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COMECON Im Westen was Neues

aus DER SPIEGEL 9/1963

Im Comecon-Hauptquartier in der Moskauer Petrowkastraße übte sich letzte Woche das Exekutivkomitee des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in schwarzer Magie*. Nikita Chruschtschow und seine Zauberlehrlinge beschworen den Geist der EWG als Nothelfer aus der eigenen Wirtschaftsmisere.

Ursache des metaphysischen Exerzitiums der vom stellvertretenden DDR -Ministerpräsidenten Bruno Leuschner angeführten Rats-Genossen war die selbstkritische Erkenntnis, daß doch sein kann, was nicht sein darf. Die vom raschen Tod der kapitalistischen Wirtschaft überzeugten Kommunisten haben ihre Ansicht revidieren müssen, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sei nichts weiter als eine Sterbekasse auf Gegenseitigkeit.

Eingeleitet wurde dieser Sinneswandel schon im letzten Sommer. Nach fünf EWG-Jahren hatten die Professoren des Moskauer Instituts für Weltwirtschaft zu ihrer eigenen Überraschung entdeckt, daß der Gemeinsame Markt eine »Neuerscheinung in der wirtschaftlichen Entwicklung des Kapitalismus« sei. Vor allem imponierte den Sowjet -Ökonomen die durch den Gemeinsamen Markt beschleunigte Modernisierung der Betriebe und die durch Erweiterung der Absatzmärkte ermöglichte wirtschaftlich sinnvolle Massenproduktion.

Zur Bewunderung gesellte sich Indes Besorgnis. Vor allem Polens Außenhändler, die 56,3 Prozent ihrer Westdeviseneinnahmen aus dem Agrarexport nach Westeuropa erzielen, drängten darauf, die EWG ernster zu nehmen. In vielen Gesprächen mit Chruschtschow forderte Polenpremier Gomulka, Alternativlösungen zur EWG zu finden.

Chruschtschow stimmte zu. Besorgt, der Wirtschaftswettlauf mit dem Westen könne verloren werden, beschlossen die Staats- und Parteichefs der Comecon-Länder auf Anregung des Sowjetmenschen, den Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe umzuformen. Aus der 1949 gegründeten östlichen Ersatzorganisation für den Marshall-Plan, die jahrelang nur die Funktion eines

Hilfsvereins für das Hegemoniestreben der Sowjet-Union ausübte, soll sich nun eine Wirtschafts-Union nach dem Vorbild des integrierten Westeuropa entwickeln.

Der Beschluß wurde im vergangenen Sommer gefaßt. In der vorletzten Woche begann unter Vorsitz DDR-Leuschners das Exekutivkomitee des RGW, dem die für Wirtschaftsfragen zuständigen stellvertretenden Ministerpräsidenten der Mitgliedsländer angehören, die organisatorischen Voraussetzungen zu debattieren.

In der Moskauer »Wirtschaftszeitung« erläuterte Bruno Leuschner das vorgesehene Sofortprogramm:

- Übergang von der separat gelenkten Nationalwirtschaft zur Partnerschaft;

- Gründung eines gemeinsamen Planungszentrums und Erarbeitung verbindlicher Perspektivpläne für die Zeit bis 1970 und 1980;

- Konzentrierung der Zusammenarbeit vorerst auf die Gebiete Elektronik, Metallurgie und Chemie.

Zugleich aber wies der DDR-Funktionär auf die Schwierigkeiten hin, die den Ostblock auf dem Weg zu diesem Ziel erwarten. Leuschner schätzt die Zeit, die zur Ausarbeitung gemeinsamer Pläne benötigt wird, auf mindestens zwei bis drei Jahre.

Tatsächlich bildet die Gemeinschaftsplanung das größte Problem. Bislang plant jedes Ostblockland für sich. Die Meßwerte, nach denen Produktionskosten und Preise ermittelt werden, sind von Staat zu Staat unterschiedlich. Comecon-Empfehlungen, die bisher lediglich auf eine Förderung der Arbeitsteilung zwischen den einzelnen Mitgliedsländern und eine Standardisierung der Produktion hinausliefen, gelten als unverbindlich und sind deshalb nur selten befolgt worden.

In den Fachzeitschriften des Ostblocks häufen sich die Klagen über die Nachteile der Produktionsaufsplitterung. Das DDR-Blatt »Außenhandel« rechnet beispielsweise vor, daß in der Produktion von Lastkraftwagen der optimale Ausstoß bei 80 000 bis 100 000 Fahrzeugen je Werk und Jahr liegt. In Polen, der CSSR und der DDR aber würden jährlich nur je 20 000, in Ungarn und Rumänien sogar nur je 8000 Lastkraftwagen und Omnibusse hergestellt.

Ähnliche Verhältnisse herrschen nach amtlichen östlichen Angaben bei der Fertigung von Motorrädern und Motorrollern sowie in einigen Bereichen des Maschinenbaues.

Beispiele einer gut funktionierenden Arbeitsteilung hingegen gibt es nur, wenige. Sie sind außer im Bereich der Flugzeug- und der Rüstungsproduktion gegenwärtig nur in einigen Sparten der Produktionsmittel-Industrie und etwa bei der Herstellung von Schienenfahrzeugen zu finden.

