Schulen Immer nur Komsomol
Nach fast zwei Jahrzehnten Dienst als Lehrerin mußte Brigitte Krüger, 41, wieder auf die Schulbank, um Grammatik zu pauken und, im Schnellverfahren, Vokabeln zu memorieren. »Vier Jahre habe ich Russisch studiert, in vier Monaten sollte ich nun Englisch lernen«, erzählt die Pädagogin von der 42. Oberschule im Ost-Berliner Stadtteil Marzahn.
Dabei hat die Lehrerin Krüger noch Glück gehabt. Der Englischkurs, den sie seit März besucht hat, war überfüllt. Nur jeder vierte Bewerber konnte aufgenommen werden - allesamt Russischlehrer. Schon vom nächsten Schuljahr an sollen sie die Sprache unterrichten, die sie sich gerade erst angeeignet haben.
Nötig wurden die Schnellkurse, weil nun auch im Fremdsprachenunterricht der DDR die Wahlfreiheit eingekehrt ist. Die Schüler, so zeigt sich, wollen alles andere lieber lernen als kyrillische Schriftzeichen und slawische Laute.
Mehr als vier Jahrzehnte lang, von 1948 an, war Russisch Pflichtsprache für alle Schüler östlich der Elbe - mindestens von der 5. bis zur 10. Klasse. Wenn jedoch, im September, das nächste Schuljahr beginnt, wird das Fach, dem bislang nach Deutsch und Mathematik die meisten Unterrichtsstunden zugefallen sind, zum Randprogramm gehören.
Kaum mehr als fünf Prozent der Sprachanfänger haben nach einer neuen Ost-Berliner Erhebung noch Russisch gewählt. Fast 90 Prozent wollen mit Englisch beginnen, die übrigen mit Französisch. Viele der 15 000 Russischlehrer an den 6000 DDR-Schulen bangen deshalb um ihre Existenz.
Zwar droht zunächst nicht allen, die sich nicht auf Englisch umstellen können oder wollen, Arbeitslosigkeit - die meisten Schüler höherer Klassen behalten das einmal aufgezwungene Fach bis zum Abschluß bei. Wenn der Anti-Russisch-Trend anhält, wird aber schon in wenigen Jahren nur noch ein Bruchteil der bisherigen Fachlehrer benötigt.
Unbeliebt, weil von der Obrigkeit verordnet, war Russisch schon lange. Lustlos machte die Schüler nach Ansicht des Jenaer Pädagogen Philipp Hartleb auch der »fehlende Lebensbezug« des Lehrstoffs: »Da ging und geht es eben immer nur um Komsomol-Treffen.«
Nach der Wende schlug die Abneigung der Schüler mitunter in offene Auflehnung um. In Halle, berichtete die DDR-Zeitung Junge Welt, kam es sogar zu Handgreiflichkeiten, als Pennäler versuchten, Schulen und Ämter zu stürmen. Aufgebrachte Jugendliche verstiegen sich zu der Parole: »Russischlehrer an die Wand!«
Gegen das schlechte Image ihrer Arbeit setzten sich die Lehrer zunehmend zur Wehr. Christina Basche, Sprecherin der Arbeitsgruppe Russistik an der Pädagogischen Hochschule Erfurt/Mühlhausen, appelliert an Schüler und Eltern, »die russische Sprache nicht zum Sündenbock für die einseitige Bildungspolitik vergangener Jahrzehnte zu machen«. Sie verweist auf die Bedeutung des Russischen als »nach wie vor wichtigste osteuropäische Handels- und Verkehrssprache« mit einer »wachsenden Rolle in Westeuropa«.
An der Pädagogischen Hochschule Potsdam versammelten sich Ende Mai 75 Fachlehrer und Dozenten zur Gründung eines »Interessenverbandes Russischunterricht«. Die Initiatorin Margot Krien, Leiterin des Wissenschaftsbereichs Methodik des Russischen, will den Lehrern ein neues Selbstbewußtsein vermitteln und sie zur Weiterbildung motivieren: »Wir müssen erreichen, daß sich der Russischunterricht neu profilieren kann.« Aller ideologische »Ballast« müsse beseitigt werden.
