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Bundestag »Immer allen gefallen«

Von Jürgen Leinemann
aus DER SPIEGEL 46/1994

Eine feste Burg ist die Union. Beton. Steif in ihre Sitze gerammt, starren die Christen-Parlamentarier vor sich hin. Viele sehen aus, als sei - am hellen Vormittag im Berliner Reichstagsgebäude - unvermittelt der Leibhaftige zwischen sie gefahren.

Es ist aber nur der greise Stefan Heym, der sie am Donnerstag vergangener Woche in Kaderstarre versinken läßt. Ein bißchen tattrig, aber unüberhörbar guter Dinge hebt der 81jährige an, als Alterspräsident den 13. Deutschen Bundestag zu eröffnen.

Die Abgeordneten der übrigen Fraktionen und die Ehrengäste um den Bundespräsidenten Roman Herzog und dessen Amtsvorgänger Richard von Weizsäcker auf den Rängen haben sich, wie es Höflichkeit und parlamentarisches Ritual gebieten, von den Plätzen erhoben. Heym begrüßt launig den ersten der zwei ihm aufs Podium zugewiesenen Schriftführer: »Schön, daß Sie gekommen sind. Wo ist denn der andere?«

Er habe gedacht, erzählt der alte Herr später, er könne vielleicht auf diese Weise die Kolleginnen und Kollegen der Union »zu einer menschlichen Regung verleiten«.

Vergeblich. »Steinerne Mienen« hatte Bundeskanzler Helmut Kohl tags zuvor angeordnet. Jetzt mimt er selbst sie vor, ermutigt zum gemeinsamen Aussitzen: »Republik und Parlament sind stark genug, um eine Stunde lang einen Alterspräsidenten Heym zu ertragen.«

Später werden selbst hartgesottene Unionsrechte einräumen, daß Stefan Heym ihre Disziplin nicht sonderlich strapaziert habe. Denn nicht nur beschränkt er seine Rede auf 20 Minuten. Er vermeidet auch das anstößige Wort Sozialismus. Statt dessen mahnt er so altersmild eine »Koalition der Vernunft« an, wirbt so innig für Solidarität zwischen Ost und West, Arm und Reich, Oben und Unten, als habe ihm Rita Süssmuth den Text verfaßt, die auch prompt als einzige aus der CDU-Schweigemauer ausbricht und applaudiert.

Das soll die Überraschung gewesen sein, die der störrische Alte angekündigt hatte? Ist das die legendäre Rede, wegen der ein Erfolgsschriftsteller die Strapazen eines späten Politikerlebens auf sich nimmt? Wollte Stefan Heym nicht den »kleinen Knilchen« aus dem kapitalistischen Lager unbequeme Wahrheiten hinfetzen? »Ich kann noch ganz schön böse und aufrührerisch werden«, hatte er gedroht.

Und nun das. Im Foyer verdichtet sich das Echo zu dem traurigen Lob: »manierlich«. Erleichterung und Enttäuschung schwingen darin mit. Der jüngste Abgeordnete des Bundestages, der 23jährige Grüne Matthias Berninger, ist enttäuscht über die Rede seines ältesten Kollegen: »So kann man zu jedem Anlaß überall reden.«

Nur eines gelingt Heym mit seinem unauffälligen Auftritt: Er verzerrt das organisierte Zähnezusammenbeißen der Union zur Groteske.

Nur allzu bereitwillig hatten die Rechten im Westen die verbalen Provokationen des »Hindenburgs der Linken« (Frankfurter Allgemeine) angenommen. Wie der »Zufall« es will, spielt ihnen Ermittlungskunst einen Tag vor der Rede auch noch eine Stasi-Verdächtigung zu, die den alten Herrn beträchtlich aufregt.

