Im Südwesten ein achtes Weltwunder?
Die deutsche Idylle liegt im Südwesten: Dort drunten, so weiß die Nation, schaffen der Haberle und der Pfleiderer fürs Häusle; da verwöhnt die Sonne den badischen Wein; da zuckelt die schwäbische Eisebahn -- trullatrullatrullala -- durch Städte, die aufingen enden.
Das Land, wo die Zitronen blühn (auf der Mainau am Bodensee) und wo die Welt ihr Herz verloren hat (auf dem Schloßhof zu Heidelberg), erstreckt sich, so schwärmte der Heimatdichter August Lämmle. »geradewegs unterm Himmel«.
Für Generationen von Deutschen war Friedrich Hölderlins »seliges Land« zwischen Schwarzwald und Schwabenalb zuvörderst Hort weinseliger Romantik und Heimstatt von Kirschwasser und Kuckucksuhr. Doch Baden-Württemberg hat sich gewandelt.
Der Südwest-Winkel der Republik, in dem im vorigen Jahrhundert noch neun von zehn Erwerbstätigen auf meist kargen Äckern rackerten, ist zum Industriegiganten geworden -- zum, wie Ministerpräsident Hans Karl Filbinger formulierte, »leisen Riesen«. Denn, so der christdemokratische Premier: »Man sieht ihm von außen seine wirtschaftliche Kraft und Dynamik nicht ohne weiteres an.«
Nicht mehr die Hochofen-Megalopolis an der Ruhr, auch nicht das rosarote Musterland Hessen, sondern ausgerechnet Baden-Württemberg, einst das Armenhaus des Reiches, ist heute Deutschlands Wirtschaftsregion Nummer eins: Es hat
* mit 179 Industriebeschäftigten je 1000 Einwohner (Bundesdurchschnitt: 140) den höchsten Industrialisierungsgrad aller Bundesländer;
* mit 61,7 Prozent den höchsten Anteil Erwerbstätiger an der Bevölkerung ab 15 Jahren (mittlere Erwerbsquote im Bundesgebiet: 56,2 Prozent);
* mit jährlichen Ausfuhren im Wert von 2527 Mark pro Einwohner den höchsten Export (Bundesmittel: 2042 Mark).
Schon nennt EWG-Kommissar Ralf Dahrendorf, zuvor Professor der Soziologie an der Universität Konstanz, Baden-Württemberg »das deutsche Kalifornien, also das Land, in das es sehr viele Menschen aus anderen Gegenden zieht«. Tasächlich verbuchte der Südweststaat (gegenwärtig rund neun Millionen Einwohner) in den letzten zwei Jahrzehnten einen Zuwachs von 2,4 Millionen Menschen (gleich 37,7 Prozent; Bundesdurchschnitt: 20,6 Prozent) -- das sind so viele Neubürger wie Schleswig-Holstein Einwohner hat.
Und während noch vor gut hundert Jahren das Großherzogtum Baden und das Königreich Württemberg so arm dran waren, daß der Hunger eine halbe Million Landeskinder auf den Balkan und nach Rußland, nach Brasilien und Nordamerika trieb, hat das neureiche Baden-Württemberg über eine halbe Million Gastarbeiter importieren müssen -- ein Viertel aller ausländischen Werktätigen in der Bundesrepublik.
Ein Ende des Aufstiegs ist nicht abzusehen. Denn durch die EWG-Politik ist der einstige Eckensteher des Reiches ins Zentrum befördert worden (gleich weit entfernt von Rom und Kopenhagen, London und Marseille). Und eine ausgesprochen »ausgewogene Wirtschaftskraft«, so Stuttgarts sozialdemokratischer Wirtschaftsminister Hans-
* Oben: schwäbische Auswanderer um 1850; unten: Gastarbeiter in Stuttgart.
Otto Schwarz, öffnet Land und Leuten goldene Perspektiven:
Baden-Württembergs Arbeitnehmer schaffen nicht nur in Mammut-Fabriken wie der Auto-Edelschmiede Daimler-Benz (144 374 Beschäftigte) und beim Elektro-Konzern Bosch (119 400 Beschäftigte) in Stuttgart, beim Computer-Bauer IBM in Sindelfingen (22 459 Beschäftigte) und beim Linsenschleifer Zeiss in Oberkochen (33 910 Beschäftigte).
Schwäbische und badische Werktätige verdienen -- außer in Landwirtschaft und Fremdenverkehr -- vor allem in der übers ganze Land verstreuten Klein- und Mittelindustrie: Sie schnippeln Sauerkraut (bei Hengstenberg in Esslingen), mischen Skatkarten (bei »Ass« in Leinfelden), ziehen Harmonikas (bei Hohner in Trossingen) und drücken Plüschtieren Knöpfe ins Ohr (bei Steiff in Giengen).
