Im Reißwolf der Geschwindigkeit
Wie waren doch früher die Sommer so lang, und auch manche Schulstunde dehnte sich. Endlos schien die Zauberzeit des Advent, bis schließlich das 24. Fenster zu öffnen war.
Die Erinnerung an die Kindheit enthält viele Momente von langsamer Zeit. Und jetzt: Gerade erst war es Punkt drei, und nun ist es schon zwölf Minuten vor sechs. Wo sind sie geblieben, die letzten Stunden? Sind nicht auch Wochen, Monate, ganze Jahre mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter wie im Nichts verrauscht?
Nun ja, der Mensch wird älter, und damit beschleunigt sich nach seinem subjektiven Empfinden eben die Zeit. Doch die ganz persönliche Erfahrung ist mehr noch Symptom einer gehetzten Gesellschaft. Das, was unseren Zeitgeist als allumfassenden Nenner prägt, ist die rasende Zeit.
Schon Marx hatte vorhergesagt, alle Ökonomie werde schließlich zu einer »Ökonomie der Zeit«, und heutzutage beklagt einer der führenden Männer im Weltgeldgeschäft, der Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, 59, »daß unsere Zeit unter einer merkwürdigen Krankheit leidet, die ich Aktionismus und Hektik nenne«. Gegen den Strich der Zeitökonomie meint er: »Wir nehmen uns nicht die Zeit, ruhig, abgewogen Dinge zu Ende zu denken.«
Der Berliner Soziologieprofessor Dietmar Kamper, 52, spricht von der »sterbenden Zeit«, die er als das letzte Opfer bewertet in einer geschichtlichen, zunehmend abstrakter gewordenen Kette: »Vom Menschenopfer über Tieropfer, Pflanzenopfer, Dingopfer, Geldopfer bis zum Zeitopfer.« Der ebenfalls an der FU lehrende Erziehungswissenschaftler Christoph Wulf, 44, sieht die Gesellschaft unter dem Diktat einer »Chronokratie«, durch die Normen und Machtstrukturen »in die Körper der Menschen eingeschrieben« seien.
»Die Krise der Zeiterfahrung hat viele Gesichter«, sagt der Bremer Soziologieprofessor Rainer Zoll, 54. »Zeit-Kritik ist die aktuellste Form von Kultur-Kritik«, beobachtete Rudolf Wendorff, 74, ein ehemaliger Bertelsmann-Manager, der sich mit einer historischen Studie über »Zeit und Kultur« einen Namen als Privatgelehrter machte.
Es häufen sich illustre Kolloquien über die Zeit, so daß schon der Spott umgeht, ein Merkmal jener Experten sei, daß sie nie Zeit hätten. Der Büchermarkt bedient seit einigen Jahren ein wachsendes Allgemeininteresse mit Titeln wie »Die Zeit«, »Über die Zeit«, »Keine Zeit?«, »Zeitnot«, »Zerstörung und Wiederaneignung von Zeit«, »Das Ende der starren Zeit«.
Kaum daß eine »hypereffiziente Nanosekunden-Kultur« begonnen hat, treten die »Zeitrebellen« auf: Der Wirtschaftswissenschaftler Jeremy Rifkin, 43, der diesen Begriff in seinem neuen Buch »Time Wars« prägte, ist selbst einer*. Nachdem er in den USA gegen die Gentechnologie zu Felde zog, kämpft er nun auch noch für eine »ökologische Zeitauffassung«.
Die Situation in der hochtechnisierten Zivilisation ist wirklich paradox: Man hat keine Zeit, doch nie zuvor hatte die Masse der Menschen so viel Zeit zur Verfügung wie heutzutage. Während früher nur einige Menschen uralt wurden, die meisten jedoch jung starben, umkreist inzwischen das individuelle Sterbealter den Durchschnittswert von 70 bis 75 Jahren mit verhältnismäßig geringen Abweichungen.
Nie zuvor nahmen Maschinen der Gesellschaft soviel Arbeit ab wie heutzutage. »Zeit ist Geld«, nach dieser Devise haben sich die Produktionsprozesse ungeheuer beschleunigt, während die Arbeitszeit der Menschen abnahm. Mußten Männer, Frauen und sogar Kinder noch Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu 80 Stunden in der Woche schuften, setzten sich nach der Novemberrevolution 1918 der Achtstundentag und die 48-Stunden-Woche für alle durch. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam sukzessive die 40-Stunden-Woche, und inzwischen geht ihr manches weitere Stündchen ab. Demnach müßte die Wohlstandsgesellschaft in Ozeanen freier Zeit schwimmen, doch das Gegenteil ist der Fall.
Gerade das Wunderland der Waren stiehlt immens viele Stunden, die ökonomisch betrachtet vom Budget der Zeit ohne Preis abgehen. Nicht nur, daß die Dinge gekauft werden müssen. Was die Leute schließlich alles haben, erzeugt in vielfältiger Konkurrenz zueinander einen Zeitdruck, die Besitztümer zu gebrauchen, zu pflegen, sauber zu halten, zu ordnen, zu verwalten und so weiter.
Die bei der Produktion gewonnene Zeit wird vom Konsum wieder aufgezehrt und mehr noch: »Ökonomisches Wachstum erzeugt eine steigende Knappheit von Zeit«, so hielt der schwedische Wirtschaftswissenschaftler Staffan Linder, 57, schon 1970 der »harried leisure class« vor, jener ruhelosen Klasse von Wohlstandsmenschen, die ihn während einer Gastprofessur in New York zu einem Klassiker inspirierte.
Die Getriebenheit ist den Leuten anzusehen: In Millionenstädten, so zeigte sich in Brooklyn oder auch in München bei einer Vergleichsuntersuchung, gehen die Menschen im Schnitt doppelt so schnell wie in einem griechischen Dorf. Dem entsprechen Tempounterschiede auch im Reden und im Reagieren.
