»IMMANUEL KANT WÄRE HEUTE RUSSE«
Paris-presse
l'intrasigeant
(gaullistisch)
In seiner Backsteinfestung in der Hamburger Altstadt bemitleidet das deutsche Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL das »arme Frankreich«.
Acht Millionen Franzosen müssen ihr Wasser noch aus Brunnen schöpfen, so schreibt er, ein einziger -- de Gaulle, der auf dem Umschlag als Gestalt des 17. Jahrhunderts dargestellt wird -- schöpft aus der Philosophie von Epiktet und Nietzsche.
Wir wissen nicht, aus welchem Brunnen der SPIEGEL seine Zahlen schöpft. Wir wollen sie ihm auch nicht streitig machen. Aber wir müssen ihm sagen, daß es das gute Recht der Franzosen ist, ihren Descartes einem Nietzsche vorzuziehen, denn Descartes ist immerhin ein wenig verständlicher.
Die Deutschen erkennen nur zwei große Siegermächte an: die USA und die Sowjet-Union. Die anderen kommen ihnen wie Schmarotzer am Ruhm der Großen vor. Das erklärt wahrscheinlich den Vergleich des SPIEGEL zwischen dem dynamischen und wohlhabenden Deutschland und dem »armen Frankreich« des Generals de Gaulle.
Es ist offenbar, daß Frankreich weniger baufällige Häuser sowie weniger veraltete und leistungsschwache Unternehmen hätte und an die Bevölkerung seiner ehemaligen Kolonien kein Geld zu zahlen brauchte, wenn es das Glück gehabt hätte, hintereinander zwei Kriege zu verlieren.
Frankreich hat nach seinen Siegen gewiß vieles aufzuholen, aber Deutschland muß nach seinen Niederlagen auch noch viel lernen.
COMBAT
le journal de paris
(linksstehend)
Es ist viel zuviel Blut in Europa und anderswo geflossen, als daß eine gewissenhafte Zeitung ein ausländisches Staatsoberhaupt leichthin lächerlich machen sollte.
Heute widmet die bedeutende deutsche Wochenzeitschrift DER SPIEGEL dem zeitgenössischen Frankreich einen großen herabsetzenden und sarkastischen Artikel.
Es ist richtig, daß unser Land im Verhältnis zu den sechs oder sieben großen, ja sogar gegenüber anderen, kleineren Ländern unglaublich im Rückstand ist.
Der SPIEGEL stellt fest, daß unsere Dörfer zurückgeblieben, fast »stehengeblieben« seien, daß »acht Millionen Franzosen noch kein fließendes Wasser« haben. Er hätte auch schreiben können, daß zwei Millionen unserer Wohnungen, sogar neue, kein Badezimmer und etwa fünf Millionen keine Innentoilette haben.
Das alles ist richtig und soll kritisiert werden! Es ist normal und notwendig, daß wir es bei uns tun, aber wir wollen unsere schmutzige Wäsche lieber in der Familie waschen (welches Land hätte nicht seine schmutzige Wäsche?). Gewiß darf eine ausländische Zeitung über uns urteilen und uns sogar einen Rat geben, aber es kommt auf den Ton und die Absicht an.
Es ist das Recht des SPIEGEL, die Unfähigkeit unseres Präsidenten festzustellen, sich -- außer bei der Perfektionierung von Vernichtungswaffen -- an den notwendigen Fortschritt anzupassen.
Aber es ist viel, viel weniger das Recht des SPIEGEL, de Gaulle, mit einer Perücke aus dem Grand siècle herausgeputzt, auf dem Titelblatt zu präsentieren und seine Binsenwahrheiten ins Lächerliche zu ziehen.
Wir wissen das alles selbst. Aber wir mögen es nicht, daß es eine deutsche Zeitschrift ist, die uns auf diese Weise kritisiert, während noch so viele Erinnerungen frisch sind und brennen
LE FIGARO LITTERAIRE (konservativ) Von François Mauriac
Die Beleidigungen des SPIEGEL nicht nur gegen de Gaulle, sondern gegen Frankreich, habe ich leider erst zu spät zu Gesicht bekommen: am Tag, nachdem ich mich von dem letzten Deutschen verabschiedet hatte, der wegen einer Fernsehreportage nach Malagar* gekommen war. Ein letztes Mal hatte ich ihm nach dreitägiger Zusammenarbeit die Hand geschüttelt und das letzte Glas getrunken. Nach der Lektüre des SPIEGEL hätte ich in einem ganz anderen Ton gesprochen ...
Wenn ich ihn empfangen habe, so möchte ich dafür jetzt keine Gründe suchen.
Schließlich habe ich mich dafür entschieden, weil es sich um das deutsche Fernsehen handelte, weil man mich ein wenig zur Zustimmung gezwungen hat, weil diese Reportage in die von de Gaulle gewünschte Richtung gehen würde und zur Annäherung unserer beiden Völker beitragen könnte. Aus dem gleichen Grunde hatte ich in diesem Winter zugestimmt, einen Redakteur des SPIEGEL zu empfangen.