Doch zum »Land der Zukunft« (Dahrendorf) prädestiniert ist Baden-Württemberg nicht allein wegen seiner gesunden Gemischtwaren-Wirtschaft: Ein Sprung nach vorn scheint der prosperierenden Provinz auch im Bildungswesen geglückt.
»Der rätselhafteste
aller deutschen Stämme«.
Das Land in der Kniekehle des Rheins, dessen »schwerfällige und maulfaule« Eingeborene laut Landeskenner Dr. Hans Bayer alias Thaddäus Troll ("Deutschland deine Schwaben") einst als »Nationaldeppen« das Vorbild für den Theater-Hanswurst abgaben,
* hat heute von allen Bundesländern die meisten Hochschulen (neun Universitäten und neun Pädagogische Hochschulen);
* liegt mit seinen jährlichen Pro-Kopf-Aufwendungen für das Bildungswesen von 350 Mark weit über dem Bundesdurchschnitt;
* hat seit 1953 den Abiturienten-Anteil an den Altersjahrgängen von 4,3 auf 11,3 Prozent emporgetrieben -- nur Hessen (12,9 Prozent) ist besser. Und dennoch: Höchster Industrialisierungsgrad, hohe Bildungsraten -- für die Sozialdemokraten, die gemeinhin bei Arbeitern und Gebildeten reüssieren, sind diese Eigenarten im »Ruhrgebiet der Präzisionsindustrie« (so das Industrie-Magazin »Dialog") bislang nie zu Buche geschlagen. Baden-Württemberg ist, so Alt-Ministerpräsident Kurt-Georg Kiesinger, »das klassische Land der CDU«.
Wenn am 23. April die sechs Millionen Wahlbürger in Baden und in Schwaben ihren sechsten Landtag wählen, haben die Stuttgarter Christdemokraten die weitaus günstigere Ausgangsposition als ihr Koalitionspartner SPD: In Baden-Württemberg erzielte die CDU bei der letzten Bundestagswahl mit 50,7 Prozent den Bundesrekord der Schwarzen; bei der letzten Landtagswahl verfehlte sie mit 60 Mandaten die absolute Mehrheit nur um vier Sitze. Die SPD hingegen blieb mit 29 Prozent selbst hinter Bayerns Genossen zurück.
So widersprüchlich wie an den Wahlsonntagen scheint das Verhalten der Menschen im Heimatland Kurt Georg Kiesingers und Eugen Gerstenmaiers, Fritz Teufels und des TV-Schwaben Willy Reichert auch im Alltag: Obschon Baden-Württemberg, so der protestantische Pfarrer und Publizist Eberhard Stammler, bis auf den heutigen Tag »zu den Landstrichen mit der intensivsten Kirchlichkeit zählt«, scheint selbst dort Nächstenliebe nur gepredigt zu werden: Den sozial Schwachen des Erfolgslandes, den Mietern und den Gastarbeitern, den Armen und den Alten, geht es kaum besser als in weniger frommen Regionen so, als gelte noch das Wort des Schriftstellers Ludwig Aurbacher (1784 bis 1847), die Schwaben hätten »zwei Mägen, aber kein Herz«.
Und obgleich deutsche Frauen kaum irgendwo sonst so eifrig den Staub vom Vertiko wischen wie im Schwabenland, dessen Bewohnern die Bundesbürger bei Umfragen mehr Sauberkeit (82 Prozent) als dem Durchschnittsdeutschen (76 Prozent) bescheinigen, verdreckt hier die Umwelt zumindest ebenso rasch wie anderswo: Über vielen Häusle-Kolonien wabert Smog, und die schöne blaue Donau sieht nur noch dann schön aus, wenn die Textil-Industrie im Landkreis Balingen ihre Pullover statt rot oder gelb gerade blau gefärbt hat.
»Die Schwaben«, kommentiert Thaddäus Troll solche Ungereimtheiten, »bestehen aus einem Sack voll Widersprüche.« Für den Schorndorfer Landeskundler Professor Dr. Fritz Rahn ist das verquere Völkchen gar der »rätselhafteste aller deutschen Stämme«.
Des Rätsels Lösung liegt in der Historie: Der karge, durch Erbteilung zerstückelte Boden im deutschen Südwesten zwang jahrhundertelang die kleinbäuerliche Bevölkerung zu rastloser Emsigkeit und radikaler Sparsamkeit, zu penibler Pflichterfüllung und phantasievollem Sinnieren.
