Im Olymp der Ahnen
Zerbrechlich und hinfällig schien er, als er bei seiner letzten öffentlichen Vorführung vor gut einem Jahr an den aufgereihten Delegierten des 14. Parteikongresses vorbeitrippelte. Begleiter stützten ihn, die Tochter flüsterte ihm die Ermunterungen von Parteichef Jiang Zemin ins linke Ohr, denn das rechte ist ertaubt. Die linke Hand hing schlaff herab, wie nach einem Schlaganfall.
Chinas Reformarchitekt Deng Xiaoping, 89, sieht aus, als sei er dem Genossen Karl Marx im Himmel des Sozialismus ganz nahe, wie er selbst scherzt. Offiziell hat er keine Parteiämter mehr, nur noch die Ehrenpräsidentschaft der Soong-Ching-Ling-Gesellschaft, die nach der Gattin des Republikgründers Sun Jat-sen benannt ist. Außerdem steht er als »ruhmreichster Ehrenpräsident« noch der chinesischen Bridge-Gesellschaft vor.
Doch von seinem Steinhaus in der Pekinger Weststadt - gleich hinter dem Kaiserpalast - geht jedes seiner Worte als unumstößliche Direktive hinaus ins Land. Ein Deng-Zitat reicht, um Gegner seiner Wachstumsideologie und seines Sozialismus chinesischer Prägung als Ketzer zu verdammen.
Vergangene Woche hoben Chinas Spitzengenossen ihn in den Polit-Olymp der kommunistischen Ahnen. Der Personenkult entbehrt nicht der Ironie, denn Deng hatte sich immer gegen die Vergötzung des großen Inquisitors Mao Tse-tung gewehrt - schon ehe er ein Mao-Opfer in der Kulturrevolution wurde.
Die Verehrung des Reformers Deng erreicht nicht das Ausmaß der Anbetung Maos, dessen Konterfei an allen Wänden und an jeder Jacke steckte, dessen gedrucktes Wort zeitweilig jedermann in China bei sich führen mußte. Doch in der größten kommunistischen Personality-Show seit dem Ende der Kulturrevolution im Jahre 1976 hat eine Versammlung aller Spitzenfunktionäre in Pekings »Großer Halle des Volkes« den dritten Band von Dengs »Ausgewählten Werken« allen 55 Millionen Parteigenossen als Pflichtlektüre verordnet.
»Er liefert die schlagkräftigste Waffe für die Vereinheitlichung der Parteiideologie, für die Erziehung der Funktionäre und des Volkes«, schwärmte das Parteiorgan Volkszeitung. Von Peking bis Kanton muß in den nächsten Wochen der Reformkanon nachgebetet werden. Sondersendungen in Funk und Fernsehen rufen zu »gewissenhaftem Studium« der Worte des Genossen Deng auf.
Die Lektüre der 119 Reden, Gespräche und Artikel aus der Zeit seit 1982 zeigt, daß Deng mitnichten ein aufgeklärter Liberaler oder friedfertiger Wirtschaftsreformer ist, der dem Kommunismus als einer menschenverachtenden Doktrin entsagt. Deng ist kein Gorbatschow im Mandarinsgewand, sondern ein harter Machtpolitiker, der nur eines will: China soll reich, mächtig und stark werden, notfalls eben ohne ideologische Schnörkel.
Aus dem Untergang der UdSSR hat Deng gelernt: Ein Arme-Leute-Sozialismus ist zum Scheitern verurteilt. Deshalb sucht er Chinas Wohlstand, damit seine KP nicht von aufbegehrenden Bauern hinweggefegt wird, wie viele chinesische Dynastien zuvor.
Ein mächtiges China möchte er hinterlassen, aus Angst vor dem Verfall des Reiches. Deshalb rechnet Deng sich die gewaltsame Niederschlagung des Aufstandes vom Juni 1989 als Verdienst an: »Ich sollte zurücktreten. Doch wenn es einen Aufstand gibt, mische ich mich immer wieder ein.«
Das ist ein Vermächtnis an Staats- und Parteichef Jiang Zemin, der China in der Zeit nach Deng führen soll, obwohl er die Lektionen der Geschichte nicht ganz verstanden hat. Damals wünschte er eine »eiserne chinesische Mauer gegen den bürgerlichen Liberalismus«.
Jetzt verspricht er: »Die chinesische KP wird für weitere 100 Jahre am Kurs des Genossen Deng Xiaoping festhalten«, an dem »besten Textbuch und der mächtigsten Waffe« - das seien Dengs Reden, die laut Jiang »die Grundlagen des Marxismus mit der chinesischen Wirklichkeit« verbinden.