Nach 27 Jahren hörte ich also wieder die deutsche Sprache in Malagar. 1937 war die Stimme Deutschlands, die Stimme Adolf Hitlers, in meinem alten Salon ertönt und hatte das Blut in unseren Adern erstarren lassen.
Als mein liebenswürdiger Gesprächspartner aus Hamburg mich gestern fragte, welche Gefühle Deutschland in mir weckt, antwortete ich zuerst: »Schrecken.« Aber ich nahm es zurück und sagte: »Furcht So sehr fürchtete ich, meine Gäste zu verletzen.
Was ich heute morgen nach der Lektüre des SPIEGEL hinzugefügt hätte, will ich nicht sagen -- zumal der SPIEGEL nicht Deutschland ist, zumal der Reporter, mit dem ich zu tun hatte, sehr höflich war. Nein, der SPIEGEL bringt nicht die Gefühle eines ganzen Volkes zum Ausdruck.
Wie kommt es, daß diese Karikatur uns verletzt? Weil sie die richtige Stelle trifft? Ja, sie trifft die richtige Stelle, aber sie trifft auch die deutschfranzösische Versöhnung.
Da unser deutscher Kollege die Helden von Corneille beschwört, könnten wir ihn daran erinnern, was Pauline über Polyeucte sagte: »Ich liebe ihn aus Pflicht, diese Pflicht dauert noch an.« Auch wir lieben Deutschland aus Pflicht.
Diese liebenswürdigen Reporter, die mich soeben erst verlassen haben, hatten das gleiche korrekte Auftreten wie die Deutschen von der Gestapo, die eines Morgens in meine Pariser Wohnung eindrangen. Ich durfte nicht daran denken und auch nicht an vieles andere.
Gewiß, wir müssen uns davor hüten, als Volk das Gebet des Pharisäers nachzusprechen. Alle Nationen sind schuldig, an allen klebt das Blut Abels. Es gibt keine Geschichte ohne Verbre-
* Mauriacs Schloß ml Departement Gironde.
chen, aber schließlich gibt es Verbrechen und Verbrechen.
Die Geschichte Europas von 1930 bis 1945 war im wesentlichen die Geschichte eines Deutschlands, das gezeigt hat, was es kann, und zwar alles, was es kann.
Wenn ich als Franzose, als Franzose dieses sterbenden Frankreichs, »zwischen Kriegerdenkmal und Bistrot« (worüber sich der Journalist des SPIEGEL lustig macht und auf das er spuckt), wenn ich als dieser Franzose nichts antworte und schweige, so, weil meine Erinnerungen zu schrecklich sind und weil die Judenkinder, die in Waggons gestapelt waren, seit einem Vierteljahrhundert noch immer in meinem Inneren weinen. Wir werden dem SPIEGEL nur mit dem Shakespeare-Wort antworten: »Der Rest ist Schweigen.«
Noch einmal: Wir halten uns nicht für frei von Sünde. Es ist zweifellos wahr, daß zwischen dem Bild, das sich de Gaulle von Frankreich macht, dem Platz, den er ihm heute in der Welt zuweist, und der tatsächlichen Lage unseres Volkes vielleicht ein Widerspruch besteht.
Ein solcher Widerspruch besteht zweifellos auch zwischen den ungeheuren Möglichkeiten des deutschen Volkes und seiner Lage als geteiltes und besetztes Land. Das ist das ganze Geheimnis der Wut des SPIEGEL.
Unser Kollege tut aber unrecht daran, sich über die gaullistische Binsenwahrheit »Da die Dinge nun einmal so sind« lustig zu machen. Diese Selbstverständlichkeit dürfte dem deutschen Volk zu seinem Unglück entgangen sein. Denn es ist von dem Dämon des Übermaßes besessen. De Gaulle wollte die Franzosen zwingen, bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu gehen, aber nicht darüber hinaus.
Die Beleidigungen des SPIEGEL haben uns eine Wahrheit vor Augen geführt: Die Liebe zwischen zwei Völkern kann man nicht beschließen, die Liebe aus Pflicht und durch Politik muß mit dem Ressentiment der erlebton Geschichte rechnen.
LE FIGARO
(konservativ)
Der SPIEGEL spottet über den Ausdruck »les choses étant ce quelles sont« -- »da die Dinge nun einmal so sind«. Ein Gemeinplatz, sagt der deutsche Kollege, »eine tiefsinnige Banalität«. Zuzugeben, daß die Dinge sind, wie sie sind, zeugt von einem friedliebenden Sinn, der einer gewissen deutschen politischen Philosophie fremd sein muß. Für sie kann nicht sein, was nicht sein darf. Das bedeutet, daß man diejenigen beseitigen muß, die nicht in diese Vorstellung passen oder sich ihr widersetzen.