»Bei noch ländlichem Einschlag keine radikalen Tendenzen.«
Trost fand das von Hungersnöten und Despoten gequälte Landvolk im Pietismus, der weltliche Genüsse als Köder des Satans, weltlichen Besitz hingegen als Beweis göttlichen Wohlwollens ansah. Seither, so scheint es, arbeiten die Schwaben nicht, um zu leben -- sie leben, um zu arbeiten, oder, wie sie es nennen, .zu schaffen.
Von der Grundstoffarmut zum Erfindungsreichtum verdammt, bastelten die tüchtigen Tüftler das erste brauchbare Kraftfahrzeug und das erste lenkbare Luftschiff, die erste Magnetzündung, das erste Motorboot und die erste Rechenmaschine.
Die im vorigen Jahrhundert aufschießende Verarbeitungs- und Veredelungsindustrie bot Klein- und Kleinstbauern, die der Hof allein nicht mehr ernährte, neue Arbeitsplätze: Es entstand eine Schicht notgedrungen fleißiger und fügsamer Präzisionswerker, die ihr Schaffen nicht als entfremdete Arbeit, sondern als eine Art Gottesdienst verstanden -- und denen es fernlag, sich als Proletarier zu verstehen.
Bis auf den heutigen Tag schätzen Westdeutschlands Unternehmer die bodenständigen Südwestler, bei denen noch immer Sinnsprüche wie »Aushalten, haushalten, Maul halten« populär sind. In Industrieansiedlungs-Annoncen wirbt beispielsweise das Landratsamt Donaueschingen mit der »arbeitsamen, ruhigen Bevölkerung« des Landkreises: »Bei dem noch ländlichen Einschlag keine radikalen Tendenzen und keine sozialen Probleme.«
Stärker als anderswo fühlen sich in Baden-Württemberg Arbeitnehmer und Arbeitgeber voneinander abhängig: Die Unternehmer sind auf die knappen, zumeist hochqualifizierten Arbeiter angewiesen; die Arbeiter wiederum sind besonders häufig durch Haus- und Grundbesitz an ihren Betrieb gebunden, der oft eine ganze Klein- oder Mittelstadt beherrscht. Zielstrebig wird der pietistisch grundierte Häuslebau-Kult seit Jahrzehnten von Landesregierung und vielen
Unternehmern mit Sonderzuschüssen gefördert.
Im Heimatland der großen Bausparkassen ("Wüstenrot«, »Leonberger«, »Schwäbisch Hall") leben heute 41 Prozent der Haushalte in eigenen vier Wänden (Bund: 34 Prozent). Und jeder vierte hat einen Bausparvertrag (Bundesdurchschnitt: jeder sechste). Die Folge sind Siedlungen, die »aussehen, als sei es den schönen alten Städten und Dörfern schlecht geworden und sie hätten sich übergeben« (Troll).
Krisen, die das konfliktarme Miteinander von patriarchalischen Arbeitgebern und bodenständigen Arbeitnehmern ernsthaft gestört haben, hat es in der ausgewogenen baden-württembergischen Wirtschaft nie gegeben: Als 1932 in Deutschland sechs Millionen arbeitslos waren, lag die Ziffer an Südrhein und Neckar um ein Viertel unter dem Reichsdurchschnitt, und auch während der Rezession 1966/67 blieb im Musterländle die Erwerbslosen-Quote mit 0,7 Prozent weit hinter dem Bundesmittel (2,1 Prozent) zurück.
Selbst an den südwestdeutschen Metallarbeiterstreiks und Aussperrungen im letzten Jahr, den bislang härtesten Tarifauseinandersetzungen, zerbrach nicht die alte Harmonie: Arbeiter verjagten Studenten, die mit Flugblättern gegen die Kapitalisten agitierten, und gelegentlich brachte der Fabrikherr dem Streikposten die Vesper ans Werktor.
Besser als anderen ist es schwäbischen Unternehmern gelungen, ihre kaum austauschbaren Qualitätsarbeiter bei Laune zu halten -- notfalls durch überdurchschnittliche Sozialleistungen. Robert ("der Rote") Bosch, der schon 1906 den Achtstundentag einführte, bekannte, er zahle seine hohen Löhne nicht, weil er so reich sei; er sei vielmehr so reich, weil er hohe Löhne zahle.
Daß gesellschaftliche Gegensätze in Baden-Württemberg weniger hart aufeinanderprallen als anderswo, mag freilich auch in der Neigung schwäbischer Reicher begründet sein, ihren Reichtum nicht protzig zur Schau zu stellen, sondern vor Konkurrenz und Nachbarn, Betriebsrat und Finanzamt zu verbergen. Der Schwaben-Schnack, Fabrikanten-Frauen legten ihren Schmuck nur außerhalb des Landes an und Firmen-Bosse steuerten am liebsten einen als 220er getarnten 300er Mercedes. hat einen wahren Kern. Die Industrie- und Handelskammer des Landkreises Reutlingen, wo 126 Vermögensmillionäre leben, zeigt Verständnis für derlei Zurückhaltung: Es errege »etwas Neid und Mißgunst. wenn von den vielen Millionen die Rede ist«.
