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Frankreich In der Falle

Springt der Untergrundkrieg in Algerien auf Frankreich über? Mit einem Präventivschlag versuchte Innenminister Pasqua, radikale Moslems auszuschalten.
aus DER SPIEGEL 46/1993

Das Aufgebot gegen die islamische Bedrohung war beeindruckend. Polizisten und Geheimdienstler stürmten im Morgengrauen des vergangenen Dienstags Unterkünfte radikaler Moslems in Paris und Marseille, in Toulouse, Lyon und Lille; 88 Verdächtige nahmen sie mit. In Gewahrsam behielten die Greifer des gaullistischen Innenministers Charles Pasqua am Schluß nur drei islamische Funktionäre von Rang.

Bei Dschaafar el-Hawwari, 37, und Mussa Kraouche, 34, der eine Präsident, der andere Sprecher der Algerischen Bruderschaft in Frankreich (FAF), wurde heißes Material sichergestellt: eine Londoner Fax-Nummer, über die unbekannte Täter im September die Ermordung von zwei französischen Vermessungstechnikern in Algerien gemeldet hatten; ferner die Kopie einer Ankündigung von Mordanschlägen gegen Ausländer in Algerien.

Beim dritten FAF-Aktivisten, Abd El-Hakk Budschadar, 32, fanden die Beamten Bastelmaterial für die Herstellung von Sprengkörpern.

Pasqua, unerbittlicher Streiter für Recht und Ordnung, wollte die Fundis daheim einschüchtern; jetzt hat er sich mit radikalen Kräften im Ausland angelegt: Die FAF ist die französische Filiale der algerischen Islamischen Heilsfront (FIS). Sie liefert Algeriens Regierung und Armee einen Untergrundkrieg, in dem seit Februar 1992 schon über 3000 Menschen umkamen.

Neuerdings richtet sich der Terror auch gegen Ausländer, vor allem Franzosen. Nun ist eingetreten, was Paris seit dem Aufkommen des FIS befürchtete: Die Ausläufer des bürgerkriegsähnlichen Machtkampfes im größten Maghreb-Staat haben Frankreich erreicht.

Was immer in Algerien passierte, stets war es auch ein Stück französischer Innenpolitik. Frankreich betrachtete das 1830 eroberte, 1842 annektierte Algerien nicht als Kolonie, es galt als Teil des Mutterlandes. Für die Araber und Berber waren die Siedler hingegen »ausbeuterische Kolonialisten«, so der Historiker Pierre Miquel.

Frankreich wurde durch den algerischen Unabhängigkeitskrieg (1954 bis 1962) an den Rand des Abgrunds gerissen. Seine Soldaten folterten, Generäle putschten gegen den Präsidenten Charles de Gaulle. Eine Million Algerienfranzosen ("pieds noirs"), die nach verlorenem Kampf zum Exodus gezwungen wurden, sehen sich noch heute als Heimatvertriebene.

Mit diesem historischen Trauma im Nacken leben heute über 700 000 eingewanderte und über eine Million in Frankreich geborene Algerier ("Beurs") beim ehemaligen Okkupanten. Sie bilden die größte Gruppe von vier Millionen Moslems in der Republik. Es gibt kaum eine Familie in Algerien, die nicht Verwandte und Freunde in Frankreich hat.

Schon vor der Ermordung des Präsidenten Mohammed Boudiaf wurde im Februar 1992 über Algerien der Ausnahmezustand verhängt. Formal regiert ein fünfköpfiger Staatsrat mit Ali Kafi an der Spitze, doch der eigentliche Herrscher ist das Militär. Immer schwerer erschüttern die Terrorakte der Fundamentalisten das schwächliche, vom Volk als unfähig und korrupt angesehene Regime.

»Der Status quo in Algerien ist unhaltbar«, erkannte in Paris der gaullistische Außenminister Alain Juppe. Aber was tun? Frankreich sitze »in der Falle«, konstatierte die Zeitschrift L'Express.