Die Dinge so zu sehen, wie sie sind, ist andererseits eine schwierige geistige Übung; einer der begabtesten Denker namens Immanuel Kant, hielt eine solche Großtat sogar für völlig
* SPIEGEL 36/1958.
unmöglich. Er war ein deutscher Denker. In Königsberg geboren, wäre er heute Russe. Wie die Dinge nun mal sind, ist Deutschland nicht mehr, was
es einmal war.
Le Monde
(unabhängig)
Das deutsche Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL bot seinen zahlreichen Lesern, die Frankreich schlecht kennen oder Hitlers vorgefaßtes Urteil über die degenerierten, frivolen, eingebildeten und reaktionären Gallier teilen, am 27. März eine lange Studie über »das Frankreich de Gaulles«.
Eine Photomontage des Generals mit Perücke und Beffchen, die übrigens gut ist, ziert den Umschlag dieser außergewöhnlichen Nummer.
Alle Zitate des Generals in dem Artikel sind übrigens gut und erfreuen die Liebhaber der spitzen Feder: Sie zeichnen das Bild eines Hurra-Patrioten, der zu Binsenwahrheiten greift, der in glorreichen Erinnerungen schweigt, der gern auf schneidet und der für das tägliche Leben des Bürgers nur Verachtung hat ("Die Intendanz folgt"), wobei die umstrittene Bedeutung des letzten Wortes voll erkannt wird.
Das ein wenig deprimierende Bild des »Landes der 100 Kathedralen, der 200 herrschenden Familien und 300 Käsesorten« wird durch eine Salve endgültiger Wertungen vervollständigt. Kühn verallgemeinernde Beispiele müssen die Deutschen das »arme Frankreich« bedauern lassen ...
Um die diesseits und jenseits des Rheins herrschenden Gegensätze zu kennzeichnen, ist es einfacher festzustellen, daß »in Paris 500 Rolls-Royce fahren, in der Bundesrepublik dagegen nur 60«.
Es ist bequemer, den Leser mit einer politischen Karte zu erschrecken, auf der die Abgeordneten der Kommunisten und der Linksföderation als kleine rote Figuren eingetragen sind, die Frankreich im Sturm zu nehmen scheinen ...
Einige jenseits des Rheins herrschende Meinungen auf dem Gebiet der Geschichte werden so nebenbei von einem Nachrichtenmagazin gebilligt, das oft sehr gut informiert ist und durch seine mutige Anklage gegen das herrschende System während der bekannten SPIEGEL-Affäre berühmt wurde.
Seit 20 Jahren werden diesseits und jenseits des Rheins große Anstrengungen unternommen, um endlich alle falschen, schädlichen und oberflächlichen Vorstellungen hinwegzufegen, die das französisch-deutsche Verhältnis belasten. In der Bundesrepublik haben sich angesehene Stimmen, darunter die des SPIEGEL, an diesem überaus wichtigen Werk beteiligt.
Ein einziger böswilliger und parteiischer Artikel kann die Voreingenommenheit einer schlecht informierten Öffentlichkeit wieder zum Leben erwecken und die noch bescheidenen Ergebnisse dieser langen Arbeit zerstören.
Le Canard enchaîne (linksstehend)
Wir Franzosen haben das komische Bedürfnis, das Ausland gleichzeitig zu verachten und von ihm bewundert werden zu wollen. Wir sind jedesmal schockiert, wenn eine ausländische Zeitung es wagt, von Frankreich ein Bild zu zeichnen, das weniger schmeichelhaft ist als unsere eigene Vorstellung. Das hat das berühmte deutsche Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL getan.
Sogleich schrieb »Le Monde« am 7. April einen Artikel mit der Überschrift: »Eine Karikatur Frankreichs.« Karikatur? Aber wieso denn? Die zwerchfellerschütternden Zitate über den Hurra-Patriotismus und die leere Politik des Generals de Gaulle sind alle authentisch.
Es ist vielleicht für die Franzosen unangenehm, wenn man zeigt, daß sie sich von diesem Hirngespinst haben verführen lassen, aber wen trifft die Schuld?
Wenn der SPIEGEL schreibt, das Großbürgertum habe »seine Traditionen und sein Vermögen über die Katastrophen zweier Kaiserreiche wie zweier Weltkriege hinweggerettet« und sei heute »die Stütze des Regimes«, so sieht »Le Monde« darin »die falschen, schädlichen und oberflächlichen Vorstellungen verewigt, die das deutsch-französische Verhältnis belasten«.
In Wahrheit ist der Inhalt dieses Satzes aus dem SPIEGEL aber sehr einleuchtend und sehr selbstverständlich.
In all dem ist absolut nichts, was die Behauptung von »Le Monde« rechtfertigt, der SPIEGEL sei »böswillig und parteiisch«.