihre Situation mit dem vergleichen können, was früher war und was woanders ist.

Ich habe einen alten Mann gesehen, er war halbnackt und mit Staub bedeckt, die Hände auf dem Rücken zusammengebunden und ein Plakat vor der Brust. Eine Gruppe junger Revolutionäre trieb ihn mit Peitschenhieben voran. Sein Verbrechen bestand zweifellos darin, daß er irgendeinen bürgerlichen Geschmack bekundet hatte.

Ein anderer stand auf dem Lastwagen mit erhobenen Armen, ebenfalls nacktem Oberkörper und einem Plakat auf der Brust. Die Menge bewarf ihn mit Steinen. Ich habe auch vor einem Haus eine alte Frau gesehen, die mit einem zerrissenen Laken bekleidet war und von einem 15jährigen Mädchen geschlagen wurde. Das Mädchen brüllte irgend etwas in die Menge, dann wandte es sich der alten Frau zu, zog sie an den Haaren und warf sie auf die Erde.

Ich habe noch einen Mann gesehen, der brutal von einem Lastwagen gerissen und mit Fußtritten in ein Haus geführt wurde.

Alle Opfer solcher Gewalttaten waren über 50 Jahre alt. Ihre Folterknechte waren kaum 20 Jahre. Überall sind Versammlungen, Menschen sitzen, stehen mit einem Buch in der Hand, sie lesen und diskutieren. Bataillone Rotgardisten durchqueren zu Fuß oder auf Lastwagen die Stadt.

Gestern abend gegen elf Uhr habe ich Peking verlassen.

Die Leute machten Platz, um uns durchzulassen. Schweigend beobachteten sie uns bei der Abreise. Sympathiekundgebungen gab es nicht; nur feindliche Kälte.

Rotgardist beim Zertrümmern eines Tempels: Auf den Bürgersteigen abgeschnittene Frauenhaare

China-Reisende Anne-Marie Carmentrez*

In der Hochzeitsnacht ein Berater

Rotgardisten in Peking: »Die Westler riechen nach Hammelfleisch«

* In einem chinesischen Kindergarten.

Anne-Marie Carmentrez

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