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EUROPA »In Brüssel vordemokratische Zustände«

Eine gewaltige Wirtschaftsmacht ist die EG geworden, und mit dem Binnenmarkt 1992 wird sie noch imposanter - Amerikaner und Japaner fürchten die »Festung Europa«. Doch nicht die Bürger oder die von ihnen gewählten Politiker haben in Brüssel das Sagen, sondern Heerscharen nationaler und europäischer Beamter. Die Europaparlamentarier, die am 18. Juni gewählt werden, haben in der Gemeinschaft wenig zu melden, die Wirtschaftsbosse um so mehr.
aus DER SPIEGEL 23/1989

Europa ist ein Staat, der aus mehreren Provinzen besteht. Charles de Montesquieu

Verblendet waren sie und ewig miteinander verfeindet, verurteilt schienen sie zu aberwitzigen Glaubenskämpfen und mörderischen Eroberungskriegen - zur systematischen, selbstverschuldeten Selbstzerstörung.

Doch nun zeigen sich die Europäer plötzlich in Hochform. Ein Europa der Superlative tritt auf und stellt sich zur Wahl: Wenn Mitte Juni die 243,7 Millionen wahlberechtigten Bürger zwischen Faro im Süden Portugals und dem dänischen Skagen, zwischen Galway in Irland und Samos in Griechenland aufgerufen sind, ein gemeinsames Parlament zu wählen, dann präsentiert sich die Gemeinschaft so machtvoll wie nie zuvor in ihrer nunmehr 32jährigen Geschichte. 320 Millionen Konsumenten können ein Inlandsprodukt von acht Billionen Mark ausgeben. Weltmeister beim Importieren, Spitzenklasse im Exportieren. Und alles soll noch besser, größer, schöner werden, wenn am 31. Dezember 1992 im Binnenmarkt Europa die Grenzen fallen.

»Was Hitler, Napoleon und ein Dutzend Despoten mit brutaler Gewalt vergebens zu erreichen suchten«, staunt die einflußreiche amerikanische Tageszeitung »The Christian Science Monitor«, gelinge nun offenbar »durch Kooperation und Wettbewerb«.

Die ungeahnte Dynamik, die der alte, gestern noch hundertfach zerrissene Kontinent entwickelt, weckt weltweit Ängste. Bei den Handelspartnern USA und Japan geht das Schreckgespenst um von einer neuen Weltwirtschaftsmacht, der »Festung Europa«.

Die vierte Europawahl, die dritte direkte, die erste in der auf zwölf Staaten gewachsenen Gemeinschaft, ist zugleich die erste, die unter politischer Hochspannung abläuft. Wie mächtig wird die neue Internationale der europäischen Ultrarechten am 19. Juni dastehen? Wie geschrumpft Bonns Helmut Kohl?

Wer aber bestimmt in diesem Europa, das nach der Prognose des Kanzlers »in zehn Jahren nicht wiederzuerkennen sein wird«? Wer entscheidet über Normen, Verordnungen und Richtlinien, die den Alltag der EG-Bürger fortwährend tief verändern, in die Produktion von Industriekonzernen und mittelständischen Betrieben eingreifen, den Handel kanalisieren, die Währungen koordinieren?

Nicht die am 18. Juni gewählten Volksvertreter aus rund 160 Parteien, nicht mal die großmächtigen Staats- und Regierungschefs, die ihre viel zu zahlreichen Gipfel zelebrieren. Vielmehr prägen Tausendschaften von Beamten aus den Nationalstaaten wie aus der Europa-Metropole Brüssel das Gesicht des künftigen Europa, setzen europäisches Recht. Richtlinien und Verordnungen werden von Beamten vorgeschlagen, von Beamten verhandelt, von Beamten entschieden: das neue Europa in den Händen einer der ältesten Mächte des alten Kontinents - der Bürokratie.

Die Brüsseler EG-Kommission mit ihren 17 Kommissaren und 22 Generaldirektoren ist die einzige Behörde der westlichen Welt, die das Recht zur Gesetzesinitiative hat, ohne dazu demokratisch legitimiert zu sein. Der Ministerrat, das oberste Entscheidungsorgan der Gemeinschaft, gibt nur allgemeine Leitlinien oder Rahmenbedingungen vor - der Vollzug im Detail liegt bei den Eurokraten.