Ganz sicher bestimmen Neid und Mißgunst die sozialen Beziehungen in den Häusle-Kolonien der kleinen Leute, die argwöhnisch darüber wachen, ob auch der Nachbar demütig dem Schaffe-Kult huldigt. Hinter schwäbischen Gardinen, warnt ein Leitfaden ("Stuttgart für Anfänger"), »lauern lauter kleine Röntgenologen: Sie sehen sofort, ob einer schafft oder nicht schafft«.
»Geschlechtsverkehr und sonstige Perversitäten.«
Gesellschaftliches Abseits droht jedem, der sich dem Arbeits- und Putzzwang im Ländle nicht unterwerfen und beispielsweise die Regeln der geheiligten »Kehrwoche« nicht mit ähnlicher Inbrunst einhalten mag wie jene Stuttgarterinnen, die in den Bombennächten des Zweiten Weltkriegs vor ihrem Haus die Straße fegten; ringsum brannte die Stadt. Noch im letzten Winter wurde in Stuttgart eine 50jährige körperbehinderte Rentnerin, die ihren Treppen- und Trottoirpflegepflichten nicht nachkommen konnte, mit einer Kündigung bedacht (die erst nach Presse-Protesten zurückgenommen wurde).
Von der Eigenbrötelei der Eigenheimler -- Erbe bäuerlicher Vergangenheit -- künden Kachelsprüche ("Mach dich nicht gemein, sei gern allein") ebenso wie die gängige Anekdote von der Wirtstochter. die ausruft: »Was machet mer bloß, Vadder. do kommet femf Schduagerder (Stuttgarter), ond mer hent bloß vier Disch.«
Und Legion sind auch die Witzchen über Geizhälse wie jenen auf dem Sterbebett liegenden Fabrikanten. der seiner Frau verübelt, daß sie die Vesperbrezeln -- uni der Feierlichkeit der Stunde willen -- mit unüblicher Butter bestreicht: »Jetzt goh'd d' Sauerei scho a.«
In der kleinen, engen Welt der frommen Wuhler (Wühler), die dem anderen weniger noch als sich selber gönnen, gedeihen bis heute mehr als anderswo Sexualneid und Sittenstrenge, Muckertum und Moralismus. Schwaben, die laut Volksmeinung »net nach de Mädle schaue« dürfen, entnisten sich über blanke Busen (wie bei der Aufführung der »Teufel von Loudun«, die 1969 in Stuttgart einen Skandal verursachte) und über nackte Nachbarn (wie jüngst in Heilbronn. wo die Bitte des örtlichen
* Oben: Gedenkmedaille zur hundertsten Wiederkehr des Geburtstages am 23. September 1961; unten: Metallarbeiterstreik im November 1971.
Nudisten-Vereins, einmal wöchentlich in der städtischen Schwimmhalle planschen zu dürfen, einen Proteststurm entfachte).
Nirgendwo sonst -- außer vielleicht noch in Bayern -- ist denn auch die Justiz auf Unzüchtiges in Wort, Bild und Ton so scharf wie in diesem sauberen Lande, in dem selbst den Prostituierten in Stuttgarts »Dreifarbenhaus« laut Hausordnung ab 23 Uhr »Herrenbesuche nicht gestattet« sind.
Allein 1971 ermittelten Stuttgarter Staatsanwälte rund 500 mal in Sachen Fleischeslust -- so gegen den Besitzer des Backnanger »Twen-Club«, dem sie in der Anklageschrift vorwarfen, er habe seinen Gästen im Film »Geschlechtsverkehr und sonstige Perversitäten« vorgeführt.
In dieser »oft so düsteren und freudlosen Atmosphäre« des pietistisch geprägten Schwaben (so der protestantische Publizist Eberhard Stammler) fehlt es auch an Geld für die Künste: Die Millionärs-Metropole Stuttgart -- wo sich auf dem architekturhistorisch bedeutenden Muschelkalk-Bahnhof des Paul Bonatz blau-weiß der Reklame-Stern von Daimler dreht -- lag mit ihren. Kunstausgaben jahrelang an letzter Stelle unter Westdeutschlands Großstädten. Württemberg ist, weiß der ehemalige Stuttgarter Staatsgaleriedirektor Erwin Petermann, »kein klassisches Land der Mäzene«.
