SCHULEN / ZENSUREN Immer so braf
Wir nahmen einen Sack, stekten Äpfel, Nüße und zwei Tafeln Schockolade hinein. Schnell schrieben wir auf einen Zettel: »Weil du immer so braf warst, haben wir dir das gebracht!'«
Mit Sätzen wie diesen schrieb ein Neunjähriger ein Kapitel Schulgeschichte. Er blieb unbekannt, sein Aufsatz über den Nikolaustag wurde berühmt. Wenn es nach Karlheinz Ingenkamp, 45, Professor an der Erziehungswissenschaftlichen Hochschule im pfälzischen Landau, ginge, würde er zur Pflichtlektüre aller bundesdeutschen Lehrer gemacht.
Das Lehrstück des unbekannten Schuljungen gehört zu dem Material aus den USA, der Bundesrepublik und mehreren anderen Ländern, das Ingenkamp in einem jetzt erschienenen Sammelband über die »Fragwürdigkeit der Zensurengebung« ausbreitet*. In dem Buch werden die Ergebnisse von Untersuchungen veröffentlicht, die zwar zum Teil schon vor Jahren gemacht wurden und im Ausland großes Aufsehen auslösten, trotzdem in Deutschland aber größtenteils unbekannt geblieben sind. Die Erfahrungsberichte offenbaren die Not, die Lehrer mit den Noten ihrer Schüler haben.
Mit dem Nikolaus-Text hat ein Kollege Ingenkamps, der Innsbrucker Professor Rudolf Weiss, die Zensuren auf ihre Objektivität geprüft. An knapp hundert Lehrer ließ Weiss noch einen zweiten Aufsatz verteilen, den ein anderer Neunjähriger über das Thema »Ein Hund allein auf der Straße« geschrieben hatte:
* Karlheinz Ingenkamp: »Die Fragwürdigkeit der Zensurengebung«. Verlag Julius Beltz, Weinheim, Berlin, Basel; 292 Seiten; 16,80 Mark.
»Meine Mutter und ich gingen einmal spatzieren. Plötzlich stolperte ich. Die Mutter lachte und sagte: »Du bist ja über einen Hund gestolpert!' Es war ein lieber, kleiner Budel. Da sahen wir, das der arme Hund ganz allein auf der Straße ist. Er schaute uns ganz treuherzig an. Wir gingen dann zur Polizei und lieferten ihn ab. Ich dachte, er muß sich verirrt haben.
Weiss bat seine Katheder-Hundertschaft, bei beiden Aufsätzen die Rechtschreibung, den Stil und den Inhalt zu zensieren und den einen wie den anderen mit einer Gesamtnote zu versehen.
Mit einem Trick stellte er die Lehrer auf eine weitere Probe: Der einen Hälfte teilte er zusätzlich mit, der Aufsatz über den Hund stamme »von einem durchschnittlichen Schüler, beide Elternteile berufstätig, liest gerne Schundhefte«. Gegenüber der anderen Hälfte behauptete er, der Aufsatz sei das Werk eines »sprachlich begabten Jungen, Vater Redakteur bei einer großen Tageszeitung«.
Ergebnis der unkonventionellen Lehrer-Prüfung: Für beide Aufsätze wurden von der besten bis zur schlechtesten alle Zensuren vergeben, weder über Rechtschreibung noch über Stil. Inhalt oder Gesamtnote waren sich die Zensoren auch nur annähernd einig. Und auch das mit je einem Satz geprägte Vor-Urteil hatte Einfluß: War der Schüler positiv als begabter Redakteurssohn geschildert, so gab beispielsweise für die Rechtschreibung jeder sechste Lehrer die beste und kein einziger die schlechteste Note. War er negativ als Schundheft-Konsument vorgestellt, so entschied sieh umgekehrt kein einziger für die beste Note und jeder neunte für die schlechteste.
Wie Ingenkamp weiter feststellte, waren aber auch die Mathematik-Zensuren -- entgegen landläufiger Meinung -- keineswegs objektiver als die Noten für den Deutsch-Aufsatz.
In Tests erwies sich, daß sich Mathematik-Lehrer bei der Beurteilung von Rechenaufgaben in drei Gruppen aufteilten: Ein Teil wertete nur, ob die Lösung richtig oder falsch war. Ein anderer Teil hielt für entscheidend, daß der Rechengang richtig eingeschlagen worden war, während der Rest von kleinen Fehlern absah und die Zensur danach gab, ob die Aufgabe »denkerisch bewältigt« worden war.
Dementsprechend gaben verschiedene Lehrer für ein und dieselbe Arbeit sehr unterschiedliche Zensuren: von »sehr gut« bis »mangelhaft«.