Wenn die Fachminister aus den zwölf Hauptstädten im Brüsseler Ratsgebäude Charlemagne über eine neue Direktive abstimmen, dann geht es ihnen meist wie der ehemaligen Bonner Gesundheitsministerin Rita Süssmuth. Sie fühlte sich in der EG-Hauptstadt degradiert - zur »Sprechmaschine wohlmeinender Beamter«.

Von links flüsterte der stellvertretende deutsche EG-Botschafter auf sie ein, von rechts soufflierte ihr ein hochrangiger Fachbeamter. Hinter sich wußte sie mindestens vier Ministeriale, jederzeit auf dem Sprung, ihr die komplizierten Sachverhalte zu erläutern und mit taktischen Ratschlägen zu dienen. Auf dem Tisch die schriftlichen Regieanweisungen, ihr Sprechzettel, der nicht nur den Verlauf der Sitzung vorschrieb, sondern sie auch präzise anwies, zu welchem Punkt der Tagesordnung sie was zu sagen hatte.

Demokratische Kontrolle findet in diesem imposanten Verbund der westeuropäischen Demokratien nicht statt. Die Europaparlamentarier dürfen zwar ihre Meinung zu einer neuen Richtlinie kundtun. Doch weder Rat noch Kommission sind verpflichtet, das parlamentarische Mehrheitsvotum auch zu berücksichtigen.

Zu jenen Büros, in denen die Gemeinschaft ihre für alle bindenden Richtlinien und Verordnungen erläßt, etwa über Umweltnormen und Sicherheitsstandards, über die gegenseitige Anerkennung von Hochschuldiplomen oder die Harmonisierung der Steuern, haben die Abgeordneten keinen Zutritt.

Als die sozialdemokratische Umweltexpertin Beate Weber einmal ein Go-in zum Rat der Fachminister wagte, wurde sie freundlich, aber bestimmt wieder hinauskomplimentiert.

Denn im Rat ist die Exekutive zugleich die Legislative, verabschiedet die Ministerialbürokratie mit ihren Ministern oder Staatssekretären an der Spitze die EG-Gesetze ohne störende Mitwirkung der Parlamente.

Nur einen Bruchteil der neuen Verordnungen nehmen die Minister bei ihren Ratstagungen überhaupt zur Kenntnis. 80 Prozent der Vorschriften werden in 150 Arbeitsgruppen unter den Beamten des Rates ausgehandelt und im Ausschuß der EG-Botschafter, einem Gremium von Spitzendiplomaten, verabschiedet.

Die Eurokraten - das sind nicht nur die 12 000 Beamten der Kommission, die den Haushalt der Gemeinschaft verwalten, die Ausführung der erlassenen Normen überwachen, neue Verordnungen und Abkommen entwerfen.

Die Eurokraten - das sind auch die rund 2000 Bediensteten des Ratssekretariats, die für den organisatorischen Ablauf Dutzender Konferenzen der verschiedenen Ministerräte sorgen und die Arbeitsgruppen betreuen sowie der halbjährlich wechselnden Präsidentschaft des Rates - derzeit sind es die Spanier - zuarbeiten.

Die Eurokraten - das sind schließlich die Divisionen nach Brüssel anreisender nationaler Beamter, die hinter den verschlossenen Türen des Ratsgebäudes Charlemagne derzeit mit ihren Brüsseler Kollegen um die Gestalt des gemeinsamen Binnenmarktes feilschen.

30 000 Reisen rechnet das Ratssekretariat jährlich für jene Bürokraten aus den Hauptstädten der zwölf Einzelstaaten ab, die in oft quälend langen Beratungen die Kommissionsvorschläge nach den jeweiligen nationalen Interessen durchsehen und zumeist kräftig verwässern.

Hier blockieren Beamte aus dem Bonner Landwirtschaftsministerium beispielsweise einen Kooperationsvertrag der EG mit Belgrad, weil sie den deutschen Bauern den Import jugoslawischer Sauerkirschen ersparen wollen. Spanier und Portugiesen torpedieren ein Abkommen mit Marokko, weil sie ihren Fischern zuliebe den Import von 17 000 Tonnen Sardinen aus dem nordafrikanischen Staat verhindern möchten.