Zwar zitieren Schwaben gern den, wie der Schriftsteller Peter Bamm meint, »arrogantesten Vers der deutschen Literatur":
Der Schiller und der Hegel Der Uhland und der Hauft Das ist bei uns die Regel Das fällt uns gar nicht auf.
Aber sie verdrängen dabei, daß nur wenige der im Land geborenen Großen es dort lange aushielten. »Schiller wußte, warum er floh«, textete letztes Jahr ein Stuttgarter Spötter, als die Stadt einen neuen Slogan suchte. »Es wird mir alles zu eng hier in unserem Pfaffen- und Schreiberland. Wie froh will ich sein, wenn ich einmal freiere Luft atme«, schrieb Philosoph Schelling an seinen Kollegen Hegel. »Das enge Land«, notierte Theodor Heuss, »hat den Reichtum seiner Begabungen nicht immer ertragen.«
Weniger eng als in Württembergs verwinkelten Tälern war es stets im rheinischen Baden, wo sich im Revolutionsjahr 1848 die Bürger vehementer als anderswo erhoben und wo der muffige Pietismus Schwabens nie verstanden wurde. »Im Rheintal«, lobt der landeskundige Ulmer Oberbürgermeister Theodor Pfizer, »war immer Durchzug ... Das Badnerland war die »bestgelüftete« Gegend des Reiches.«
Vor allem der fortschrittlichen Kulturpolitik in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts verdankt Baden seinen Ruf als Musterländle. Unter dem liberalen Großherzog Friedrich I. (1856 bis 1907) wurden die Universitäten Heidelberg und Freiburg ausgebaut und wurde 1900 das Frauenstudium eingeführt. Und während in Südwürttemberg die katholischen Konfessionsschulen erst vor fünf Jahren abgeschafft wurden, gehen die badischen Kinder bereits seit einem Jahrhundert auf die -- 1876 in heftigem Kulturkampf erstrittene -- Simultanschule.
Doch ob Baden, seit der Karlsruher Verfassung von 1818 »Stammland des Liberalismus"*, und auch Württemberg, seit dem Tübinger Vertrag von 1514 »Wiege der Demokratie"**, ihren historischen Prädikaten heute noch entsprechen -- das erscheint fraglich.
Denn unter christdemokratischer Vorherrschaft ist Baden-Württemberg -- derzeit im Bundesrat Züinglein an der Waage -- zum Bremsklotz des Bundes geworden. Die CDU-Mehrheit der Stuttgarter Großen Koalition legte sich im Bundesrat nicht nur in der Ostpolitik quer -- selbst die Betriebsverfassungs-, Mieterschutz- und Städtebaureformen suchte sie zu blockieren.
Freilich hatte die südwestdeutsche Geschichte, mit der sich die Einheimischen bis auf den heutigen Tag gern schmücken, neben der fortschrittlichen stets auch eine reaktionäre Komponente: Zwar bekämpfte der großbürgerliche Besitz- und Bildungsadel -- Träger des historischen Liberalismus -- die überkommene Feudalmacht des Blutadels, doch zugleich stritten diese Liberalen, so der Münsteraner Historiker und Baden-Forscher Dr. Manfred Botzenhart, für »Kautelen gegen ein Übergewicht der unteren Schichten«. Besonders im Südwesten habe der Liberalismus, schreibt der Berliner Geschichtsprofessor Hans Herzfeld, »den Gedanken der Freiheit und Gleichheit durch die unbedingte Heiligkeit des Eigentums begrenzt«.
Jede drift. Schule eine Zwergschule.
Weil sich im Land der Familienbetriebe und Betriebsfamilien ein Industrie-Proletariat nie gebildet hat, ist dieser Bürger-Liberalismus noch immer die bestimmende politische Kraft im Lande: In Baden-Württemberg herrscht nahezu unangefochten jene frühliberale Ideologie, nach der, wie die »Stuttgarter Zeitung« kritisierte, »nur der etwas zu sagen haben solle, der sich durch örtlichen Besitz und durch örtliches Geschäftsrisiko dieser Gemeinschaft besonders verpflichtet fühlt«.
Am deutlichsten spiegelt sich dieses unpolitische Politikverständnis in den Gemeinden, wo fast die Hälfte der Ratsherren Unternehmer, Handwerker, Gewerbetreibende und Freiberufler sind. Die »Stuttgarter Zeitung« mahnte daher unlängst, daß auch in Baden-Württemberg »die Gestaltungsfreiheit einer Mehrheit der Bevölkerung den Maßstab liefern sollte und nicht das subjektive Interesse einiger Privatleute« -- etwa wenn es um die »hochpolitische« Entscheidung gehe, ob öffentliche Gelder für vorrangig wirtschaftsbezogene oder soziale Investitionen ausgegeben werden sollen,
Das Honoratiorentum und die Mentalität der Südwestler, die sich selber für »oizecht« (einzelgängerisch, unsolidarisch) halten, haben fatale Folgen gezeitigt: Der soziale Fortschritt ist hinter dem rasanten wirtschaftlichen Wachstum zurückgeblieben. Wenn Baden-Württemberg im Bundesmaßstab
* Anders als die gleichfalls monarchischen Verfassungen der übrigen süddeutschen Staaten (Bayern Württemberg) mit ihrem ständischen Wahlmodus verwirklichte die badische Verfassung die moderne Repräsentationsidee vom wahlrecht der Bürger in Stimmbezirken.