Denn insgeheim wünscht sich Paris einen Erfolg der algerischen Machthaber in deren Überlebenskampf gegen die Radikalen - ohne die menschenrechtsverachtenden Methoden des Regimes billigen zu können.

Schwarz maskierte Elitepolizisten, »Ninjas« genannt, verhaften und foltern, wen immer sie für verdächtig halten. An einem einzigen Tag verhängte Algeriens Oberstes Gericht 34 Todesurteile.

Die FIS und andere religiöse Splittergruppen knallen ihrerseits Soldaten, Polizisten und Vertreter des Staates ab. Sie bringen liberale Journalisten und angeblich prowestliche Intellektuelle um. Um Ausländer zu vertreiben, töteten Fanatiker in den vergangenen Wochen sieben Nicht-Algerier, darunter zwei Franzosen.

Der Terror zeigt Wirkung - einige tausend der insgesamt 76 000 in Algerien lebenden Franzosen haben das Land verlassen. Ein neuer Exodus steht bevor.

Immer stärker treffen die algerischen Schockwellen Frankreich. Zwar scheint dort die Mehrheit vor allem der jüngeren Algerier wenig anfällig für fundamentalistische Parolen; aber im Umfeld von fast 900 Moslem-Vereinigungen sowie 1273 Moscheen und Kultstätten - 1970 waren es erst 33 - wächst ein »politisierter Islam« (so das Pariser Innenministerium) heran.

Vorigen Mittwoch schob Paris über Nacht einen türkischen Korangelehrten in Richtung Heimat ab. Der Mann hatte geheiligte republikanische Prinzipien mit der Bemerkung verletzt: »Allahs Gesetz geht vor französischem Recht.« Damit wollte er Partei ergreifen für vier moslemische Schülerinnen, die in Nantua den Unterricht verschleiert verfolgten und deswegen vorübergehend suspendiert wurden. Demonstrativ getragene religiöse Symbole wie der Schleier verstoßen gegen die verfassungsrechtlich verankerte Trennung von Kirche und Staat in der Schule.

Jetzt trieben vor allem zwei Gründe die Regierung des Gaullistenpremiers Edouard Balladur dazu, dem bedrängten Regime in Algier entschiedener beizuspringen. Ein islamischer Gottesstaat in Algerien wäre zwangsläufig antifranzösisch, wie Le Monde schrieb: »Der FIS bedeutet eine Gefahr für Frankreich, das amtierende Regime nicht.«

Außerdem würde die Machtübernahme der Radikalen einen gewaltigen Flüchtlingsstrom auslösen. Schon sehen Pariser Zeitungen Geschwader algerischer »boat people« auf die Cote d'Azur zuschippern. Im Fernsehen stimmte Außenminister Juppe das Volk auf die neue Lage ein: Frankreich dürfe »keine Nachschubbasis für Terrorismus« werden.

Den Anlaß, gegen die FIS-Getreuen in Frankreich vorzugehen, lieferten die Fundamentalisten in Algerien dem knallharten Pasqua mit einem provozierenden Anschlag. Am 24. Oktober hatten sie drei Angestellte des französischen Konsulats in Algier entführt. Die Gekidnappten, zwei Männer und eine Frau, waren eine Woche später wieder frei, aber für die Franzosen bedeutete die Attacke auf das Botschaftspersonal einen Angriff auf die Republik.

Die letzte der drei Befreiten, Michele Thevenot, brachte eine alarmierende Botschaft mit heim. »Ausländer, verlaßt das Land«, stand auf einen Zettel gekritzelt - dessen Kopie jetzt bei der Razzia in Frankreich gefunden wurde. Wer nicht gehe, sei »selbst für seinen plötzlichen Tod verantwortlich«.

Mit dem Schlag gegen die Islamisten hat sich Frankreich offen in den Bruderkrieg eingemischt. Frankreich müsse die »algerischen Realitäten« anerkennen, forderte der in Chicago residierende FIS-Führer Anwar Chaddam. »Ich warne die Völker Frankreichs und Europas - Algerien lebt im Kriegszustand.« Y

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