In den Arbeitsgruppen und auf regelmäßigen Zusammenkünften der EG-Botschafter werden komplizierte Kompromisse ausgekungelt und Verhandlungspakete geschnürt, wird das Drehbuch für die nächste Ratstagung der Finanz- oder der Verkehrsminister entworfen.

Wehe aber, ein Minister wird zum Spielverderber, indem er per Regieanweisung die beamteten Souffleure zu lenken versucht. Dann gerät, so erlebte es die ehemalige Gesundheitsministerin Süssmuth, als sie den vorgefertigten Kompromißvorschlag zur neuen Tabakverordnung abwies, »vorübergehend alles durcheinander«.

Spontaneität oder Eigenständigkeit sind in diesem System aufeinander eingespielter Bürokratien nicht vorgesehen. Politische Diskussionen finden nur ausnahmsweise statt - etwa, wenn sich die nationalen Beamtenstäbe im Rat gegenseitig so blockieren, daß eine Entscheidung über den Haushalt oder den Milchpreis nicht zustande kommt, obschon sie anerkanntermaßen als unaufschiebbar gilt.

Dann höchstens wagt es ein Ratspräsident schon mal, die Bürokraten vor die Tür zu schicken, um den Ministern die Chance zu einem politischen Kompromiß jenseits des vorgefertigten Drehbuchs zu ermöglichen - ein Störfall für die Beamten. Denn die Zugeständnisse ihrer Ressortchefs müssen sie, klagt einer aus dem Bonner Finanzministerium, anschließend »mühsam wieder reparieren«.

Daß die zwölf Außenminister im Februar so rasch und einstimmig den Abzug ihrer Botschafter aus Teheran als Antwort auf Chomeinis Morddrohung gegen den Schriftsteller Rushdie beschlossen, war letztlich nur möglich, weil die beamteten Bedenkenträger diesmal ausgeschaltet waren.

Außenminister Hans-Dietrich Genscher und sein französischer Kollege Roland Dumas hatten ohne weitere Vorankündigung in der Ratssitzung für die vergleichsweise harte Reaktion plädiert. »Politische Durchbrüche«, so die Erfahrung des Ex-Kommissars Karl-Heinz Narjes nach acht Dienstjahren, »sind nur möglich, wenn die Politiker auch ihre Verantwortung übernehmen und die Gestaltung Europas nicht ihren Beamten überlassen.«

So kommt Bewegung in die europäische Umweltpolitik erst, seit die britische Premierministerin Maggie Thatcher eine Art grünes Bewußtsein entdeckte und das Thema auch unter den Konservativen hoffähig machte.

Im Umweltrat der Gemeinschaft verschärften die Minister sogar eine Beschlußvorlage der Beamten und einigten sich etwa auf das völlige Verbot ozonkillender Fluorchlorkohlenwasserstoffe bis zum Jahr 2000.

Sonst aber bescheiden sich die Ratsminister mit der Rolle des »Sprachrohrs für ein bürokratisches Establishment« (Narjes). Der jeweilige Entwurf für die zu erlassende EG-Richtlinie oder -Verordnung ist meist so kompliziert, die Interessenlage der elf anderen Mitgliedstaaten am Ratstisch für den womöglich erst am Vormittag angereisten Minister so undurchschaubar, daß er sich lieber an seine Amtsvorlagen klammert.

Für noch so faule Kompromisse muß er sich daheim auch nicht weiter verantworten. Denn niemand erfährt, ob ein Bonner Minister tatsächlich wie ein Löwe für strengere Richtlinien gekämpft oder sich schlicht den sogenannten Sachzwängen und damit der Aktenvorlage seiner beamteten Alleswisser unterworfen hat.

Die Protokolle der Ratssitzung sind so »geheim«, daß noch nicht einmal die Abgeordneten des Europaparlaments sie zu lesen bekommen. »Wie sollen bei diesem Verfahren«, fragt der Sozialdemokrat Thomas von der Vring, »die Entscheidungen überhaupt kontrolliert werden?«

In Brüssel herrschen, krittelt auch der Bonner Oppositionsführer Hans-Jochen Vogel, »vordemokratische Zustände«. Wenn Europas Bürger im Juni wählen, dann entscheiden sie nur über die Zusammensetzung des relativ machtlosen Straßburger Parlaments, nicht aber über die Politik der Gemeinschaft. Die wird in der Kommission, der EG-Verwaltung, entworfen, die in Bonn wie in Paris jahrzehntelang als Hort außergewöhnlicher Ineffizienz galt.

