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NORDIRLAND In alle Richtungen

Schüsse in die Menge, Prügel für Fliehende: Die Polizeitruppe Royal Ulster Constabulary in Nordirland ist in Verruf geraten. *
aus DER SPIEGEL 34/1984

Die an ihren flaschengrünen Uniformen erkennbaren Polizisten hatten sich in der Bürgerkriegsprovinz Nordirland so etwas wie einen respektablen Ruf erworben.

Beamte der Royal Ulster Constabulary (RUC) patrouillierten in protestantischen wie katholischen Wohnvierteln der Hauptstadt Belfast und trauten sich auch schon mal in die Grafschaft Armagh, Hochburg der katholisch-republikanischen Untergrundarmee IRA.

In Belfast und Londonderry verfolgte die RUC erstmals auch eine gemeindenahe Politik. Beamte schlichteten Streitigkeiten zwischen verfeindeten Nachbarn und begaben sich auf nichtpolizeiliches Gelände: Sie besuchten Diskotheken, um mit jungen Leuten in Kontakt zu kommen. Die Belfaster RUC-Zentrale hatte in den siebziger Jahren ein Dutzend Musikschuppen aufgekauft und war so zum größten Disko-Unternehmen in Nordirland geworden.

Zwar mußte sich die RUC wütender Angriffe der IRA erwehren. Untergrundkämpfer beschossen bisher mehr als 1600mal Reviergebäude der Ulster-Polizei - mit Schnellfeuerwaffen, Mörsern, sowjetischen Raketengeschossen und einmal sogar mit einem Flak-Geschütz aus dem Zweiten Weltkrieg.

Doch die Verteidiger hielten den jeweiligen Sturmmethoden stand. Die RUC-Wachen in Ulsters Städten ähneln Festungen: Stählerne Maschennetze sollen Raketen, drucksichere Türen Bombenexplosionen standhalten. Fernsehkameras und elektronische Sensoren überwachen die Stationen Tag und Nacht.

»Die RUC«, loben Regierungsbeamte in London, »ist die bestausgerüstete Polizeistreitmacht der Welt.« Computer im Hauptquartier ermöglichen Rasterfahndungen nach deutschem Muster und sind mit den mausgrauen Streifenwagen vom Typ Land-Rover verbunden - Panzer auf Rädern, die mit Asbest-Schutzschilden und Stahlrammen zum Wegräumen von Hindernissen bewehrt sind.

Millionen Fernseh-Briten traf es deshalb wie ein Schock, als die vielgerühmte Ulster-Polizei vorletzten Sonntag in Belfast zu einem brutalen Sturmlauf ansetzte. RUC-Beamte fuhren mit den Land-Rovern in eine Gruppe von mehr als 2000 Demonstranten und hieben mit Gummiknüppeln auf Davonrennende ein. Andere Polizisten erhoben Spezialgewehre, groß wie Elefantenbüchsen, und schossen Plastikkugeln in die Menge.

»Sie feuerten in alle Himmelsrichtungen«, berichtete ein Reporter der britischen Nachrichtenagentur Press Association, der sich im Getümmel auf den Boden warf. »Dann rannten sie, Knüppel in den Händen, über uns hinweg.«

Am Ende des 20minütigen Frontalangriffs blieben 20 Verletzte und ein Toter auf dem Schlachtfeld zurück. Der 22 Jahre alte Sean Downes starb, nachdem ihn eine Plastikkugel an der Brust getroffen hatte.

Das zehn Zentimeter lange Stumpfgeschoß war von einem RUC-Mann abgefeuert worden, der nur 1,80 Meter von Downes entfernt stand. Die Vorschrift verlangt eine Mindestdistanz von 20 Metern, wobei die Schützen angewiesen sind, nur auf die Beine anzulegen. Erst recht verboten ist, »unterschiedslos in eine Menschenmenge« zu zielen.

Auslöser des Polizei-Skandals war eine Verfügung, die den Besuch des New Yorker Anwalts Martin Galvin, 34, in Nordirland untersagte. Doch Galvin kam trotzdem: Er ist Werbechef der New Yorker Spendenorganisation Noraid, die nach Einschätzung des US-Justizministeriums drei Viertel der IRA-Waffeneinkäufe finanziert. Zusammen mit dem Chef des politischen IRA-Flügels Sinn Fein, Gerry Adams, 34, hatte er die vor dem Gebäude von Sinn Fein versammelte Menge begrüßen wollen.

Anlaß für seinen Auftritt war die jedes Jahr im August abgehaltene nordirische »Marching Season« - eine Serie von Umzügen, bei denen vor allem historischer Schlachten gedacht wird. Tags zuvor waren in Londonderry 15 000 Protestanten durch die Stadt marschiert, um ein Ereignis von 1689 zu bejubeln: die gescheiterte Belagerung der Stadt durch katholische Truppen Jakobs II.

Die Umzügler in Belfast wollten gegen die Anwesenheit britischer Truppen in

Nordirland demonstrieren, die vor 15 Jahren von dem damaligen Labour-Premier Harold Wilson in die Krisenprovinz entsandt wurden - »heute ein Nicht-Ereignis«, so der Londoner »Guardian«, »das erst durch den Polizei-Einsatz zur Tragödie geriet«.