Nichts deutet indes darauf hin, daß Stefan Heym deshalb seine Rede entschärft hätte. »Ich habe immer im Sinn gehabt, daß ich der Alterspräsident aller Abgeordneten bin. Einen Skandal wollte ich mir deshalb nicht leisten«, sagt er, als er sich mit Gregor Gysi auf einen Kaffee ins Foyer wagt.

Feixt er dabei? Trickst er? Heyms schillerndes Image läßt viele Deutungen zu - List oder Anpassung, Müdigkeit oder Schmeichelei. In Bonn haben ihn die Bundestagsverantwortlichen mit Videos von den Reden seiner Vorgänger Willy Brandt und Herbert Wehner eingestimmt. Da mag es wohl sein, daß Eitelkeit ihn hemmte.

»Heym hat schon immer allen gefallen wollen«, spottet der Ost-Berliner Grüne Gerd Poppe. Möglich ist aber auch, daß das Alter ihn zur Überschätzung seiner polemischen Kräfte verführte.

Nur eine Mutmaßung ist ganz gewiß falsch - daß Stefan Heym nämlich, wie der Grüne Joschka Fischer meint, seine historische Chance deswegen verpaßte, »weil er kein Thema hatte«.

Denn sein Thema ist er selbst - sein Lebensweg, seine deutsche Vita. Totenstill ist es im Plenum, als Stefan Heym die Erinnerung weckt an das Feuer von 1933 in jenem Reichstagsgebäude, »in dem wir uns heute befinden«. 19 Jahre alt ist er damals gewesen. Fast körperlich wird die Beklemmung spürbar, als er hinzufügt: »Ich selber habe den Brand gesehen.«

Er und »wir«. Stefan Heym, »der Überlebende«, und seine deutschen Landsleute von heute, Junge und Alte. Gehören sie nicht enger zusammen, als beiden lieb ist?

Wenn der Redner »wir« sagt, scheinen seine Worte zurückzuprallen zum Podium. Mit vor der Brust verschränkten Armen wehrt sich der frühere Wehrmachtsoffizier Alfred Dregger - mit 73 Jahren der Zweitälteste im Parlament - gegen die Zumutung dieser Lebensgeschichte. Theo Waigel blättert verbissen in Papieren. Wolfgang Schäuble dreht den Kopf weg. Der Sozialdemokrat Hermann Rappe ist ins Foyer geflüchtet; der Platz des Grafen Lambsdorff ist demonstrativ leer.

Stefan Heym hängt weit vorgebeugt über dem Rednerpult, als er kunstvoll seinen Lebensweg auf Schlüsselstationen reduziert. Er versteht sich darauf, ein Publikum zu fesseln. Daß er der Sohn ist des jüdischen Kaufmanns Daniel Flieg aus Chemnitz, der wegen eines antimilitaristischen Gedichts vom Gymnasium verwiesen wird, läßt er weg.

Er beginnt mit seiner Flucht aus Deutschland 1933. Als Amerikaner hilft er, in der Uniform der Sieger, Hitler zu besiegen. Dann kehrt er - wieder auf der Flucht vor antikommunistischen Gesinnungsschnüfflern - zurück: »In den östlichen Teil des Landes, in die DDR, wo ich auch bald in Konflikte geriet mit den Autoritäten.«

Ein komplizierter Lebenslauf von störrischer Beharrlichkeit wird angedeutet, der - allen Irrtümern, Widersprüchen, Schwächen zum Trotz - Respekt erheischt. Die rigide Reaktion der Konservativen erbittert deshalb viele - vom Liberalen Hans-Dietrich Genscher bis zum Sozialdemokraten Willfried Penner: »Als hätten wir bei dieser deutschen Geschichte nicht alle unseren Teil an Ungereimtheiten und Fragwürdigkeiten ins eigene Leben zu integrieren.«

Für die Union aber ist es nicht verzeihlich, daß Stefan Heym für die PDS antritt. Daß sie ihn in kollektiver Disziplin ertragen haben, ohne hinauszugehen, betrachtet die CDU-Ministerin Angela Merkel als eine beachtliche Konzession. »Damit hat die Union ihre Großmut zur Schau gestellt«, sagt die Frau, die einst als DDR-Bürgerin die Bücher Stefan Heyms »mit Begeisterung« gelesen hat. »Mehr war nicht drin.«

So reden sie alle. Aber schlimmer noch als die sozialistischen Überzeugungen dürfte sie der patriotische Anspruch des Alt-Marxisten Heym treffen, der ihnen mit dem Wunsch aus Brechts Kinderhymne kommt, »daß ein gutes Deutschland blühe«.