Es war der Franzose Jacques Delors, für Kanzler Kohl »ein Europäer mit ungeheurem Hintergrund, ein Mann mit Visionen und Engagement«, der die lähmende Eurosklerose beendete. Indem er seinen Beamten ein neues Sendungs- und Selbstbewußtsein vermittelte, festigte er freilich auch die ohnehin schon allumfassende Herrschaft der Bürokratie.

Er brachte die hoch frustrierten, hochbezahlten Bürokraten in der Kommission in Schwung und beendete abrupt den Schlendrian der EG-Behörde. Er preßte die Landwirtschaftsminister zu kräftigen Einschnitten bei den Preis- und Abnahmegarantien für die Agrarprodukte. Und er überredete die Regierungschefs der zwölf Mitgliedstaaten zu einem neuen Finanzierungskonzept der Gemeinschaft, um den ewig defizitären Haushalt zu sanieren.

Sein größtes Verdienst aber war es, der Wirtschaftsgemeinschaft wieder den Sinn für politisches Geschäft gegeben zu haben, das schon ihre Gründungsväter 1955 inspiriert hatte: die Vision von einem nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch zusammengehörenden Europa ohne innere Grenzen. Den Abbau der Zollschranken, den ungehinderten Verkehr von Waren, Personen und Kapital erhob er zu einer »Überlebensfrage der europäischen Wirtschaft«. Und er schaffte sich damit mächtige Verbündete. Denn die Industrie kann in dem künftigen Spiel ohne Grenzen nur gewinnen.

Nicht ein von den Bürgern gewählter Politiker, sondern der entsandte Spitzenbeamte einer Behörde wurde so »Mr. Europe« ("Time"), der ungekrönte »Zar von Brüssel« ("Newsweek"). Der Amtsvorsteher Delors, Technokrat und politischer Moralist, überzeugter Linkskatholik und Gewerkschafter, der sich ursprünglich nicht in den »goldenen Käfig« von Brüssel hatte sperren lassen wollen, prägt das Bild der Europäischen Gemeinschaft nachhaltiger als Politiker vom Format einer Maggie Thatcher oder eines Francois Mitterrand.

Nicht mal das magische Datum 1992 ist das Ergebnis einer politischen Diskussion unter den Regierungschefs im Rat. Die haben dem Termin für die Vollendung des Binnenmarkts nur zugestimmt. Fixiert hat ihn Delors: Das Datum bezeichnet das Ende seiner beiden jeweils vierjährigen Amtsperioden.

Wie keiner seiner Vorgänger nutzte der Franzose das in den Römischen Verträgen von 1957 verbürgte Vorschlagsrecht der Kommission. Woche für Woche produziert die Behörde neue Entwürfe für Richtlinien und Verordnungen, um die Handelshemmnisse und Grenzhindernisse abzubauen.

Für Delors' Beamte wurde das »Weißbuch zum Binnenmarkt« eine Art Erweckungsschrift, die Harmonisierung und Vereinheitlichung von Normen und Standards sowie der Abbau von Handelshemmnissen zum übergeordneten Gebot. 240 Vorschläge hat die EG-Verwaltung bisher dem Ministerrat präsentiert, etwa 40 stehen noch aus.

Eurokraten aus den zwölf Staaten entwerfen in Brüssel diese Richtlinien und Verordnungen, ohne dabei - wie ihre Kollegen in den nationalen Ministerien - an Koalitionsvereinbarungen, Parteitagsbeschlüsse oder Regierungsprogramme gebunden zu sein. Einziger politischer Konsens: bis Ende 1992 den Markt ohne Grenzen zu verwirklichen.

