WAHLEN / NIEDERSACHSEN Immer Opfer
Die CDU war, wie versprochen, »erfolgreich für alle« und stieß erstmals bei einer Landtagswahl in Niedersachsen über die 40-Prozent-Marke vor. Niedersachsens CDU-Chef Dr. Otto Fricke aufgekratzt: »Donnerwetter, wir haben die Schallmauer durchbrochen.«
Die Mauerbrocken umschwirrten die Genossen Sozialdemokraten. Statt aufwärts, wie SPD-Regierungschef Dr. Georg Diederichs von den Wahlplakaten herunter geweissagt hatte, ging es am vorletzten Sonntag abwärts -- so weit, daß die SPD am Ende· froh war, mit 1,4 Prozent Vorsprung gerade noch einmal vor der CDU gelandet zu sein.
> Mit 41,7 Prozent gegenüber 37,7 Prozent im Jahr 1963 verfehlte die CDU nur knapp ihr Traumziel, auch im roten Niedersachsen endlich stärkste Partei zu werden.
> Mit 43,1 Prozent -- statt der ersehnten absoluten Mehrheit -- büßten die Sozialdemokraten 1,8 Prozent ihres Stimmanteils bei den Landtagswahlen 1963 ein.
Bis in den späten Abend hinein hatten die Computer des Zweiten Fernsehens sogar ein totes Rennen der in Bonn wie in Hannover zur Großen Koalition vereinigten Gegner errechnet und beiden Parteien dieselbe Mandatszahl -- 65 -- prophezeit. Mit weißer Nasenspitze zog Ministerpräsident Dr. Diederichs im hannoverschen Funkhaus vom kleinen Sendesaal des ZDF in den großen des NDR, wo ihm bessere Kunde zuteil wurde: SPD 66, CDU 63 Sitze.
Die zehn Abgeordneten der FDP (6,9 Prozent der Stimmen) können weder der CDU noch der SPD dazu verhelfen, aus der großen Niedersachsen-Koalition auszubrechen; und mit den zehn NPD-Männern (sieben Prozent der Stimmen) im neuen Landtag möchten beide nicht gern etwas zu tun haben.
Es war der dritte Rückschlag der Sozialdemokraten in diesem Jahr und seit Bildung der Bonner Plisch-und-Plum-Regierung unter dem strahlenden Kurt Georg Kiesinger: Bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz verlor die SPD fast vier Prozent, während die CDU 2,3 Prozent dazugewann. In Schleswig-Holstein stagnierte die SPD und mußte den Fortschritt der CDU überlassen.
Und nun begann es im Fußvolk der SPD zu rumoren. Zunächst fünf der 22 SPD-Bezirke (Hessen-Süd, Südbayern, Berlin, Mittelrhein, Westliches Westfalen) verlangten die Einberufung eines außerordentlichen Bundesparteitags, auf dem nach Ansicht einer Minderheit die Bonner Koalition zur Diskussion gestellt werden soll -- jenes Unternehmen, von dem immer mehr Sozialdemokraten befürchten, daß es allenfalls dem Vaterland, nicht aber der Partei das Heil bringt.
Zumindest, so forderten SPD-Chargen in der Provinz, müsse damit begonnen werden, dem Parteiprofil wieder stärkere Konturen zu geben. SPD-Landesfürst Jockel Fuchs in Rheinland-Pfalz: »Es ist ganz entscheidend, in welchem Maß es gelingen wird, den sozialdemokratischen Anteil an der Regierungsarbeit in Bonn öffentlichkeitswirksam zu machen.«
Doch die Bonner SPD-Führer wollten so etwas nicht hören. Noch in der Niedersachsen-Nacht verbreitete Koalitionsträger Herbert Wehner über die Bildschirme, die SPD dürfe ihre »Beharrlichkeit nicht durch regionale Wahlen beeinträchtigen« lassen.
Wehner am Tag nach der Wahl: »Die SPD hat keinen Grund, das Ruder herumzuwerfen.«
Als sich für die Sitzung des SPD-Parteivorstands am letzten Freitag Sturm ankündigte, ließ Wehner seine
In Tostedt auf einer seiner 14 Wahlversammlungen in Niedersachsen. Rechts neben Kiesinger: Hannovers CDU-Kultusminister Richard Langeheine.
Propaganda-Leute eine Trostparole verbreiten, die freilich auch offenbarte, wie angeschlagen das Selbstvertrauen der Sozialdemokraten in Wahrheit ist: Die Niedersachsenwahl sei doch viel besser ausgegangen als erwartet; denn befürchtet habe die SPD jenes Ergebnis, das die ZDF-Computer anfangs prophezeit hatten: SPD und CDU Kopf an Kopf mit je 65 Sitzen.
So ganz einig darüber, wie der niedersächsische Wahlausgang zu interpretieren sei, konnten sich die führenden Sozialdemokraten in Bonn gleichwohl nicht werden. Partei-Vize Herbert Wehner: »Die SPD hat Zuzug aus bürgerlichen Wählerkreisen bekommen. Die Abwanderung von sogenannten Protestwählern fällt demgegenüber nicht ins Gewicht.« Fraktions-Chef Helmut Schmidt sah es anders: »Wir haben eben die reinen Protestwähler, die hinter uns standen, als wir noch Bonner Opposition waren, an die NPD verloren.«
Demgegenüber ermittelte Professor Dr. Rudolf Wildenmann vom Institut für Sozialwissenschaften der Wirtschaftshochschule Mannheim, daß den Sozialdemokraten vor allem in protestantischen Gebieten und unter den keineswegs NPD-verdächtigen Arbeitern nicht wenige Wähler davongelaufen sind.
Professor Dr. Wildenmann: »Das ist auch kein Wunder. Die beiden großen Parteien zeigen keine Gegensätze mehr, sondern unterscheiden sich nur noch in Nuancen. Dadurch wird das Reservoir
an potentiellen Wechslern immer größer.«
Einstweilen -- und das ist der SPD-Kummer -- wechseln die Wähler eher von der SPD zur CDU als umgekehrt. »Die Mehrheit sieht nicht die Koalition, sondern nur die regierende
Partei, und das ist Herr Kiesinger«, findet Wildenmann. »Die Mehrheit sieht nur, daß nicht die Sozialdemokraten, sondern die anderen den Kanzler stellen -- und auch noch diesen.«
In Hannover, wo die dezimierten Genossen die »prozentuale Konsolidierung« ihrer Partei achselzuckend zur Kenntnis nahmen, wies Niedersachsens SPD-Chef Egon Franke den Weg in die Zukunft: »Wir sind eine Partei, die sich noch immer geopfert hat, wenn es ums Ganze geht.« Doch dann korrigierte sich der SPD-Präside schnell: »Sagen wir besser: eine Partei, die immer Opfer gebracht hat. Das ist ja auch schon eine ganze Menge.«