** Im Tübinger Vertrag -- laut Ludwig Uhland »Urfels des alten Verfassungsrechts« -- mußte Herzog Ulrich den bürgerlichen Landständen neben der Steuerhoheit das Grundrecht des Schutzes der Person und des Eigentums vor Willkür sowie das Recht auf Waffentragen und Freizügigkeit gewähren.
auch nur auf wenigen Gebieten das Schlußlicht bildet, so steht es doch in vielerlei Hinsicht auch nicht an der Spitze wie es seinem Rang als »modernstem Industrieland der Bundesrepublik« ("Capital") entsprechen müßte.
Zwar hat Baden-Württemberg im Bildungswesen Bemerkenswertes geleistet. Doch die Reformpolitik des christdemokratischen Kultusministers Wilhelm Hahn hat Schlagseite: Der konservative Theologie-Professor ist dem selbstgesteckten Ziel, den im Präzisionsindurstrieland Baden-Württemberg besonders rasch »steigenden Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften« zu decken. näher gekommen als dem Auftrag der Landesverfassung, daß »jeder junge Mensch ohne Rücksicht aal Herkunft oder wirtschaftliche Lage ... eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung« erhalten solle.
Chancengleichheit -- ohnehin eher eine sozialdemokratische Forderung -- ist im CDU-regierten Südweststaat nicht gewährleistet. Noch immer machen ein- oder zweiklassige ländliche Zwergschulen 37 Prozent aller Grundschulen aus. »Was die Zwergschulen angeht«, frohlockt Bayerns Kultusminister Hans Maier mit Blick aufs Nachbarland, »liegen wir nicht mehr Vorn.«
Gesamtschulen jedoch, die Kinder aus unteren Sozialschichten fördern sollen, sind Stuttgarts Hahn suspekt: Im ganzen Lande Baden-Württemberg gibt es bislang nur sechs, im kleineren Hessen hingegen 58 derartige Versuchsschulen.
Benachteiligt sind auch noch immer die bildungsschwachen Kinder, von denen nicht einmal jedes zweite in eine Sonderschule aufgenommen werden kann. Ebensowenig hat die Versorgung bedürftiger Alter mit dem wirtschaftlichen Wachstum Schritt gehalten: Bis 1975 wird sich der Fehlbestand an Wohnheimplätzen auf 21 000, an Pflegeheimplätzen auf 10 500 erhöhen.
»Ein Wunder, daß noch keine Epidemien ausgebrochen sind.«
Nachgerade menschenunwürdig sind die psychiatrischen Krankenhäuser des Landes: Mit nur 0,97 Betten pro tausend Einwohner in »überalterten. für die moderne Psychiatrie ungeeigneten Gebäuden« (Landesregierung) liegt Baden-Württemberg am Ende der Statistik (Bundesdurchschnitt: 1,32 Betten; Schweden: 4,2 Betten), und allenthalben mangelt es an Fachpersonal -- für die Ulmer »Südwest-Presse« Anlaß zu beklagen, »mit welcher Mißachtung das Land Baden-Württemberg kranken Menschen begegnet, die sich nicht wehren »können«.
Im Schlagschatten des Wohlstands leben im gastarbeiterreichsten Bundesland zudem die meisten der über 800000 Ausländer (rund zehn Prozent der Bevölkerung), denen die Baden-Württemberger ein Gutteil ihres Wirtschaftswachstums verdanken.
Tausende von Gastarbeiterkindern bleiben den deutschen Schulen fern, in denen es an Sonderklassen fehlt. Und kaum irgendwo werden Ausländer so schamlos ausgebeutet wie beim schwäbischen »Partner der Welt« (Stuttgarter Werbeslogan), wo sie für abbruchreife Altstadtunterkünfte bis zu 23 Mark Miete je Quadratmeter zahlen müssen.
Doch nicht nur die Gastarbeiter -- für die nach Berechnungen des Stuttgarter Arbeitsministeriums schon heute 90000 Wohnungen fehlen -- bedrückt katastrophaler Raummangel. Im Zuwanderungs-Land Baden-Württemberg, wo (in Mannheim) Westdeutschlands größte Obdachlosen -- Siedlung steht, wird laut Landesregierung der Wohnungs-»Nachholbedarf erst 1980 beseitigt sein«.