Dabei rütteln sie mit ihren Initiativen zur Liberalisierung des Energie- und Telekommunikationssektors an staatlichen Monopolen, entfachen mit ihrem Vorschlag zum kommunalen Wahlrecht für EG-Bürger scharfe innenpolitische Kontroversen und rühren an die verfassungsmäßig garantierten Grundsätze des deutschen Berufsbeamtentums, weil im europäischen Binnenmarkt dann ein Italiener in Deutschland Briefe austragen und ein Engländer an einem deutschen Gymnasium Studienrat sein darf.

Der zur neuen europäischen Glaubenslehre erhobene Binnenmarkt duldet keinen Widerspruch durch nationale Schutzvorschriften:

die Smogverordnung in einigen Bundesländern, die bei dicker Luft in den Städten nur geregelten Kat-Autos das Fahren erlaubt - ein Handelshemmnis;

die Prämien der niederländischen Regierung für abgasarme Pkw - ein Handelshemmnis;

das Verbot in der Bundesrepublik, Lebensmittel durch Bestrahlung zu konservieren - ein Handelshemmnis auch das.

Auffällig halten sich die Kommissionsbeamten, die ihren Regelungseifer sonst kaum zu zügeln vermögen, mit umweltpolitischen Vorschlägen und Initiativen zurück.

Denn der europäische Korpsgeist, der die Internationale der Brüsseler Bürokraten eint, ist nicht gerade von sozialem oder gar ökologischem Engagement geprägt. Die Reaktion der Deutschen auf das Waldsterben und auf die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl werden in der Kaste der Eurokraten als »hysterisch«, die Befürchtungen der Gewerkschaften um ihre sozialen Errungenschaften in einem einheitlichen Binnenmarkt von den mit fetten Gehältern Verwöhnten als »überzogen« abgetan.

Schließlich geschieht es nur sehr selten, daß sich die von den Brüsseler Maßnahmen Betroffenen ins Blickfeld der Beamten drängen, zuletzt vor gut zwei Jahren, als 3000 wütende Textilarbeiter aus Spanien, Frankreich, Belgien und der Bundesrepublik den EG-Palast Berlaymont umzingelten. Wegen eines neuen internationalen Textilabkommens mußten sie um ihre Arbeitsplätze bangen. Peinlich berührt blickten die Eurokraten aus ihren klimatisierten Büros auf die frierenden und fahnenschwenkenden Demonstranten.

Europäische Beamte sind nicht nur die höchstbezahlten überhaupt - das Bruttogehalt eines Generaldirektors beträgt 24 000 Mark im Monat -, sie sind auch weltläufig. Sie reisen in die Hauptstädte der Gemeinschaftsstaaten, um mit den Kollegen in den Regierungszentralen zu verhandeln. Sie sprechen Französisch und Englisch oft fließend, aber sind schockiert, wenn sie einmal Betriebsräte und Gewerkschafter Tacheles reden hören.

Es gibt Bürokraten, die in der Kommission über Arbeitszeit und die Folgen der neuen Technologien arbeiten, aber noch nie einen Betrieb von innen gesehen haben. Wer sich nicht selbst um Kontakt zur Welt jenseits der administrativen Kälte des Berlaymont bemüht, dem bleibt sie auch erspart.

Wenn Bonn schon oft als eine vom Volk abgehobene »Raumstation« gilt, dann ist Brüssel noch ein paar Lichtjahre näher an der Milchstraße. Der ehemalige EG-Generaldirektor Franz Froschmaier, seit einem Jahr Wirtschaftsminister in Kiel, mußte sich dort erst daran gewöhnen, »daß ich bei jeder Entscheidung gleich die Bürger, Betriebsräte, Unternehmer oder Parteileute im Büro habe«.

Demokratie ist unbequem. Nicht nur im Ministerrat, auch in der Kommission hält man sich das Volk und seine gewählten Vertreter energisch vom Schreibtisch. »Die lassen sich nicht gern in ihre Karten sehen«, beobachtete die Europa-Abgeordnete Heinke Salisch, »und machen lieber auf Beamtenebene ihren Deal mit den Mitgliedstaaten.«

Wie sollte es anders sein? Immer mehr Zuständigkeiten sind inzwischen an die Gemeinschaft - und das heißt an die Kommission - übergegangen, ganze Politikbereiche haben sich nach Brüssel verlagert.