Die wichtigsten Ergebnisse einschlägiger Untersuchungen zusammenzutragen fiel dem Landauer Erziehungswissenschaftler Ingenkamp nicht schwer. So intensiv wie kein anderer in der Bundesrepublik hat er sich mit diesem Thema befaßt. Fast 20 Jahre lang ist Ingenkamp selber Lehrer gewesen. Von 1956 an hat er den schulpsychologischen Dienst in West-Berlin geleitet, seit 1965 am dortigen Pädagogischen Zentrum geforscht und seit 1968 an der Freien Universität gelehrt. Überdies lernte er die Zensuren-Misere an drei eigenen Söhnen auch daheim kennen. Mehrere Bücher schrieb er über Einzelthemen »de die »Problematik der Jahrgangsklasse« und die Anwendung von Tests in der Schulpraxis.
Kaum ein Fachmann aber fällte bislang ein so negatives Urteil über die bundesdeutschen Schulzensuren wie Ingenkamp. Zwar geht er nicht so weit wie der amerikanische Lehrer-Kritiker C. C. Ross, dem zufolge »die Zensuren bestimmter Individuen mehr von der Gesichtsform als vom Inhalt des Kopfes bestimmt sind«. Ein anderes Ross-Wort: »Handschrift, Betragen, sprachliche Ausdrucksfähigkeit' Sitzplatz in der Klasse und Einschätzungen von Persönlichkeitsfaktoren wie Autoritätsrespekt und Kooperationsbereitschaft der Schüler sind für die Festsetzung ihrer Zensuren ebenso bedeutende Faktoren wie der Zustand der Ermüdung oder Langeweile, in dem sich der Lehrer bei der Notengebung gerade befindet.«
Der Landauer Erziehungswissenschaftler ist (wie es einer der Autoren seines Buches formulierte) davon überzeugt, »daß die meisten Lehrer ihre Schüler so objektiv bewerten, wie sie können«. Aber sie können es eben nicht, auch wenn sie es wollen.
Deshalb will Ingenkamp das ganze System der Bewertung von Schülerleistungen radikal erneuern. Und er hofft auf Folgen seines Buches, die andere eher fürchten: »Die Lehrer, die täglich beurteilen müssen, werden durch dieses Buch verunsichert, und ihre Zensuren werden mehr als bisher in Zweifel gezogen werden.«
Zensuren und Zeugnisse haben in der Bundesrepublik eine weit größere Bedeutung, als viele Lehrer es wahrhaben wollen. Nach einem berühmt gewordenen Wort des Soziologen Helmut Schelsky üben die Schulen die Funktion einer »bürokratischen Zuteilungsapparatur von Lebenschancen« aus. Und zugeteilt werden viele Chancen aufgrund der Noten, die vorgezeigt werden können.
Sie haben Gewicht für die Entscheidung, ob ein zehnjähriges Kind aus der Grundschule in eine Realschule oder ein Gymnasium überwechselt. Sie entscheiden Jahr für Jahr über Versetztwerden oder Sitzenbleiben. Die Abiturnoten werden oft herangezogen, wenn es mehr Studienplätze als Studenten gibt. Und kleine Handwerksmeister wie Personalchefs von Großfirmen machen noch immer in manchem Zweifelsfall die Wahl zwischen zwei sonst gleichwertigen Bewerbern von deren Schulzeugnissen abhängig.
Aber dieses ganze »schulische Berechtigungswesen« beruht laut Ingenkamp auf einer Fiktion: darauf, daß Schulzensuren objektiv seien und miteinander verglichen werden könnten.
»Überhaupt keinen Vergleichswert« haben Zensuren nach Ingenkamps Ansicht über den Rahmen einer Klasse hinaus. »Bloße Spekulation« sei deshalb die weit verbreitete Annahme, daß ein Schüler, der wegen guter Noten von einer Prüfung befreit werde, objektiv bessere Leistungen aufweisen müsse als ein Sitzenbleiber in der Parallelklasse. »Unsinnig« sei es, daß Universitäten »unter zwei Bewerbern aus verschiedenen Schulen, Städten oder gar Bundesländern einen nach den Abiturnoten auswählen«. Und ehrlich solle auch zugegeben werden, »daß kein Lehrherr aus den Zeugnissen eine vergleichbare Aussage über die Schulleistung von Schülern verschiedener Klassen entnehmen kann«.
Solche Erkenntnisse sind unter Deutschlands Schülern populärer als unter ihren Lehrern. Für viele Jungen und Mädchen ist deshalb die Abschaffung der Zensuren zu einem Nahziel im Klassen-Kampf zwischen Sexta und Oberprima geworden. Sie sind, so ein typischer antiautoritärer Text, »Instrumente der Herrschaftssicherung. Noten ... dienen der Diskriminierung schwacher Schüler. Sie schaffen Hierarchien in der Klasse, lassen die Streber hochkommen und geben den Leistungsstarken das Gefühl, sie leisteten eine gerechte Sache ... Noten schaffen Terror, ohne ihn rechtfertigen zu können, denn sie messen so ungenau, daß kaum eine Note der anderen gleicht. Die Pauker benoten, wie es ihnen gerade paßt«.
Vielfach wurde daher von Schülern, die als Klassen- oder Schulsprecher in der »Schülermitverantwortung« (SMV) tätig sind, die Forderung gestellt, die Pennäler sollten bei der Notenerteilung ebenso mitbestimmen dürfen wie bei der Milchverteilung.