Ebenso versagt das Land mit der (nach Hessen) zweitgrößten Pkw-Dichte im Straßenbau: Für den Aus- und Umbau des Landesstraßennetzes, auf dem täglich acht Menschen sterben und 63 schwer verletzt werden, wären rund elf Milliarden Mark nötig; in diesem Jahr können ganze 130 Millionen ausgegeben werden.
Und längst droht die einseitige Ausrichtung auf den privaten Wohlstand jenes Paradies auf Erden zu zerstören, das nach der Legende der Herrgott den Schwaben bereitet hat. Schon konstatieren Stuttgarts Regierende in der westdeutschen Ferienprovinz Nummer zwei (nach Bayern) eine »wachsende Gefährdung der natürlichen, für die menschliche Existenz notwendigen Lebensgrundlagen«.
In dem Land, in dem jede dritte westdeutsche Heilquelle sprudelt, ist Hölderlins »bläuliche Silberwelle des Neckar« verkommen zur schaumigen Dreckbrühe« auf der, bauchoben, bleiche Fischkadaver treiben: Von der Quelle bis zur Mündung und dazu in den Nebenflüssen Enz, Fils« Rems. Murr und Kocher registrieren Gewässerforscher die Belastungsstufen »kritisch« bis »sehr stark«.
Obwohl nur 60 Prozent der Bevölkerung an Kläranlagen angeschlossen und allein für die vordringlichsten Verbesserungen vier Milliarden Mark notwendig sind, wurden die »Landesmittel für die Abwasserbeseitigung in den letzten Jahren sehr stark reduziert« (Landesregierung). Der »todkranke Bodensee« ("Südwest-Presse") dient zwei Millionen Menschen als Kloake. Für den Limnologen Professor Hans Liebmann ist es »ein Wunder, daß angesichts solcher Verhältnisse noch keine örtlichen Epidemien ausgebrochen sind«.
»Gefahr übertragbarer Krankheiten« und dazu »Wasserverschmutzungen, Luftverunreinigungen und schwere Störungen des Landschaftsbildes« (so ein Regierungs-Report) sind auch durch eine chaotische Abfallbeseitigung entstanden: Der Hausmüll von drei Vierteln der Baden-Württemberger wird statt auf geordnete Deponien einfach in die Landschaft geschüttet oder auf vorschriftswidrig angelegten Kippen gelagert.
In Freiburg, wo -- so die Lokaipresse -- »die sprichwörtlich gute Schwarzwaldluft gar nicht mehr so gut ist«, zerfressen derweil Schwefeloxyde den roten Sandstein des gotischen Münsters. in Ludwigsburg, einst Sitz württembergischer Könige, findet Oberbürgermeister Dr. Otfried Ulshöfer die Luft »zum Schneiden dick«. Karlsruhe, Residenz des Rechts, droht durch Raffinerie-Auswürfe zur »Residenz des Drecks« (Volksmund) zu werden.
»Da schwelt der Sumpf der politischen Unmündigkeit.«
Das wirtschaftliche Wachstum fordert seinen Preis nicht nur in den industriellen Verdichtungsräumen um Mannheim und am Mittel-Neckar (wo bis zu tausend Menschen auf einem Quadratkilometer leben), sondern auch in den ländlichen Verdünnungsräumen: im Schwarzwald und auf der Alb, in Oberschwaben und im Hohenlohischen (wo zum Teil nur fünfzig Menschen einen Quadratkilometer besiedeln).
Diese strukturschwachen Regionen läßt der Boom in den Ballungsgebieten verarmen und veröden: Abwanderung und Bildungsnot verursachen, wie unlängst eine Untersuchung des Mannheimer Instituts für Volkswirtschaft bestätigte, in den abgelegenen Gebieten eine fortschreitende »soziale Erosion«.
Doch ob die zur Abwendung solcher Fehlentwicklungen benötigten Milliarden-Summen in absehbarer Zeit herbeigeschafft werden können, steht dahin. Die Vorstellungen der Stuttgarter Koalitionspartner CDU und SPD, die sich nun im Kampf um die Macht am Neckar gegenüberstehen, klaffen weit auseinander -- der eine will möglichst die Steuern erhöhen, um die sozialen Erwartungen erfüllen zu können; der andere will die sozialen Erwartungen dämpfen, um die Steuern möglichst nicht erhöhen zu müssen:
* Die Christdemokraten halten es für die »zentrale Frage der Politik«, der »Gefahr einer Überforderung des demokratischen Staates durch unerfüllbare Erwartungen« zu begegnen, und rufen daher vor allem nach einer »gerechteren Steuerverteilung zugunsten der Länder« (Filbinger). > Die Sozialdemokraten hingegen »nähren nicht die Illusion, Reformen könnten allein durch eine Um verteilung der Steuereinnahmen zwischen Bund und Ländern finanziert werden«, und treten daher »für eine deutliche Erhöhung des Anteils der öffentlichen Hand am Sozialprodukt durch eine sozial gerechte Steuerreform ein« ("SPD-Regierungsprogramm").