Daß die Agrarpolitik in Brüssel bestimmt wird, daran hat man sich in den Hauptstädten leidlich gewöhnt. Daß aber über Lebensmittel- und Beamtenrecht, über Autobahngebühren und staatliche Beihilfen nicht mehr Paris oder Bonn allein entscheiden, verdrängen die Politiker oft. Es wäre womöglich das Eingeständnis ihrer eigenen Machtlosigkeit gegenüber der Dynamik eines Prozesses, den sie weder in Gang gesetzt haben noch unter Kontrolle halten.

Die gesamte Außenhandelspolitik wird heute von der EG-Zentrale aus dirigiert. Wenn beispielsweise der deutsche Wirtschaftsminister mit 34 Beamten nach Montreal zur Gatt-Tagung reist, dann hat er im Sitzungssaal nichts zu suchen. Dort nämlich verhandelt der für die Außenbeziehungen zuständige EG-Kommissar mit Japanern und Amerikanern um Importquoten und Tarife - an der Spitze einer 31köpfigen Delegation.

Die Eurokraten wehren sich angesichts dieser Aufgaben gegen den Vorwurf, in Brüssel wuchere ein »bürokratischer Wasserkopf«, so etwa FDP-Chef Otto Graf Lambsdorff. Sie verweisen darauf, daß nicht etwa nationale Experten, sondern Beamte der EG-Kommission unfaire Preispraktiken von Importeuren untersuchen und verfolgen. Für die jährlich rund 80 Anti-Dumping-Verfahren gegen japanische Photokopierer oder koreanische Videobänder sind 50 Eurokraten zuständig. Das amerikanische Handelsministerium beschäftigt für dieselbe Aufgabe 350 Mitarbeiter.

Bürokratischer Wasserkopf? In der Kommission verwalten rund 900 Beamte die Landwirtschaftspolitik der Gemeinschaft und den Agrarfonds von 54 Milliarden Mark. Das Bonner Landwirtschaftsministerium, das seine meisten Kompetenzen schon verloren hat, beschäftigt rund 800 Mitarbeiter, beim Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft sitzen noch einmal 389, bei der Bundesanstalt für landwirtschaftliche Marktordnung 603. Und dazu kommen die Agrarressorts in den Bundesländern.

Es sei ein »Mythos, daß die Bürokratie in Brüssel gigantisch« sei, behauptet der englische Verwaltungschef der EG-Behörde, Richard Hay.

Die vier Beamten in der Kommission, die für das Oberflächen-, Trink- und Grundwasser in den zwölf Mitgliedstaaten Richtlinien entwerfen und die Anwendung der EG-Gesetze überprüfen sollen, müssen sich weitgehend auf Informationen und Analysen nationaler Experten verlassen. Doch wie verläßlich und objektiv sind diese? Heerscharen von »Consultants« - Berater und Experten auf Honorarbasis - verfassen für die Beamten Berichte über die Gleichstellungs- oder Tarifpolitik, fertigen Studien über die Verschmutzung der Ostsee oder die Gülleproblematik in der Intensiv-Tierhaltung an.

Sie prüfen etwa vor Ort, ob die europäischen Stahlproduzenten auch tatsächlich die vorgeschriebenen Quoten einhalten. Dieses Netz professioneller Berater entscheidet über den Kenntnisstand vieler Beamter, die kaum Möglichkeiten haben, die ihnen gelieferten Daten und Analysen selbst zu überprüfen.

Unentgeltlich und jederzeit dient die Industrie den Kommissionsbeamten mit vollständig ausgearbeiteten Vorschlägen für Entwicklungshilfe- oder Forschungsprojekte oder gar mit vorformulierten Richtlinien-Entwürfen.

Seit Monaten überhäuft beispielsweise die »Europäische Föderation für Tiergesundheit«, ein Lobbyverbund amerikanischer und europäischer Chemiegiganten, die zuständigen Bürokraten mit immer neuen Erkenntnissen über die angebliche Unschädlichkeit und die Nützlichkeit des Wachstumshormons Bovines Somatotropin.

Denn die Kommission soll demnächst vorentscheiden, ob der gentechnologisch erzeugte Wirkstoff, der die Milchproduktion bei Kühen um 20 Prozent steigert, auch in der EG zugelassen werden darf. Es geht um ein Zigmillionengeschäft.