In Wahrheit ist es wohl »der Deutsche« Stefan Heym, der - mehr noch als »der Linke« - jenes explosive Gefühlsgemisch aus Wut und Angst, Schuld und Scham, Hilflosigkeit und Überdruß zu entzünden droht, das fünf Jahre nach dem Fall der Mauer in vielen köchelt.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß bei der auch an diesem Tag beschworenen »Vergangenheitsbewältigung« die Linken nicht viel weiter gekommen sind als die Rechten, dann hätte Heyms Rede ihn geliefert. Gewiß, »Sache des ganzen deutschen Volkes« sollte sie sein. Aber hätte nicht Stefan Heym in eigener Sache schon ein bißchen anfangen können? Zu erhoffen war das; zu verlangen nicht in diesem Klima der Feindseligkeit.

Wo er aber wirklich steht und stand, was er sich noch erträumt vom Sozialismus und welche Lebenslügen mit diesen Träumen einhergingen und -gehen - dazu hätten sich gerade jüngere Abgeordnete aller Parteien deutlichere Worte erhofft als die wohlfeile Floskel: »Macht, wie wir wissen, korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut.«

Linke sind auch nur Deutsche. Und weil sie sich so schwer tun mit dem Gestern, ist es nur besonders albern, wenn die Frankfurter Allgemeine behauptet, daß es linken »Unruhestiftern« - »von Stefan Heym bis hin zu dem Bundestagsabgeordneten Friedbert Pflüger« - gelungen sei, für eine neue Restauration in Deutschland zu sorgen.

Stefan Heym jedenfalls läßt keine Signale komplizenhafter Vertraulichkeit erkennen, als sich ihm Pflüger - der junge CDU-Abgeordnete aus Hannover, der dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker lange Jahre als Pressesprecher diente - mit artiger Verbeugung im Foyer vorstellt. Wenn nicht alles täuscht, sagte ihm der Name nichts.

Umgekehrt hat Friedbert Pflüger mit dem von Helmut Kohl gewünschten ablehnenden Gestus der Rede Heyms gelauscht, ohne ihm zu applaudieren: »Wie rechts müssen Leute stehen, die mich mit Stefan Heym zu einem linken Monopol zusammendenken.«

Stefan Heym hat sich noch nie mit jemandem reibungslos zusammendenken lassen. Erschöpft, aber erleichtert sitzt er nach seinem Auftritt hinter einem Blumengebinde im Plenum. Er hat sich gefallen an diesem Morgen. »Wissen Sie«, sagt er, »wenn ich 'ne Rede halte, ist der beste Zuhörer Stefan Heym.«

Es behagt ihm gewiß auch, daß die Genossen ihm den linkesten Sitz des Plenums zugewiesen haben, das hat symbolischen Pfiff. Doch soll keiner denken, er würde sich dort isolieren. »Hier und da werde ich noch ein paar Worte sagen«, kündigt er an. Und er glaubt, »daß wir in den nächsten vier Jahren einander schon näher kommen werden«.

Da blickt Gregor Gysi fast gerührt seinen prominenten Mitstreiter an: »Es liegt wohl am Alter - Sie strahlen Weisheit aus, ich Skepsis.« Y

»Steinerne Mienen« hatte Helmut Kohl angeordnet

»Wenn ich 'ne Rede halte, ist der beste Zuhörer Stefan Heym«

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