Die Knappheit der Zeit - durch Beschleunigung in allen Bereichen wirkt ihr die moderne Zivilisation entgegen. Nie zuvor konnten die Menschen so schnell die Orte wechseln wie heutzutage. Die Geschwindigkeit im Luftverkehr hat sich in den letzten 50 Jahren verzwanzigfacht. »Während ich diesen einen Satz niederschreibe, rase ich mindestens 15 Kilometer durch die Luft«, schrieb ein Berichterstatter der »FAZ« in der 2000 Stundenkilometer schnellen Concorde: »Mit einem sehr langen Satz, etwa von Nietzsche, käme man sogar 50 Kilometer weit. Eingedenk der kurzen Flugzeit ist es also ratsam, in knappen Sätzen zu berichten, etwa fünf Kilometer lang.«
Seit das galoppierende Pferd nicht mehr den Gipfel der Geschwindigkeit darstellt, zu dem sich die Menschheit aufzuschwingen vermochte, ist Fahren, Fahren, Fahren in einem immer rasanteren Tempo zur Weltroutine geworden. Rollende Räder überwinden geographische Räume, Rolltreppen und Fahrstühle dazu ein alltägliches Stück in der Vertikalen. Während Eigenbewegung zum Fortkommen bedeutungslos wurde, erkor die Gesellschaft jene zu Helden, die sich auf allerschnellste Körperbewegungen in allerschnellster Koordination verstehen: unsere Spitzensportler.
Fast so schnell wie Licht werden Informationen übermittelt. Wenn einer am Telephon in Tokio hustet, hört es der Gesprächspartner in Tonndorf 0,2 Sekunden später. Was die Welt an extraordinären Spektakeln zu bieten hat, immer schneller kommen die Abbilder ins Wohnzimmer: Jede Fünfundzwanzigstelsekunde erzeugen 300 000 Bits ein neues Fernsehbild - ein Geschwindigkeitsmedium, das in seiner Funktion bishin zu seiner Technik den Zeitgeist der Raserei exzellent repräsentiert. Und schon existieren technische Systeme, die aus der menschlichen Sprache winzige Sequenzen eliminieren, so daß Nachrichten schneller zu übermitteln sind.
Nicht nur, daß die Medien, die neuen wie die alten, immer mehr Informationen umschlagen. Die Welt produziert auch immer schneller neues Wissen. Durch immer intensiver gewordene Kommunikation zwischen Forschung und Wirtschaft werden Innovationen immer schneller umgesetzt: Tempo, Tempo, und mag der Fortschritt noch so zweifelhaft sein.
Von der Erfindung der Photographie bis zu ihrer massenhaften Verbreitung vergingen hundert Jahre, von der Konstruktion bis zum Anlauf des ersten kommerziellen Atomreaktors bloß noch zehn Jahre, von der Entwicklung des Aids-Tests bis zu seiner Massenanwendung nur noch neun Monate.
Immer schneller wurden Computer immer schneller: Gerade stieß die Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung vor zu einer Nanosekunde (einer Milliardstelsekunde), während der Mensch allein für ein Fingerschnippen 500 Millionen Nanosekunden braucht.
Der Krieg, der die längste Zeit der Menschheitsgeschichte bloß so schnell war wie der schnellste Pfeil oder Speer fliegen konnte und also mit Menschenaugen verfolgbar war, hat eine unmenschliche Beschleunigung erfahren. »Er ist bereits ein Zeit-Krieg«, sagt der Pariser Geschwindigkeitstheoretiker und Professor für Urbanistik, Paul Virilio, 56. Nicht mehr die Zerstörungskraft der Waffen, nicht mehr ihre Reichweite im Raum seien das Entscheidende, sondern die Vorwarnzeit: »Sobald weniger als eine Minute zur Verfügung bleibt, um über einen Atomangriff zu entscheiden, werden wir eine Grenze, die Grenze des automatisierten Kriegs erreicht haben.«
Virilio empfindet sich als Begründer einer neuen Wissenschaft, in der sich Technikgeschichte, Kriegsstrategie, Urbanistik, Ästhetik, Physik und Metaphysik überlagern: der Dromologie, wie er sein Spezialgebiet nach dem griechischen dromos: Laufen, Wettrennen getauft hat*.
Durch das Tempo in den verschiedensten Bereichen sieht Virilio die Wirklichkeit der Welt verschwinden. Statt daß sie durch die Sinne minutiös konstruiert wird, tendiert nach seiner These die Wahrnehmung dazu, nur noch Filme zu erzeugen: Wie die Bilder erst durch ihr Verfliegen, das Verfliegen von 24mal Wahrheit pro Sekunde, ein bewegtes Bild erzeugen, so verflüchtigt sich auch die Dauer der Zeit zu einem Schatten ihrer selbst, während mehr Uhren, als es Individuen gibt, mit unerschütterlicher Präzision anzeigen, wie spät es schon ist.
»Ohne Zweifel war es einer der genialsten Gedanken des Menschen, zu messen, was der Inbegriff des Flüchtigen, was nicht zu sehen und nicht unmittelbar zu begreifen ist, die Zeit«, schrieb Thomas Mann in seinem »Zauberberg«. Die frühesten Spuren jener Genialität befinden sich in Hieroglyphen, entstanden um 2800 vor der christlichen Zeitrechnung. Die alten Ägypter versuchten den Fluß der Zeit mit ein- oder auslaufendem Wasser zu messen. Das klassische Griechenland orientierte sich an der Sonnenuhr.
Bis ins Frühmittelalter war in unseren Breiten das Charakteristikum der Zeit, daß sie vage war. Das Zeitbewußtsein wurde geprägt durch zyklische Veränderungen von Himmel und Erde. Irgendwann im 13. Jahrhundert, wahrscheinlich in Italien, wurde die Räderuhr erfunden. Denjenigen, der die in die Räder greifende Hemmung ersann, um die Schwerkraft zu bändigen, zählt Ernst Jünger zu »unseren Heroen«, denn »er legte der Zeit die Zügel an«.
Als die Erde noch allgemein als Scheibe und Geister auf dem Zaun zwischen Zivilisation und Wildnis gesehen wurden, entstand ein Begriff, der noch die heutigen Menschen prägt: das moderne »lineare« Zeitbewußtsein, wie es Historiker inzwischen nennen, um es abzusetzen von dem zyklischen Zeitgefühl archaischer Gesellschaften. Während die Linie die neue, kontinuierlich fortschreitende Zeit darstellte, symbolisierte das alte Rad des Schicksals eine Zeit, die in sich selbst zurückführte, ohne daß sonderlichen Wert auf Trennschärfe zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gelegt wurde, wie auch die Zwischenzeit der Dämmerung eine Traumzeit für irrationale Geschöpfe war.