Für die Sinn-Fein-Partei war sie ein dringend notwendiger Propaganda-Sieg. Bei den Europawahlen war Sinn Fein von den Wählern klar im Stich gelassen worden. Erst recht waren die Bilder aus Belfast willkommene Gratiswerbung für Galvins Noraid. Sie wurden im Programm der amerikanischen TV-Gesellschaft ABC während der Schlußzeremonie der Olympischen Spiele ausgestrahlt und von über 80 Millionen amerikanischen Fernsehzuschauern gesehen. Es sei nun die »moralische Pflicht jeden US-Bürgers«, sagte ein Noraid-Sprecher hinterher, »der IRA Gewehre zu senden«.

Vor einem politischen Scherbenhaufen stand der Verlierer des Tages, Nordirland-Minister James Prior, 56. Er will nach dreijähriger Amtszeit im September zwar zurücktreten, doch hatte er mehr erreicht als alle seine Vorgänger in Ulster. Nach dem Hungerstreik im Maze-Gefängnis bei Belfast, bei dem 1981 zehn IRA-Häftlinge starben, war es ihm gelungen, das Leben in der Provinz schnell zu normalisieren.

Vor allem intensivierte er die lange vernachlässigten Kontakte mit der Republik Irland. Dublin schlug daraufhin im Mai dieses Jahres unter anderem vor, Nordirland unter gemeinsame britischirische Verwaltung zu stellen - eine Lösung, der auch Prior aufgeschlossen gegenübersteht.

Doch der Amoklauf der RUC-Beamten belastet das gerade angewärmte britisch-irische Verhältnis schwer. Dublins Außenminister Peter Barry bestellte noch am selben Tag den britischen Geschäftsträger zu sich, um gegen die »unangebrachte Aktion der RUC« zu protestieren.

Prior wiederum nahm die Verantwortung auf sich und übte indirekt Kritik an seiner Polizei, die einen »schweren Rückschlag« zu beklagen habe - vorläufiges Ende von Priors ehrgeizigstem Plan. Er lief darauf hinaus, die RUC zu einer so verläßlichen und unparteiischen Polizeimacht auszubauen, daß am Ende die britischen Truppen aus Nordirland hätten abgezogen werden können.

Der Nordirland-Minister hatte es dabei schon weit gebracht. Die Zahl britischer Soldaten in Nordirland ging von 22 000 Mann im Jahr 1972 auf unter 10 000 in diesem Jahr zurück. Die RUC dagegen wurde von 3000 Mann auf über 8000 aufgestockt. Da auch noch die 8000 Mann starke Reservistentruppe des UIster Defence Regiment (UDR) zur Verfügung steht, bot sich Prior erstmals die Chance, den Konflikt zu »ulsterisieren«.

Erfolge hatte Prior auch bei der Rekrutierung von Katholiken für den Polizeidienst vorzuweisen. Seit ihrer Gründung 1921 bestand die Ulster-Polizei fast ausschließlich aus protestantischen Uniformierten, die einseitig und oft brutal gegen die katholische Bevölkerungsminderheit vorgingen. Unter Prior stieg der Anteil katholischer Beamter bis auf knapp zehn Prozent - ein schwerer Schlag für die IRA, deren Feindbild von den protestantischen Unterdrückern im grünen Tuch ins Wanken kam.

Zwar machen Anfangsgehälter von über 30 000 Mark im Jahr und ein täglicher »Risikozuschlag« von vier Mark den Polizeidienst für manchen Katholiken unter den über 21 Prozent Arbeitslosen der Provinz attraktiv - doch der Job ist lebensgefährlich. Von den 200 RUC-Beamten, die seit 1969 umkamen, wurden viele von der IRA zu Hause, im Garten oder in der Garage ermordet. Im Herbst vorigen Jahres etwa wurde ein 61jähriger RUC-Katholik erschossen, als er nach Dienstschluß die Tür seiner Wohnung öffnen wollte. Drei Wochen später hätte er den Ruhestand antreten sollen.

Doch auch die RUC, so zeigten die Ereignisse am »Blutsonntag« (so die BBC) in Belfast, fackelt nicht lange. Umstritten ist vor allem die Rolle der Sondertruppe Special Support Unit (SSU), deren Mitglieder im Hügelland von Armagh biwakieren und im Gebüsch den Terroristen auflauern.

Die Existenz der SSU wurde im Frühjahr bekannt, als einer ihrer Terroristenjäger in Belfast des Mordes angeklagt und freigesprochen wurde, obwohl er einen Unbewaffneten erschossen hatte. Das Konzept der SSU, so der Schütze vor Gericht, basiere auf »Feuerkraft, Geschwindigkeit und Aggression«.

Von dieser Rangfolge will auch der Chef der RUC nicht abrücken: Sir John Hermon, ein korpulenter Protestant, der im Belfaster Hauptquartier der RUC eine bombensichere Privatwohnung unterhält.

Hermon, seit 1980 »Chief Constable«, ist bei seinen Untergebenen als Scharfmacher gefürchtet. Der Dubliner Regierung fiel Hermon unangenehm auf, als er Männer seiner Sondertruppe auf das Gebiet der Republik ausschwärmen ließ, um dort Terroristen einzufangen.

An dem Polizei-Angriff in Belfast gab es für ihn nichts zu kritisieren. »Ich bin«, sagte Hermon, »mit den Umständen vollauf zufrieden.« _(Am 12. August 1984. )

Am 12. August 1984.

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