Doch sozialistische Basisgruppen an Hamburger Gymnasien wiesen dieses SMV-Begehren als »unreflektiert« zurück: »Die Abstimmungsmöglichkeit über Zensuren ist fatal. Indirekt wird man dann der eigenen Unterdrückung zustimmen, gleichgültig, ob eine Fünf oder eine Zwei zur Diskussion steht.«
In den Schülerruf »Schafft die Noten und Zeugnisse ab« stimmt Ingenkamp allerdings nicht ein. Er ist, wie die meisten anderen Fachleute, davon überzeugt, daß ein Lernprozeß nur dann wirksam verläuft, wenn »der Lernende ständig Informationen über seinen Lernerfolg erhält oder selbst gewinnt«. Das aber ist mit dem heutigen Notensystem nicht mehr zu erreichen. Und auch ein Herumdoktern an Details, für das sich wohl eine Lehrermehrheit gewinnen ließe, hilft nach Meinung Ingenkamps nicht mehr weiter.
Die Zensuren sind beispielsweise nicht objektiver geworden, seit die Kultusminister 1968 festgesetzt haben, daß mit ihnen »der Eigenart der Schulgattung und des Faches sowie dem Alter des Schülers Rechnung zu tragen« sei. Zugleich hatten die Kultus-Chefs die Noten Eins bis Sechs neu definiert. So soll die Note Zwei ("gut") gegeben werden, »wenn die Leistung den Anforderungen voll entspricht«, eine Eins, wenn dies »in besonderem Maße«, eine Drei, wenn es nur »im allgemeinen« der Fall ist.
Aber wie hoch die Anforderungen jeweils gesetzt werden und wieviel Schüler ihnen dann entsprechen, bleibt im wesentlichen dem Lehrer überlassen -- wie er auch subjektiv darüber entscheidet, inwieweit sich die Eigenart von Schule, Fach und Schüler auf die Zensuren auswirkt.
Vielfältig weisen Ingenkamp und seine Mit-Autoren anhand von Untersuchungen nach, wie unterschiedlich die Leistungen von Schülern beurteilt werden. Eine gute Zensur ist (von Ausnahmen immer abgesehen) in kleinen Gemeinden leichter zu erreichen als in Großstädten, südlich des Mains leichter als in Norddeutschland, von Mädchen leichter als von Jungen, bei Lehrerinnen leichter als bei Lehrern, von beliebten Schülern leichter als von unbeliebten, in Leibesübungen und musischen Fächern leichter als im Fremdsprachen- oder Mathematikunterricht.
Auf dem langen Marsch zum Abitur werden die Durchschnittszensuren vor allem in Deutsch. Mathematik und Fremdsprachen immer schlechter, obwohl sie eigentlich immer besser werden müßten: Denn schlechte Schüler bleiben sitzen oder verlassen die Schule, das Niveau des Restes steigt.
Daß die Maßstäbe nicht nur von Klasse zu Klasse und von Lehrer zu Lehrer. sondern auch hei ein und demselben Lehrer wechseln, haben amerikanische Pädagogen belegt. Sie ließen 61 Lehrer im Abstand von elf Wochen dieselben Schülerarbeiten zweimal zensieren. Jeweils vier Noten waren festzusetzen. Beim zweitenmal gab kein einziger Lehrer alle vier Zensuren genauso wie beim erstenmal. Bei nur zwei Lehrern stimmten drei der vier Zensuren überein, bei 17 war es die Hälfte, bei 23 war es eine von vier, und 19 Testlehrer zensierten alle vier Arbeiten anders als wenige Wochen zuvor. Der Pädagoge, der die Untersuchung leitete, berechnete die Abweichungen präzise und kam zu dem Ergebnis, daß »so niedrige Zuverlässigkeitskoeffizienten wie diese kaum besser sind als bloßes Raten«.
Manchen Erfahrungsberichten ist zu entnehmen, daß zur guten Zensur oft Glück gehört wie zu einem Treffer im Lotto. Beispiel aus dem Ingenkamp-Buch: »Ein Schüler. der fünf Fehler machte, bekommt in einer Klasse die Note 5, in einer zweiten Klasse die Note 3. In einer Klasse reicht die Note 3 von vier bis zwölf Fehlern, in einer anderen beginnt sie schon bei null Fehlern. In einer Gruppe bekommt man mit drei Fehlern noch eine Zwei, während man in einer anderen Gruppe für dieselbe Leistung bereits eine Fünf einstecken muß.«
Die Lösung des Zensuren-Problems sieht der Landauer Professor darin, daß auch in der Bundesrepublik -- wie schon in anderen Ländern -- standardisierte Tests eingeführt werden, um dem Lehrer »einen Vergleichsmaßstab über viele Klassen hinweg« zu bieten.
Ingenkamp: »Das deutsche Schulwesen wird sich in absehbarer Zeit entscheiden müssen, ob es sich ernsthaft mit diesem Hilfsmittel auseinandersetzen oder weiter mit der Fiktion der Vergleichbarkeit von Zensuren leben will.«