Es war nichts besonderes, wenn im 13. Jahrhundert der Mönch von Heisterbach in einem Vogelzwitschern die Ewigkeit spürte und fabulierte, es wären Jahrhunderte vergangen, als er aus dem Wald zurückkehrte. Derart ungenau, wenn auch in bescheideneren Dimensionen des Lebens, müssen die Menschen einmal die graue Zeit empfunden haben.
Der Kampf zwischen der alten und der neuen Zeit wurde ein gigantischer Kampf um die Weltsicht, der Jahrhunderte anhielt, ein Kampf, der schließlich die menschliche Orientierung von der Natur auf die Mechanik und ein verbindliches gesellschaftliches Signal verschob, zudem von einer Unbestimmtheit zur Exaktheit. Von Kirchtürmen aus und seit dem 16. Jahrhundert auch durch die ersten Uhren, die am Leib zu tragen waren, erhielten immer größer werdende Gemeinschaften ein immer stabiler werdendes Zeitgerüst.
Nicht die Dampfmaschine, sondern die Uhr wurde zur »Schlüsselmaschine für das moderne Industriezeitalter«, wie viel später der US-Sozialphilosoph Lewis Mumford urteilen sollte. Die Räderuhr bezeichnete die Perfektion, die bei Maschinen wie Menschen angestrebt wurde, und sie symbolisierte wie kein anderes Ding den Wandel der Gesellschaft zu einem ineinandergreifenden Räderwerk mit dem Ziel, den Fortschritt zu gewinnen, so kontinuierlich, wie die Zeitzeiger weiterruckten. Der Einzelmensch wurde auf eine chronometrische Feinstruktur des Tages gedrillt, die protestantische Ethik erhob Zeitverschwendung zur Sünde an der individuellen und kollektiven Zukunft.
1884 wurde das Konzept einer Weltzeit geboren, und während in und zwischen den Staaten erbittert um seine Durchsetzung gerungen wurde, erschien aus der Phantasie des britischen Erzählers Herbert George Wells die Figur eines Zeitreisenden, der sich mit seiner Zeitmaschine vor- und rückwärts bewegen konnte. Er entdeckte, bevor er verschwand, eine ferne fürchterliche Zukunft: richtungweisend für eine neue Gattung sowohl der Gegenutopien zur Fortschrittseuphorie als auch der Science-fiction-Reisen.
So inspirierend die Loslösung von der realen Zeit auch wirkte, die internationale Gesellschaft brauchte ein Höchstmaß an Präzision. 1911 wurde die ganze Menschheit der Weltzeit unterworfen, die von Greenwich aus in verschiedene Zonen unterteilt war, aber noch vom Himmel her stammte, diente doch zur Normierung der Sekunde der 86 400ste Teil eines mittleren Sonnentages.
Von der ungenauen Erdrotation als Bezugsgröße ihrer Zeit machte sich die Weltgesellschaft letztendlich frei, indem sie einen fundamentalen Wechsel vollzog: vom Kosmos, der archaischen Uhr aller Zeiten, in die unsichtbare Welt der kleinsten Teilchen. Seit 1967 sind die äußerst stabilen Schwingungen in der Elektronenhülle von Cäsiumatomen die Meßeinheit für die Erdenzeit, wie sie von einer Atomuhr, einer der drei genauesten der Welt, in einem fensterlosen, kupferausgeschlagenen Raum der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig abgelesen und weitergegeben wird: etwa an die Post, deren telephonische Zeitansage rund 87 Millionen Anrufern pro Jahr ins Ohr skandiert: »Beim nächsten Ton ist es . . .«
Es ist, als ob ein Naturgesetz angesagt würde: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand«, wie der Begründer der klassischen theoretischen Physik, Isaac Newton, vor 302 Jahren erklärt hatte (siehe Kasten Seite 216).
Als ein Markstein des 20. Jahrhunderts erkannte der Physiker Albert Einstein Raum und Zeit als bloße »Denkweisen«, die wir »benutzen": Die Zeit vergeht nicht an jedem Ort im Universum gleich schnell, sie vergeht sogar für relativ zueinander bewegte Beobachter am selben Ort mit unterschiedlichem Tempo.
Die Revolution in der Vorstellung von Zeit, die von einer absoluten Größe herabsank zu einer Relativität, einer nur innerhalb eines Bezugssystems geltenden Meßgröße, schlug ins allgemeine Bewußtsein nicht durch: Man blieb rein intuitiv Newtonianer. Und das hat seinen Grund.
Während sich die hervorragendsten Physiker mit den allerletzten Fragen nach dem Wesen der Zeit herumschlagen, kamen die Humanwissenschaftler ein Stück weiter in der Erklärung, wie das menschliche Gehirn zur Denkweise Zeit gelangt.
Schon jeder Säugling ist seine eigene Uhr, wie sein hungriges Schreien regelmäßig kundtut. Aber das Erleben eines kleinen Menschen ist noch zeitlos, wenn er sich laufend bereits den Raum erobert und die physikalischen Stoßgesetze elementar begreift: Aua. Sechs bis acht Jahre brauchen die meisten Kinder, bis sie die Zeit gliedern können und den von der Vergangenheit in die Zukunft weisenden Zeitpfeil verstanden haben. Nach zehn bis zwölf Jahren ist das Zeitbewußtsein weitgehend ausgereift.
Wie der (1980 gestorbene) Schweizer Professor für experimentelle Psychologie, Jean Piaget, nach seinen minutiösen Experimenten mit Kindern darlegte, wird die Zeit während des Heranwachsens konstruiert durch das Vergleichen und Koordinieren verschiedener Geschwindigkeiten: »Die Zeit verstehen heißt also, durch geistige Beweglichkeit das Räumliche überwinden.«
Dabei hat der Mensch dieselbe Schwierigkeit, wie sie Einstein in die Physik einführte: Eine Zeit, die abhängig von Geschwindigkeit ist, kann nur relativ sein. Wie das Gehirn mit diesem Problem fertig wird, dem sind im letzten Jahrzehnt eine Reihe von Forschern mit diffizilen Laborversuchen nachgegangen, so daß es neuerdings ein einigermaßen schlüssiges Konzept gibt.