In einem Lande, wo ein Lieblingsspruch der Bürger »Des ischt meins« heißt, fällt es der Christen-Union frei lieh leicht, selbst bei Arbeitnehmern Emotionen gegen arbeitnehmerfreundliche Steuerpläne zu mobilisieren. Die Sozialdemokraten müssen sich denn auch gegen die »Gruselgeschichten von der Sozialisierung« (SPD-Wahlkämpfer Horst Ehmke) mit Annoncen wehren: Warum verschweigt die CDU, daß von höheren Steuersätzen nur Verdiener betroffen sind, die mehr als DM 3000,- Monatseinkommen haben? Und daß der Steuersatz bei der Erbschaft eines Häusles mit 100 000 Mark Einheitswert auf weniger als die Hälfte herabgesetzt werden soll?
Zwar hat die biedere Südwest-SPD mit vier Ministern in der Regierung, so die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«. »solide Facharbeit« geleistet und sich ein Programm gegeben, das sich »achtbar« abhebt von der »programmatischen Leerformelsammlung der Union« (Kernsatz: »Die CDU ist überzeugt davon, daß eine moderne Politik fortschrittlich sein muß").
Aber die SPD hat keinen Mann, der mit hausbackenen Serenissimus-Allüren den Vorstellungen vieler Landeskinder vom Landesvater so nahe kommt wie Ministerpräsident Hans Karl Filbinger (Popularitätsgrad: 88,2 Punkte). Dem sachlich-trockenen SPD-Spitzenkandidaten und Innenminister Walter Krause (Popularitätsgrad: 65,9 Punkte) liegt es kaum, sich in Stuttgart »wie Harun-al-Raschid, Kalif zu Bagdad« (FDP-Präside Hermann Müller über Filbinger), aufzuführen.
Besonders schwer hat es die SPD in den überwiegend katholischen Landesteilen Südbaden und Südwürttemberg, wo -- so Thaddäus Troll -- »Großgrundbesitz, Feudalismus, Parteivorstand, Kirche, Bauernfunktionäre, Verwaltung und Aufsichtsräte sich zu einem Dickicht von Vorurteilen verfilzen gegen die Roten, die die Kirchen schließen lassen und das Häusle wegnehmen wollen«. Troll: »Da schwelt der Sumpf der politischen Unmündigkeit.«
Mit dieser Geländeform eh vertraut, rechnen die Christdemokraten damit, ihren 1968er Landtags-Stimmenanteil von 44,2 Prozent durch das Einsammeln einstiger NPD-Wähler (1968: 9,8 Prozent) zur absoluten Mehrheit ausbauen zu können. Schon lange bevor die nationaldemokratischen Führer letzten Monat ihre Gefolgschaft zur Wahl der CDU aufriefen, hatte sich Christen-Chef Filbinger den Radikalen mit, so SPD-Ehmke, »leicht NPDgetönten Parolen« empfohlen.
Ob freilich die NPD-Wahlhilfe den Christdemokraten den erhofften Einbruch in die Wählerschaft der südwestdeutschen Traditions-FDP (1968: 14,4 Prozent) erleichtert, steht dahin. Zwar mißfällt vielen altliberalen Stammwählern, daß sich die einst gutbürgerlich-protestantische Heuss-Partei nun unter ihrem Landesvorsitzenden Karl Moersch auch in Stuttgart auf den Pakt mit den Sozis einlassen will. Der Gedanke aber, mit der CDU diesmal dieselbe Partei wählen zu sollen, für die auch die Radikalen trommeln, mag manchem dieser Liberalen noch stärker zuwider sein als der Entschluß, der FDP noch einmal die Stimme zu geben.
Wie auch immer -- im deutschen Südwesten stehen, so Ehmke, »CDU und NPD gegen SPD und FDP, und die anderen haben 55 Prozent auf der Platte«.
Der Bonner Kanzleramtmann und Stuttgarter Bundestagsabgeordnete glaubt das Land zu kennen, in dem bislang »immer ein bißchen konfessionell und ein bißchen konservativ« gewählt wurde.
Ehmke: »Das wäre das achte Weltwunder, wenn wir das schaffen.«