FRANKREICH / LANDWIRTSCHAFT Immer ärmer
Um sich vor seinen Bauern zu retten,
hat Charles de Gaulle Bonn ein Ultimatum gestellt und damit die EWG gefährdet. Er verlangt bis zum 15. Dezember die Zustimmung der Bundesregierung zu einem gemeinsamen europäischen Getreidepreis. Um aber seine Bauern nicht zu gefährden, muß der General die EWG retten.
Denn Frankreichs Überschuß-Landwirtschaft hat nur dann eine Zukunft, wenn der in den Verträgen von Rom projektierte Agrar-Großraum der sechs EWG-Länder mit 176 Millionen Konsumenten Wirklichkeit wird.
Seit der General-Staatschef 1959 ins Elysee einzog, hat sich Frankreichs Industrie-Erzeugung um 38 Prozent erhöht, und die Löhne in der Industrie sind um 41 Prozent geklettert. Frankreichs Volkseinkommen stieg um 47 Prozent, Frankreichs Exporte erhöhten sich um 44 Prozent, Frankreichs Devisenvorräte erreichten fünf Milliarden Dollar (Bundesrepublik: 29,7 Milliarden Dollar).
Nur Frankreichs Bauern blieben zurück. Gemessen an der Kaufkraft ist das Einkommen der französischen Landwirte seit 1958 um 12,5 Prozent gesunken.
Das typische Agrar-Problem fast aller Industriestaaten gilt besonders für das Reich de Gaulles: Frankreich hat zu viele Kleinbauern, die unrentabel wirtschaften, aus eigenen Mitteln ihre Betriebe nicht aufstocken können und, selbst wenn sie das Geld hätten, wegen der chronischen Landnot ihre Höfe nicht arrondieren könnten.
Die meisten Kleinbauern sind überdies nur Pächter. Tausende von ihnen müssen sich mit einem Monatseinkommen von weniger als 200 Franc (162 Mark) begnügen. Das sind 470 Franc weniger als das französische Durchschnitts-Einkommen.
Mit einer Kombination aus Zwangswirtschaft und Subventionen versuchte Charles de Gaulle, die Leiden der Landmänner zu lindern - vergebens. Die von Paris festgesetzten garantierten Mindestpreise für eine Anzahl Agrar -Erzeugnisse - etwa Getreide, Milch, Rindfleisch - genügten den Bauern angesichts der inflationistischen Preisentwicklung nicht.
Die Subventionen kamen zudem fast ausschließlich den reichen Großbauern zugute: Je mehr Geld der Staat verteilte, um schwache Erzeugerpreise zu stützen, je mehr produzierten die leistungsfähigen Großbauern, um in den Genuß der höheren Subventionen zu gelangen. Und je mehr produziert wurde, desto größer wurde das Angebot und um so stärker sanken die Preise.
Die meisten Bauern wurden in diesem Teufelskreis von Preiseinbrüchen, Subventionen, neuen Preisstürzen und neuen Subventionen immer ärmer. Ihre Selbstkosten stiegen, die Erzeugerpreise stagnierten oder sanken ins Bodenlose.
1914 zum Beispiel kostete ein Liter Milch etwa soviel wie ein Liter roter Tischwein. 1964 mußten die Franzosen für einen Liter Milch nur noch ein Drittel der Summe ausgeben, die sie für ihren Vin ordinaire bezahlten. Frankreichs Milch wurde billiger als das billigste Mineralwasser.
Für ihre Landarbeiter - die mit Durchschnittslöhnen von monatlich 350 Franc bei einem zwölfstündigen Arbeitstag im Keller der Gesellschaft stehen - mußten die Bauern ständig wachsende Abgaben leisten:
- Die Sozialabgaben kletterten von
1960 bis 1964 von monatlich 81 auf 205 Franc;
- die Prämien der Unfallversicherung
verdoppelten sich im selben Zeitraum auf jährlich 440 Franc;
- der Arbeitgeber-Anteil an der Rentenversicherung stieg in den letzten vier Jahren von zwölf auf 28 Prozent.
450 000 von zwei Millionen französischen Bauern haben in den letzten beiden Jahren kapituliert. Sie verließen ihre Höfe und wanderten als Hilfsarbeiter in die Städte. Die von der Regierung immer wieder beschworene Vision eines von Frankreich ernährten EWG-Europas hielt sie nicht zurück.
Die anderen gingen auf die Barrikaden:
- April 1960: 200 000 Bauern sammeln
sich in 18 Städten zu Protestkundgebungen gegen die Preispolitik de Gaulles und liefern Sondereinheiten der Gendarmerie Straßenschlachten.
- Juni 1961: Randalierende Bauern in
Südfrankreich blockieren aus Protest gegen niedrige Obstpreise mit Traktoren und Lastwagen Straßen und Brücken. In der Pyrenäen-Stadt Pau verprügeln empörte Kartoffelbauern de Gaulles Industrieminister Jean-Marcel Jeanneney.
- Juli 1962: 600 mit Mistgabeln und
Dreschflegeln bewaffnete Bauern überfallen nachts das Gut des Gentleman-Farmers Jean Gabin und pressen ihm das Versprechen ab, zwei seiner Höfe an landbedürftige Kleinbauern zu verkaufen.
- Juli 1963: Tausende von Bauern veranstalten Protestmärsche, vernichten Obst- und Gemüseladungen, sperren Straßen, verprügeln Polizisten, werfen Rathausfenster ein.
- September 1964: Frankreichs Bauern
rufen einen Milchstreik aus. Vier Wochen lang sperren sie die Frischmilchlieferungen in Städte von mehr als 50 000 Einwohnern.
Ende Oktober schließlich trugen die Bauern ihren Preiskampf ins Parlament: Gedrängt von Frankreichs Bauernverband, der Fédération Nationale des Syndicats Agricoles, stellte eine Koalition von Sozialisten, Volksrepublikanern und Radikalsozialisten in der Nationalversammlung einen Tadelsantrag gegen die Regierung Pompidou, der jedoch mit 273 gegen 209 Stimmen abgelehnt wurde.
Der Premier tröstete die Bauern und versprach ihnen wieder einmal europäische Absatz-Aussichten: »Die französische Regierung wird weiterhin mit aller Energie bei den EWG -Partnern darauf dringen, daß bei den Brüsseler Verhandlungen die Preise für die hauptsächlichsten Agrarprodukte festgesetzt werden.«
Der Bauernverband aber antwortete, »Wenn die Regierung aus irgendwelchen Gründen vom Termin des 15. Dezember abginge, dann entstünde eine schwere Krise zwischen der Regierung und den Bauern.«
Demonstrierende Bauern, vernichtetes Gemüse: Milch billiger als Mineralwasser