Aus dem Strom der Ereignisse liefern die Sinne dem Gehirn unzählige Informationen über Veränderungen der physikalischen Welt, die es zu klassifizieren gilt zunächst nach dem ganz einfachen Schema: gleichzeitig oder ungleichzeitig. Zwischen Tönen müssen mindestens 3/1000 Sekunden vergangen sein, bis sie die meisten Leute als ungleichzeitig hören, wenn sie auch bei derartiger Schnelligkeit noch nicht ihre richtige Abfolge identifizieren können, sondern nur ein Knattern. Auf visuelle Intervalle reagiert der Mensch siebenmal so träge: Sie werden erst dann als ungleichzeitig wahrgenommen, wenn sie im Abstand von mindestens 20/1000 Sekunden erfolgen. Wir sind sehr viel mehr ein Ohrentier als das sprichwörtliche Augentier.
Um das Problem zu bewältigen, die über die Ohren und Augen eingehenden Informationen miteinander zu vergleichen, muß das Gehirn über eine Zeitlogistik verfügen: Wie sie ganz genau funktioniert, ist in der internationalen Forschung neuerdings eine hochaktuelle Frage, zumal für einen auf diesem Sektor führenden Wissenschaftler, den Münchner Professor für Medizinische Psychologie, Ernst Pöppel, 49.
»Interessanterweise«, so Pöppel, ist die Zeit, die zwischen zwei Ereignissen vergehen muß, bis sie nicht nur als ungleichzeitig, sondern in der richtigen Abfolge erkannt werden können, für die verschiedenen Sinnessysteme in etwa die gleiche: 30/1000 Sekunden. Daraus schließt Pöppel, daß es im Gehirn einen Mechanismus geben muß, mit dessen Hilfe die verschiedenen Informationen verglichen werden können: Eine Zeitmaschine, die mit einer Grundschwingung von 30/1000 Sekunden Dauer arbeitet. Diese Periode scheint die menschliche Minimalzeit zu sein, eine »wahre«, gleichsam Newtonsche Zeit des Gehirns, die dennoch ein Konstrukt ist.
Pöppel hält es für eine Form von Zweckmäßigkeit, daß das Gehirn Ereignisse von Minimalzeitlänge zusammenfaßt zum Jetzt, das durchschnittlich drei Sekunden dauert: ein Fenster, durch das der Mensch höchst subjektiv auf Gegenwart schaut, auch wenn er die Realität gepachtet zu haben glaubt.
Daß im Gehirn Zeit zertrennt wird zu einer Abfolge von Jetzt zu Jetzt, drückt sich auch in der Sprache aus, stammt doch das Wort Zeit von der Tid ab, die auf das indogermanische di zurückgeht: zerschneiden, teilen.
Durch den genialen Hackertrick auf neuronaler Ebene ergibt sich Vergangenheit als das, was nicht mehr das Jetzt ist und Zukunft als Prinzip des Übergangs zum nächsten Jetzt. Für diese Konstruktion ist zusätzlich zur Zeitmaschine der Speicher des Gedächtnisses erforderlich. Daß es sich überhaupt bilden konnte, macht nach Pöppels Ansicht nur Sinn in einer Welt, die sich im Zwischenfeld von Determiniertheit und Indeterminiertheit befindet. Gäbe es die ewige Wiederkehr von Ähnlichem nicht, wäre Gedächtnis nutzlos.
Um Situationen aufgrund früherer Erfahrungen besser einschätzen zu können, ist das Gehirn zu Rückwärtssprüngen fähig, entgegengesetzt der Richtung erlebter Zeit. Die erinnerten Ereignisse laufen jedoch nicht wie ein rückwärts abgespielter Film ab, in dem etwa einem Trinker das Bier aus dem Mund ins Glas fließt: Sie folgen stets dem physikalischen Zeitpfeil. Dieses Doppelsystem, das sich einerseits getreu an die Gesetze der Physik hält, sie andererseits konterkariert durch Zeitsprünge in die abgelebte Vergangenheit und die erwartete Zukunft, ist nach Pöppels Ansicht die Grundvoraussetzung für ein gewisses Maß von freien Entscheidungen.
Das Gedächtnis ist es auch, das den gequantelten Jetztzeiten den kontinuierlichen, aber nicht unbedingt gleichmäßigen Fluß verleiht. Das Erleben von Dauer, so hat sich experimentell gezeigt, ergibt sich aus der Verarbeitung von Informationen innerhalb bestimmter Zeitspannen. Hat der Mensch wenig Input, scheint ihm die Zeit zu kriechen, stürmt in rascher Geschwindigkeit vieles auf ihn ein, so verfliegen ihm Minuten, als wären sie Sekunden. Aber die Uhrenkultur bleut ihm die Kontinuität der »wahren« Zeit ein und bestätigt, was der Mensch auch aus sich heraus durch die monotone Schwingung seiner Zeitmaschine weiß.
Dennoch fühlt man immer wieder dieses, wie es Piaget ausdrückte, »Sichzusammenziehen der Zeit (auf Grund der umgekehrten Proportion zwischen Zeit und Geschwindigkeit)«. Verrückterweise dehnen sich jene intensiven Momente beschleunigter Zeit in der Erinnerung aus. Dieses »subjektive Zeit-Paradox«, wie es wissenschaftlich heißt, erklärt sich daraus, daß sich das Gehirn bei der Rekonstruktion einer informationsreichen Zeitspanne an viele Details halten kann: Sie wird lang. Umgekehrt werden Phasen, in denen nicht viel geschah, in der Rückbesinnung kurz.
Die subjektive Dauer von Zeit ist aber nicht nur abhängig von der Menge der Informationen und der Geschwindigkeit, in der sie eingehen, sondern auch von ihrer Bedeutung für ein Individuum. Alles, was neu ist, beschleunigt die Zeit im Moment des Geschehens, produziert aber eine lange Zeit für die Erinnerung. Die langen Sommer der Kindheit stammen aus jenen Jahren, da das bewußte Zeiterleben schon relativ gut ausgeprägt war, jedoch viele Geschehnisse noch einen hohen Neuigkeitswert hatten. Mit zunehmendem Alter ergibt sich ein gewisser Automatismus von Welterfahrung: Vieles schon mal dagewesen. Haben sich aber alte Menschen ein intellektuelles Staunen bewahrt, bleibt ihr Zeitgefühl sehr viel jünger.