Auch aus Westdeutschland erhoffen sich viele DDR-Russischlehrer Unterstützung. So sind bei Joachim Kramarz, dem Vorsitzenden der (West-)Berliner Sektion des Deutschen Philologenverbandes, in den vergangenen Wochen zahlreiche Briefe aus der DDR eingegangen - »mit fast flehentlich ausgesprochenen Bitten um Hilfe«. Kramarz hat deshalb die Bundesländer aufgefordert, »ein Konzept für einen sinnvollen Einsatz der Russischlehrer der DDR zu erarbeiten«.
Große Taten westdeutscher Bildungspolitiker sind allerdings kaum zu erwarten - offene Stellen für Russischlehrer gibt es nicht. Zwar ist die Zahl der Schüler im Fach Russisch durch den Zustrom von Aus- und Übersiedlerkindern stark gestiegen, trotzdem sind immer noch viele der rund 2000 westdeutschen Slawisten im Lehrberuf arbeitslos.
Auch der Vorschlag des Lehrer-Lobbyisten Kramarz, in Westdeutschland »das Angebot an Russischunterricht demonstrativ zu erhöhen«, ist problematisch. Die Hamburger Schulsenatorin Rosemarie Raab (SPD) etwa verweist darauf, daß sich der sogenannte Fremdsprachenkanon »am Schüler- und Elternwillen« und nicht an staatlichen Vorgaben orientiert.
Andere Politiker wie der hessische Kultusminister Christean Wagner (CDU) äußern zwar ihr »Bedauern« über den Rückgang des Russischen in der DDR und wollen auch »nicht ausschließen, daß DDR-Russischlehrer bei uns tätig werden«. Konkrete Angebote jedoch haben sie noch nicht vorgelegt.
Gefördert wird von westlicher Seite vor allem die Fortbildung von DDR-Englischlehrern. So finanziert der freidemokratische Bundesbildungsminister Jürgen Möllemann für 50 Pädagogen aus dem anderen Deutschland einen dreiwöchigen Sommerkurs an einer englischen Universität; 95 weitere Fachkollegen können dank britischer Hilfe an dem Programm teilnehmen. In der Ausschreibung wird nicht nur »ein hohes Niveau der Sprachbeherrschung« verlangt, sondern auch »die Bereitschaft, als Multiplikatoren in der Weiterbildung von Lehrern mitzuwirken« - damit die Geförderten nach ihrer Rückkehr auch Russischlehrern Englisch beibringen.
Die Umschulung von der östlichen auf die westliche Weltsprache stößt allerdings auch auf Kritik. Sabine Utheß, Direktorin des Instituts für Fremdsprachen an der Ost-Berliner Akademie der Pädagogischen Wissenschaften, beurteilt die Zukunft der meisten Schmalspur-Anglisten als »nicht sehr perspektivreich«. Zu befürchten sei, daß sie bald durch fachlich qualifizierteren Nachwuchs verdrängt werden.
Eine »echte Lücke« sieht die Bildungsplanerin hingegen im Fach Latein: »Es würde auch von seiner Grammatik her Russischlehrern viel näher liegen als Englisch.« Der Bedarf an Lateinlehrern sei in der DDR erheblich - vor allem bei »gymnasial interessierten Eltern«, die für ihre Kinder eine möglichst radikale Abkehr von der bisherigen polytechnischen Ausbildung anstreben.
Noch steht Latein lediglich an acht DDR-Schulen auf dem Lehrplan, ein Fachstudium ermöglicht nur die Universität Halle. Empörung darüber, daß die klassischen Sprachen »in skandalöser Weise heruntergehungert« worden seien, äußerte DDR-Bildungsminister Hans-Joachim Meyer bereits kurz nach seinem Amtsantritt im April: »Hier müssen wir zu einer deutlichen Akzentverschiebung kommen.«