Zwar seien die Eurokraten, diagnostizierte das »Wall Street Journal«, Lobbyisten gegenüber grundsätzlich zurückhaltender als ihre Kollegen in Washington, was allerdings nicht heißen solle, daß die Brüsseler Beamten »nicht auch Champagner und Kaviar mögen«. Sich intensiv um sie zu kümmern lohne sich schon deshalb, weil einige Beamte in Schlüsselpositionen Entscheidungen auf Gebieten treffen, »wo die Gemeinschaft in absolutes Neuland startet«.

Die Repräsentanten der Zucker- oder Sojaproduzenten, der Textil- oder Telekommunikationsindustrie müssen in der Kommission keineswegs lange antichambrieren. Sie sind in den Entscheidungsprozeß der Bürokraten fest integriert.

Eine neue EG-Richtlinie, so der ehemalige britische EG-Diplomat Lord Murray, »schüttelt man nicht einfach aus dem Ärmel«. Da muß zunächst einmal die betroffene Industrie gehört werden.

Auch wenn es um neue Forschungsvorhaben geht, sitzt die interessierte Wirtschaft mit am Tisch. Im »Beratungsausschuß für industrielle Forschung und Entwicklung« formuliert sie gemeinsam mit den Kommissionsbeamten ihre eigenen Wünsche nach Forschungssubventionen. In der Abgeschiedenheit dieser Gremien, in denen unabhängige Wissenschaftler, Verbraucherorganisationen oder Gewerkschaftsvertreter nichts zu suchen haben, werden Programme mit den schönen Namen »Flair« oder »Eclair« ausgebrütet, die für viele Millionen Mark die »biotechnischen Möglichkeiten der Umwandlung landwirtschaftlicher Produkte in industrielle Rohstoffe« erforschen.

Dabei entspricht diese »Stimulierung einer leistungsfähigen agroindustriellen Entwicklung« so gar nicht den Beteuerungen der Agrarminister, die Überschüsse einzudämmen und den bäuerlichen Familienbetrieb zu retten.

»Lobbyismus«, so sieht es ein hoher EG-Beamter, »schafft einen Bezug zur Realität.« Aber zu welcher?

Arbeitnehmer- und Verbraucherinteressen sind im Reich der Brüsseler Beamten weitgehend ausgeblendet. 17 Mitarbeiter zählt das europäische Büro für Verbrauchervereinigungen BEUC, 30 der Europäische Gewerkschaftsbund in Brüssel, eine verschwindend geringe Zahl angesichts einer übermächtigen Wirtschaftslobby mit rund 1000 Büros und Außenstellen.

Einflußreiche Industriebosse nutzen zudem gern den direkten Draht zu ihrem nationalen Kommissar, dessen Kabinettschef dann einen Projektvorschlag mit dem Hinweis »Avis favorable« - »positive Stellungnahme erbeten« - nach unten weiterleitet.

Sachfremde Entscheidungen oder schlicht Schlendrian sind dabei unausweichlich. So dümpelt ausgerechnet die für Sozialpolitik zuständige Generaldirektion seit 15 Jahren unter immer demselben schläfrigen Generaldirektor, einem Belgier, vor sich hin. Ohne weitere Begründung wurde jetzt, da die Politiker lauthals die »soziale Dimension« des Binnenmarktes herausstellen, die Arbeit an der Erforschung der Arbeitsbedingungen in Europas Betrieben eingestellt. »In einigen Bereichen«, so ein Insider, »herrscht das Prinzip der absoluten Zufälligkeit.«

Wer sollte den Beamten auch auf die Finger sehen? Der Europäische Gewerkschaftsbund ist alles andere als eine schlagkräftige Truppe. Zu unterschiedlich sind die Interessen der christdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Mitgliederorganisationen. Die deutschen Gewerkschafter haben die politische Brisanz des Brüsseler Binnenmarktes zu spät erkannt. »Die müßten denen im Berlaymont längst die Bude einrennen«, meint die Sozialexpertin und sozialdemokratische EP-Abgeordnete Heinke Salisch.