Mehr aber als Neuigkeit schlagen Lust und Unlust durch auf das Zeiterleben. Der Informationsstrom ist, wie Pöppel sich ausdrückt, »durchseucht« von Gefühlen. Jeder Input bekommt im Gehirn gleichsam eine emotionale Ladung verpaßt. Ist sie klein, wobei es weniger darauf ankommt, ob sie mehr negativ oder mehr positiv ist, werden die betreffenden Informationen als relativ unbedeutend eingeordnet: Der Mensch hat Langeweile, nichts bewegt ihn, nichts ist ihm neu, die Zeit wird ihm als öder Fluß bewußt. Das große Glück und der große Schmerz schaffen dagegen Momente der Zeitlosigkeit, sie dauern endlos und vergehen doch wie ein schöner oder schrecklicher Rausch. Sie begründen in der Erinnerung intensive Zeitmarken.
Aus der Erforschung der subjektiven Zeit läßt sich schließen: Die gesellschaftliche Krankheit der rasenden Zeit ist zu einem gewissen Grad eine emotionale Mangelerscheinung. Die moderne Zivilisation produziert zwar einen gigantischen Ansturm von Signalen, aber sie greifen wenig in den Gefühlshaushalt der Menschen ein.
Ob nun Apparate fliegende Bilder präsentieren oder an bewegten Maschinen die Landschaften vorbeifliegen, ist ziemlich egal. Die moderne Mobilität erzeugt die rasende Zeit bis hin zu einer räumlichen Desorientierung, etwa beim Erwachen in einem jener gleichartigen Kettenhotels: »Bin ich eigentlich in Hongkong oder in Singapur?« Die rasende Zeit ist zugleich ein Effekt der kollektiven Sucht nach immer neuen Neuigkeiten, die immer weniger neu sind wie der nächste Politskandal. Der Prototyp der Kommunikationsgesellschaft ist hoch informiert, allein die Informationen haben wenig mit ihm selbst zu tun.
In der rasenden Zeit ist das Zeit-Paradox aufgehoben, und wie das funktioniert, demonstriert keine zivilisatorische Errungenschaft so eindrucksvoll wie das Fernsehen: Die vorbeiflutschenden Bilder und Töne stimulieren das Gehirn, der Informationsinput ist groß genug, damit die Zeit rasch vergeht. Aber am Ende sind Stunden weg, ohne daß sie sonderlich eindrucksvolle Spuren in der Erinnerung hinterließen. Der Fernseher ist eine Zeitvernichtungsmaschine par excellence, doch nach genau demselben Prinzip arbeiten viele andere Systeme, die die Menschen der modernen Zivilisation einspannen: Sowohl die erlebte als auch die erinnerte Zeit werden kurz.
Mehr noch. »Die Informationstechnologien vernichten Zeit, indem sie ,Allgegenwart' und ,Zeitlosigkeit' einführen«, erläutert der Soziologe Zoll: »Das immaterielle umfassende Kommunikationssystem ist ,überall gleichzeitig' - an allen Orten der Welt und in allen (erfaßten) Zeitpunkten der Vergangenheit, die damit nicht mehr ,vergangen' ist.«
Durch das Herumschieben von »entkörperlichten« Botschaften in Raum und Zeit durch das »Netzwerk von Computerterminals, Telephonen, Telexsystemen, Satelliten-TVs et cetera« entsteht, wie der Wiener Kunsttheoretiker und Künstler Peter Weibel, 44, in einer Kritik der Chronokratie darlegte, eine »Simul-Zeit": die Simulation der Echtzeit mit einer Absenz des Sozialen*. »Wer mit mir bloß telephoniert«, so Weibel, »kann mich nicht ohrfeigen.« Doch mit der kleinen Muskelgewalt verschwinden auch alle anderen körperlichen Bezüge zwischen Menschen einer »Simul-Gesellschaft«, in der die Horrorvision gedeiht, daß sie eines Tages ihre atomare Auslöschung einen letzten Augenblick lang live im Fernsehen beobachten kann.
Die Computer-beschleunigte Interaktion forciert, wie der US-Amerikaner Rifkin befürchtet, einen Typus, der sich kurz angebunden in Ja-nein-Antworten verständigt und Höflichkeitsformeln als ineffektiv fallen läßt, soziale Kontakte nur zum Zweck der Informationssammlung eingeht und andersgeartete Menschen mit einem Hang zur nachdenklichen Ambivalenz intolerant ausgrenzt. Schon Kinder werden, wie Rifkin beschreibt, von der Nanosekundenkultur geprägt. Beispielsweise der neunjährige Junge, der ein Fan von Computerprogrammen der Firma Atari ist: »Lehrer reden langsamer als Atari, manchmal machen sie mich wütend. Ich denke: Na los, ich will zu Atari zurück. Es sagt mir die Sachen schneller.«
Den Stoff schnell aufzugreifen und schnell herunterzurappeln - das moderne Erziehungssystem produziert statt Bildungserlebnisse einen Geschwindigkeitsdruck. Und was ein Klassekind ist, das hat auch nach der Schule seine diversen Termine. »Wir sind wie Autos, wir trinken wie Autos, laufen schnell wie Autos«, zitiert der französische Geschwindigkeitskritiker Virilio einen Kindermund, »wir sind wie das Kaninchen von Alice im Wunderland: schnell, schnell, schnell. Wir kommen immer zu spät, auch wenn wir zu früh kommen.«
Das Gefühl der rasenden Zeit ist ein Produkt der Arbeitswelt, die sehr wohl hohe Konzentration verlangt, aber das im Gleichmaß monotoner Abläufe. Verkäufer ihrer Zeit sind sie gleichermaßen, die »Zeitherren und Zeitsklaven«, so Weibel, »aneinandergekettet im gemeinsamen Wunsch, die Zeit profitabel zu machen«. Während das rasante Produktionstempo immer mehr Menschen aussondert, die nicht einmal mehr ihre Zeit zu Geld machen können, ist die Elite der bestbezahlten »Zeitherren« eine Heerschar der Getriebenen. Je höher die hierarchische Position, desto größer sind die Terminzwänge, mit denen nur noch die letzte Freiheit verbunden ist, daß sie selbstbestimmt sind. Machtmenschen sind Unterworfene der Uhr.