Gemeinsame Investitionsprojekte der Comecon-Länder sind gleichfalls noch selten. Von einem Zellstoffkombinat im rumänischen Braila abgesehen, an dessen Finanzierung sich DDR, Polen und CSSR beteiligten, sind als gemeinschaftliche Investitionsvorhaben gegenwärtig nur ein Phosphorkombinat in der Sowjet-Union, drei Kupferwerke in Bulgarien, ein Chemiewerk in Ungarn und Erdölerschließungsarbeiten in Polen vorgesehen.

Besonders Polen fühlte sich durch dieses Programm bislang stets benachteiligt. Im Rahmen der Arbeitsteilung wurden von der polnischen Wirtschaft zwar steigende, Rohstofflieferungen zu gleichbleibenden niedrigen Preisen erwartet. An den notwendigen Investitionen aber wollten sich die übrigen Comecon-Länder nicht beteiligen.

Gemeinsam fühlen sich alle nichtsowjetischen Ratsmitglieder überdies von Moskau übervorteilt, das seinen Partnern eine Reihe wichtiger Waren zu weit höheren Preisen verkauft als westlichen Kunden. Westeuropäische Firmen zum Beispiel importierten sowjetisches Rohöl um 88 Prozent billiger als Moskaus Brudervölker. Der Gesamtverlust der nichtsowjetischen Comecon -Länder aus diesem Preisgebaren betrug im Jahr 1960 insgesamt 443,6 Millionen Dollar.

Andererseits importierte die Sowjet -Union von ihren Comecon-Freunden weit preiswerter als aus dem Westen. Der Exportverlust der Satellitenstaaten im Sowjetgeschäft bezifferte sich 1960 auf 1,5 Milliarden Dollar.

Proteste gegen diese willkürliche Preispolitik fruchteten nichts: Wegen ihrer chronischen Devisenknappheit sind die Comecon-Länder nach wie vor auf Tauschgeschäfte mit ihrem sowjetrussischen Seniorpartner angewiesen. Der angestrebten Integration waren derlei Praktiken freilich nicht förderlich. Um den dringlich gewordenen Aufbau eines osteuropäischen Gemeinsamen Markts nicht länger zu hemmen, mußte sich die Sowjet-Union schließlich zum Verzicht auf ihre Sonderstellung bequemen. Sie stimmte dem Abbau des vorsintflutlichen bilateralen Tauschhandelssystems Ware gegen Ware zu, das bisher einer multilateralen Produktions - und Marktgemeinschaft im Wege gestanden hatte.

Gekoppelt mit der Ausarbeitung einer gemeinsamen und verbindlichen Planung soll das Comecon-Exekutivkomitee deshalb jetzt die

- Gründung einer »Bank der sozialistischen Länder«,

- die Einführung einer konvertierbaren Comecon-Währung und

- die Grundlagen eines Clearing -Systems

vorbereiten. Aufgabe der Zentralbank wird nach den Comecon-Vorstellungen neben der Finanzierung gemeinsamer Investitionen vor allem Reine Belebung des Handels außerhalb der engen Tauschhandelsgrenzen sein.

Um dieses Ziel zu erreichen, müssen aber Preistabellen entwickelt werden, die für alle Comecon-Staaten verbindlich sind. Sie dürfen nicht, wie bisher, von jedem Staat nachGutdünken eingesetzte fiktive Werte enthalten, sondern müssen auf einer echten Kostenermittlung beruhen. Exakte Kosten zu errechnen, haben die kommunistischen Wirtschaftsfunktionäre bislang für überflüssig gehalten.

Erst seit wenigen Monaten gedeiht unter ihnen die Einsicht, eine übernationale Wirtschaftsgemeinschaft könne nur dann funktionieren, wenn auch der letzte volkseigene Fabrikdirektor und Planungsfunktionär begriffen habe, daß zwischen Kosten und Preisen ein gewisser Zusammenhang besteht.

Folge dieser Erkenntnis ist der Versuch, die Staatsunternehmen mit den Funktionen von Produktion und Markt bekannt zu machen. So sollen in der DDR versuchsweise »Vereinigte Industrieunternehmen« gebildet werden, die als »sozialistische Konzerne« Entwicklung, Produktion und Absatz ihrer Waren selbst zu übernehmen haben.

Allerdings sind die Ostberliner Funktionäre mit ihren Comecon-Genossen darin einig, daß Experimente dieser Art nur Erfolg haben können, wenn sich die Wirtschaftlichkeit der Produktion an verbindlichen Meßwerten kontrollieren läßt.

Nach neuester Einsicht der Comecon -Planer aber ist das wiederum nur mittels

einer Anleihe beim westlichen Vorbild möglich: Die Rentabilität der Erzeugung soll künftig am Niveau der - westlichen - Weltmarktpreise gemessen werden, und auch der zwischenstaatliche Comecon-Handel hat sich fortan mangels eigener Erfahrungen dieser Preisskala anzupassen.

Angesichts so revolutionärer Pläne kommentierte die DDR-Zeitschrift »Außenhandel« stellvertretend für den Rest der Ostmarkt-Projektanten: »Die Lösung dieser Aufgaben stellt hohe Anforderungen.«

* Der RGW (englisch: Council for mutual economic assistance = Comecon) umfaßt die Sowjet-Union, Polen, die CSSR, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, die DDR und die Mongolische Volksrepublik; Albanien hat seine Mitarbeit eingestellt.

DDR-Vize Leuschner: Von der EWG fasziniert

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