Sie hat selbst erlebt, welchen Stellenwert sogar der zuständige Kommissar dem Thema beimißt. Als sie den damals für Sozialpolitik verantwortlichen Spanier Manuel MarIn aufsuchte, war dem gerade ein Knopf am Hemd abgerissen. So bat er die Genossin Parlamentarierin, den Knopf doch bitteschön wieder anzunähen. Da war das Gespräch zunächst beendet. Frau Salisch: »Ich dachte, ich spinne.«

Sich als Europaparlamentarier für die Interessen von Arbeitnehmern oder Verbrauchern zu engagieren, heißt praktisch chancenlos gegen die im Bürokratendickicht stets präsenten Industrievertreter anzutreten. Besonders von höherrangigen Bürokraten werden die Abgeordneten mit ihren eingeschränkten Kompetenzen nicht sonderlich ernstgenommen. Der Berliner Alternative Benny Härlin, in der Kommission gefürchteter Experte für Gentechnik: »Wir können allenfalls Unruhe schaffen unter den Beamten.«

Und das wird auch nach der dritten europäischen Direktwahl so sein - trotz wackerer Lippenbekenntnisse des Kanzlers Kohl, der dem Parlament mehr Befugnisse zugestehen möchte.

Wie auch immer das Wahlergebnis am 18. Juni ausfällt, ob Kohl stürzt oder einstweilen noch weiterwursteln darf, nichts wird sich ändern an den von den Beamten zementierten Fundamenten der Gemeinschaft, der Dominanz der Franzosen etwa, die von Anfang an die Schlüsselpositionen in der EG-Verwaltung okkupierten und Französisch als erste Amtssprache durchsetzten.

Das wirkte sich stilbildend nicht nur auf die hierarchische, schwerfällig sich selbst genügende Administration aus, sondern auch auf die Politik. Ein französischer Generaldirektor zog in der Kommission die Fäden für eine Landwirtschaftspolitik, die auf die Bedürfnisse der französischen Großbauern zugeschnitten war.

Seit jeher auch hatte die von Frankreich favorisierte Kernenergie Vorrang in der Behörde. Forschungsprojekte für alternative Energien wurden gekappt, strengere Sicherheitsvorschriften für Reaktoren scheiterten spätestens im Kabinett des französischen Kommissars. Jahrelang blockierten Renault und Peugeot im direkten Zugriff auf die Kommission und auf ihre Minister im Rat jeden Fortschritt bei der Reduktion der Autoabgase für Kleinwagen.

Anders als die Bundesregierung, die die Brüsseler Kommission seit jeher als Endlagerungsstätte für abgeschlaffte Politiker und zweifelhafte Bürokraten nutzte, legte die französische Regierung stets Wert darauf, möglichst qualifiziertes Personal in die EG-Zentrale zu entsenden. Schließlich gibt es in der europäischen Zentrale nationale Interessen zu verteidigen.

Auch die Briten betreiben eine gezielte Personalpolitik und besetzen mit Vorliebe einflußreiche Positionen in den Forschungsabteilungen, wo sich inzwischen Englisch als Amtssprache durchgesetzt hat.

Griechenland und Luxemburg lösten ihre schwachen Kommissare ab, schickten mit dem Karriere-Diplomaten Jean Dondelinger und der Industrieministerin Vasso Papandreou - so die Einschätzung in der Kommission - »erstklassige Profis«.

In Bonn hingegen kann es noch immer passieren, daß eine Beamtin, die sich für drei Jahre an die Kommission beurlauben lassen will, von ihrem Personalchef erstaunt gefragt wird: »Sie sind doch kein Sozialfall?«

Einen solchen hat der neue deutsche Kommissar Martin Bangemann in die EG-Zentrale mit eingeschleust, indem er den beruflich gescheiterten ehemaligen bayrischen FDP-Vorsitzenden Manfred Brunner zu seinem Kabinettschef erhob.

In den Sitzungen der einflußreichen Büroleiter, die alle Entscheidungen der Kommissare vorbereiten, hockt der Deutsche nur als stummer Gast. Er spricht kaum Englisch und noch weniger Französisch.

»Dick und Doof gehen nach Brüssel«, kommentierte der Bonner Freidemokrat Burkhard Hirsch den Abgang des gewichtigen Bangemann und seines Adlaten Brunner in die europäische Hauptstadt, »und das ist eine gute Nachricht.«

Fragt sich nur, für wen.

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