Wie eine Reihe soziologischer Untersuchungen in den USA ergab, sind die Mittel- und Oberschichten sehr viel zukunftsorientierter, während die Armut der untersten Klasse mit extremer Gegenwartsbezogenheit einhergeht. Die Underdogs haben nichts als viel leere Zeit, sie sind noch nicht einmal Zeitsklaven. Während die effizienten Individuen schon morgen wieder in den Zwängen von gestern hetzen, verbraucht die beschleunigte Produktion die Ressourcen der Welt schneller als sie die Natur erneuern kann. Im kleinen wie im großen Maßstab dasselbe: Immens viel Zeit der Zukunft ist bereits in der Vergangenheit investiert worden.
Zwar bedürfen die ökologischen Krisen globaler Entscheidungen. Aber die »Knappheit der Zeit« produziert, wie der Bielefelder Soziologieprofessor Niklas Luhmann, 61, aufzeigte, eine »Vordringlichkeit des Befristeten": Wertkonflikte werden in ein zeitliches Nacheinander aufgelöst, wodurch ihnen die »antagonistische Schärfe eines Existenzkampfes« genommen wird: »Es braucht dann immer nur über augenblickliche Prioritäten entschieden zu werden. Die Anhänger anderer Werte werden nicht diskreditiert; man mutet ihnen nur Wartezeiten zu.«
In Zeitstrategien sieht die Wiener Professorin für Wissenschafts- und Techniksoziologie, Helga Nowotny, 51, die eigentlichen Machtstrategien: »Beschleunigen oder verlangsamen; befristen; versprechen; warten und warten lassen; im richtigen Augenblick handeln, entscheiden oder abwarten - in unzähligen Variationen lassen sich Kampfes- oder Liebesbeziehungen dadurch gestalten.« In intimen Verhältnissen herrscht dasselbe Prinzip wie in Staaten und ihren Beziehungen zueinander.
Der Amerikaner Rifkin prophezeit, daß in naher Zukunft zunehmend Zeitüberlegungen Eingang in die Politik finden werden, jenseits von links und rechts, konservativ und progressiv: eine Herausforderung für die kurzatmig von Wahl zu Wahl hechelnden Demokratien mit ihrem schnellen Aufstieg und Fall der Machtstars. Unterschiedlichste Kreise brachten Zeitrebellen hervor, die alle miteinander schon bewirkt haben, daß die Krise der Zeiterfahrung mit ihren unzähligen Facetten »an die Oberfläche unseres kollektiven Bewußtseins« gestiegen ist: »In den kommenden Jahren werden diese neuen Zeithäretiker eine politische Kraft werden, mit der es zu rechnen gilt.« Nach der territorialen Politik kommt, so Rifkin, »die Zeitpolitik«.
Viele Impulse, in langen Zeiträumen zu denken wie die Irokesenhäuptlinge, die ihre Entscheidungen am Wohlergehen der siebten zu erwartenden Generation ausrichteten, stammen aus den ökologischen Bewegungen. Ob es um Atommüll oder Ressourcen, Waldsterben oder Artenschwund ging, stets kam ein Unbehagen über die mangelnde gesellschaftliche und politische Berücksichtigung des Faktors Zeit hoch. Vordenker einer sanften Chronotechnologie entwarfen zur Verschleißproduktion eine Gegenwelt der langlebigen Dinge, die sich schließlich im Zerfall wieder in die Rhythmen einer organischen Zirkulation einordnen.
Entgegengesetzt zum Fortschritt der Kommunikationstechniken bildete sich ein kritisches Bewußtsein. Der beschleunigte Wechsel der Zeichen mag ja die Reaktionszeit beschleunigen, doch das Denken wird eher behindert, wie immer mehr Intellektuelle beklagen.
Wenn Leute bereits viele Kenntnisse haben, entdecken sie als Methode zur wunderbaren Zeitvermehrung, den gigantischen Informationsfluß nur sehr selektiv zu nutzen und sich mit wenigem gründlicher zu beschäftigen. Führungspersönlichkeiten sind darunter, Wissenschaftler und Künstler. Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, 59, zum Beispiel stieg aus der alltäglichen Nachrichtenbehämmerung mit politischem Schrott aus: »Bonner Tratsch« interessiert ihn nicht, ohne daß er sich als »unpolitisch« empfände, ihn ödet vielmehr die »Null-Meldung« an.
Die Bewegung für ein Tempolimit hat ein Bewußtsein für Selbstbeschränkung in der Geschwindigkeit nicht bloß gegen den Verkehrstod gefördert. Inmitten der allgemeinen Raserei verzichten etliche Leute auf Zeitgewinn, um der Zeit mehr Gewinn zu entlocken, indem sie entspannt langsamer fahren und die reizvolleren Umwege machen. Trotz Besitzerstolz am PS-starken Wagen schwingt sich eine wachsende Kamarilla aufs Fahrrad in das Abenteuer um die Ecke. Durch Landschaften zu gehen, statt sie im Vorbeirauschen zu konsumieren, ist schon Yuppie-schick geworden: Tempo ja, aber Tempo nicht immer.
Das alternative Reisen ist ein Reisen auch in ein alternatives Erleben von Zeit. Man begibt sich bewußt in die Informationsarmut, wo elementare Sensationen die Stunden wieder dehnen, man läßt sich treiben vom Manana einer langsameren Kultur und sieht durch Holzperlenvorhänge einheimischer Lokale kopfschüttelnd den gehetzten Teilnehmern von minutiös terminierten Packagetours hinterher. Ferienzeit ist für viele eine Fortsetzung der Streßzeit, aber für viele andere bereits die Gegenzeit zum schnellen Rhythmus ihres Berufslebens.
Im Heer der Arbeitnehmer haben sich die Wünsche gemehrt, nicht länger Zeitsklave zu sein, sondern »Zeitsouveränität« zu besitzen, wie ein neues Schlagwort heißt. Zunehmend gewähren Arbeitgeber durch flexible Ar beitszeiten kleine Freiräume zur individuellen Gestaltung, weil sie begriffen haben, was auch der britische Historiker Edward P. Thompson in einer Studie des bürgerlichen Arbeitsethos festgestellt hat: »Wo immer Menschen ihren Arbeitsrhythmus selbst bestimmen konnten, bildete sich ein Wechsel von höchster Arbeitsintensität und Müßiggang heraus.« Was für ein Reizthema die Arbeitszeit ist, zeigten auch die Auseinandersetzungen, die der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine entfesselte.
Vor allem in Managerkreisen entwickelte sich ein Faible für Zeitmanagement. Aktionsplan nach Professor Lothar Seiwert, 36, der ein Institut für Zeitmanagement in Taunusstein bei Wiesbaden leitet: »Was werden Sie ab heute tun, um drei Ihrer Zeitdiebe zu fassen?« Denn merke auf: »Zeit ist mehr wert als Geld.« Dilettanten planen derart genau, daß sie der Zufall um so härter trifft; Profis rationalisieren weg, was sie bloß Streß und Zeit kostet, ohne sonderlichen Nutzen einzubringen; wahre Künstler treiben die Zeitplanung so weit, daß sich lange Schleifen unverplanter Zeit ergeben.
Mit der feministischen Bewegung kam Unmut auf, nicht nur über die unbezahlte Arbeitszeit der Hausfrauen und Mütter, sondern generell über den Unterschied in den traditionellen Zeitkulturen der Geschlechter. Wie die Soziologin Nowotny bemerkte, verstehen sich Männer eher in größeren Zeitsequenzen zu organisieren, während Frauen mit ihren sozialen Reflexen leichter daran kranken, daß sie bloß kürzeste Zeitpartikel übrig haben, mit denen sie nicht viel anfangen können. Wo Frauen zwischen Beruf und Familie hetzen, ihr Alltag also nicht mehr geschlechtsspezifisch ist, prallen nach Nowotnys Beobachtung zunehmend die noch immer geschlechtsspezifischen Zeitkulturen aufeinander: eine Situation, die nach Emanzipation »der Kinder des Kronos« geradezu schreit.
Viele Kinder sind von Momo beeindruckt, einem von dem alternativen Märchenerzähler Michael Ende, 59, erfundenen Lumpenmädchen, das unheimliche graue Herren beim Diebstahl der Zeit ertappt und durch ihren Mut das geraubte Gut wieder zurückgewinnt für die glücklichen Menschen. In Teilen der Jugendkultur wird, statt alle Zeit für die Zukunft zu investieren, das »Hier und Jetzt« betont, oder, wie es neuerdings heißt: »Paradise now.«
Unter der Devise »Zurück zur Natur« summieren sich zahlreiche gesellschaftliche Anstrengungen, der schnellen Hochzivilisation zu entkommen. »Die Natur bewegt sich fast gar nicht im Vergleich zur Computer-Zeitwelt«, so fiel dem US-Aussteiger Jerry Mander, 52, auf, der einst ein erfolgreicher Werbemanager war und jetzt für alternative Gesellschaftsformen wirbt: »Es braucht ein Höchstmaß an Ruhe, um Dinge wahrzunehmen, die in der Natur vor sich gehen, und ich fürchte, wir bringen vielleicht eine Generation von Leuten hervor, die zu schnell sind, um sich auf die langsameren, natürlichen Rhythmen einzustellen.«
Die alternative Bewegung aufs Land stellt eine radikale Abkehr von den Tempo-Zwängen dar. Aber auch Verbliebene und Getriebene in der High-Tech-Kultur zieht es wenigstens zur Entspannung in halbwegs heile Biotope. In saturierten Kreisen entwickelt sich als letzter Luxus der wilde Garten zu einer Oase der Langsamkeit.
»Zurück zur Natur« ist auch ein Zurück zur menschlichen Natur. Es kam ein Bewußtsein für »ganzheitliche Gesundheit« und »Bio-Rhythmik« auf: ein Sektor, auf dem sich Scharlatane tummeln, aber auch hochkarätige Wissenschaftler forschen.
Soviel ist gewiß: Der Mensch ist als ein schwingendes System zu verstehen, vergleichbar einem riesigen Uhrenladen. Es sind schon viele hundert verschiedene Prozesse mit einem Tag- und Nacht-Rhythmus bekannt: Wir sind also alle Stunde ein anderer, und das in so beträchtlichem Ausmaß, daß sich eine Chronopharmakologie entwickelt zur Bestimmung der günstigsten Einnahmezeiten für Medikamente.
Obschon der Makro-Uhr des Himmels genetisch nachgeformt, sind die Perioden in der menschlichen Mikrowelt nicht ganz genau. Um die vielen hundert Rhythmen miteinander zu synchronisieren, bedarf das Individuum eines Impulses von außen. Seine biologischen Uhren ticken zwar ererbtermaßen von selbst, aber sie müssen immer wieder richtig gestellt werden. Als archaischer Zeitgeber wirkt das Signal der Sonne: Es stößt mit Hilfe des Hormons Melatonin einen biochemischen Reglungsprozeß an, der im Frühling auch noch ein anderer als im Winter ist.
Wer durch Nachtschichten oder Jet-Reisen aus seinem gewohnten Tages- oder Jahreszeitenrhythmus fällt, hat einige Schwierigkeiten mit der Synchronisation seiner inneren Uhren. Der Mensch ist zwar ein atavistisches Tier, aber doch auch ein Zoon politikon. Und so kann er den himmlischen Zeitgeber durch soziale Signale einigermaßen ersetzen. Die Zeichen der heutzutage von technischen Uhren gesteuerten Gesellschaft vermögen biologische Reaktionen wie das Licht anzustoßen. Die Chronokratie mit ihren minutiösen Zwängen schreibt sich tatsächlich fortwährend in die Körper ein.
In den künstlichen Zeitwelten fern der Natur mit ihren elementaren Signalen ist aber die Steuerung des hochkomplizierten Uhrwerks Mensch störanfällig. Auseinanderlaufende und gegeneinander arbeitende Rhythmen sind nach neuester Einschätzung Begleiterscheinung oder womöglich Ursache von Krankheit überhaupt, aber da steckt die Forschung erst in den allerersten Anfängen.
Generell macht sich in den Naturwissenschaften eine Umorientierung bemerkbar. Gingen die Forscher, orientiert an Newton, lange von der einen »absoluten« Zeit für lebende Organismen wie für tote Dinge aus, ist neuerdings die von dem belgischen Physiko-Chemiker und Nobelpreisträger Ilya Prigogine, 72, formulierte Sichtweise interessant geworden, daß nämlich »die Welt eine unendliche Vielfalt an internen Zeiten« enthält: Alles und jedes, das Universum wie der Einzeller, ist seine eigene Uhr mit ihrer Eigenzeit.
Duchaus folgerichtig nennt Helga Nowotny ihr gerade erschienenes Buch »Eigenzeit"*. Die Betonung der Ich-Zeit ist eine Art Befreiungsversuch von den zwanghaften Strukturen der externen Welt, eine Suche nach der verlorenen Zeit sowohl für Spontaneität (entgegengesetzt zu den verinnerlichten Normen der Planungswirtschaft) als auch für die Geduld (entgegengesetzt zum Druck der Geschwindigkeitskultur). Letztlich geht es um die Utopie, es könnte einen adäquaten Ausgleich zwischen der Ich-Zeit und der Eigenzeit anderer und der gesellschaftlichen Zeit geben: den immerfort richtigen Augenblick.
Es hat Symbolcharakter: Avantgardisten der Eigenzeit wollen nicht zeitlebens wandelnde Chronometer sein. Sie legen, wenigstens am Wochenende oder auch für immer, ihre Rolex oder Swatch ab und üben sich in Sensibilität für ihre inneren Uhren. Aber auch Leute, die sich ohne ihr Meßinstrument am Arm wie nackt fühlen, haben angefangen, das raffinierte Wechselspiel zwischen inneren und äußeren Rhythmen zu beachten. Auf der Suche nach Eigenzeit verbreiteten sich Yoga und Meditation: Ein Gefühl für die altasiatische Ruhe und das Tao der Natur kehrte in das ruhelose Europa ein.
Aus der Geschichte stieg die Traumzeit auf als Anregung für eine Produktionsweise der Phantasie, die keine Trennschärfe zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt: ein Gegengewicht zum Realitätsprinzip mit seiner Ankopplung an die (schnell gewordene) Zeit. Eine Reihe von Schriftstellern, von GarcIa Marquez bis Isabel Allende, von Günter Graß bis Salman Rushdie, haben die Traumzeitperspektive belebt. Ihre Figuren stehen immer wieder außerhalb der logischen Zeit.
Inmitten der Schnellebigkeit, die die Trauer bis hin zur bereits sprichwörtlichen Unfähigkeit verkürzt und in der Sexualität den Quickie schon in der ersten Nacht salonfähig gemacht hat, zwischen all den Exzessen beschleunigter Psychen entwickelt sich ein Anti-Zeitgeist der Langsamkeit, wie ihn der Sensibilist Peter Handke bereits seit einem Jahrzehnt kultiviert.
Als er 36 Jahre alt war, hatte er »die Erleuchtung der Langsamkeit« und schrieb das Buch »Langsame Heimkehr«. Er kehrte aus der schnellen Metropole Paris heim nach Österreich, in das langsame Salzburg, und seitdem ist für ihn die Langsamkeit »ein Lebens- und Schreibprinzip«.
Er vermeidet, »daß die Sprache sozusagen als Perpetuum mobile die Dinge in ihren Reißwolf zieht und dann die Geschwindigkeit eines Rennwagens annimmt und durch die Landschaft braust, so daß man weder von Landschaft noch Sprache etwas erlebt«.
Der Berliner Schriftsteller Sten Nadolny, 46, nannte seinen Roman über einen englischen Seefahrer des 19. Jahrhunderts »Die Entdeckung der Langsamkeit«. Der Held konnte schon als Kind keine schnellen Bälle fangen und blieb zeitlebens langsam, in der Bewegung, der Wahrnehmung und der Auffassung, aber was er einmal aufgefaßt hatte, bewegte er gründlich bis hin zu einer Philosophie der Bedächtigkeit und einer Toleranz für die Eigengeschwindigkeit eines jeden. Die historische Erzählung, so hieß es in der »Neuen Zürcher Zeitung«, sei weniger Rückschau als »eine Utopie, ein Zukunfts- und Gegenbild für unsere eigene hektische, geschwindigkeitssüchtige Zeit«.
In den sechs Jahren seit Erscheinen des Buchs hat sich sein Titel verselbständigt: »Die Entdeckung der Langsamkeit« wurde eine kulturelle Metapher für eine neue Art des Fortschritts in der Zivilisation. Wie der (vor sieben Jahren mit 96 Jahren gestorbene) US-Historiker Will Durant, der eine voluminöse »Kulturgeschichte der Menschheit« hinterließ, natürlich schon lange zuvor bemerkt hatte: »Kein eiliger Mensch ist ganz zivilisiert.«
Die Chronokratie mit ihrer Zeitdisziplin, ihren vernetzten Systemen der Terminzwänge und Informationsflüsse, ihrem Temporausch und ihrer Fortschrittseuphorie, ihren Leistungen und ihren Schwächen wird nach Ansicht des Zeithistorikers Wendorff das wesentliche Merkmal unserer Zivilisation bleiben, aber sie bekommt einen Gegenpol: ein Bewußtsein der weichen Zeit.
Es integriert einen Sinn für die Eigenzeit der Dinge und die Ich-Zeit der Individuen; für die Planlosigkeit und die Kreativität augenblicklicher Eingebungen; für die Traumzeit einer schweifenden Phantasie; für die Langsamkeit der Wahrnehmung und der Gedanken, der Bewegungen und der Handlungen, die Langsamkeit in der Entwicklung von Liebe und im Vergehen von Trauer; für die Langsamkeit auch des globalen Fortschritts; für die zyklische Wiederkehr des Ähnlichen und die Rhythmen der Natur, für die lange Zeit des Werdens der Welt, die es für lange Zeit zu bewahren gilt. Exakte, harte, schnelle Zeit versus unbestimmte, weiche, langsame Zeit: »Die verschiedenen Formen des Zeitbewußtseins«, so Wendorff, »rivalisieren miteinander, aber wir brauchen sie beide, und wir sollten uns für fähig halten, die zwischen ihnen bestehende Spannung auszuhalten und als Kraftpotential zu nutzen.« #
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