BRÜSSEL In der Falle
Als die amerikanische Sheraton-Hotelkette sich Ende der sechziger Jahre auf dem europäischen Festland etablierte, war der ideale Standort für die Verwaltungszentrale rasch gefunden: Brüssel, weil es so billig war.
Doch der Standortvorteil war bald dahin: Brüssel entwickelte sich innerhalb weniger Jahre zu einer der kostspieligsten Städte der Welt.
So sind auch die meisten der 150 Sheraton-Leute längst wieder umgezogen -- in die neue Zentrale in London. Nur ein knappes Dutzend blieb in Belgien zurück.
»Brüssel wurde uns zu teuer«, klagt Sheraton-Direktor Sigi Bergmann. Gehälter und Sozialkosten lägen weit über denen in Frankfurt oder London. Das Wohnungsangebot in Britanniens Hauptstadt sei vielfältiger -- Häuser und Wohnungen vor allem aber billiger.
So wie Sheraton -- eine Tochter des US-Multis International Telephone and Telegraph (ITT) -- haben inzwischen viele amerikanische Gesellschaften Belgien und seine Hauptstadt verlassen. US-Konzerne führten einst die Invasion ausländischer Firmen an, heute marschieren sie auch beim Rückzug vorneweg.
Mehr als fünfhundert US-Niederlassungen in Belgien sind während der vergangenen Jahre dichtgemacht worden. Weltbekannte Namen sind darunter: RCA, General Electric und Chevron Oil sowie neben Sheraton International auch die Hotelgesellschaft Holiday Inns.
In den sechziger und siebziger Jahren kamen zwei Drittel des ausländischen Kapitals, das in das kleine Königreich floß, von jenseits des Atlantiks. Im vergangenen Jahr machte der amerikanische Anteil kaum noch ein Drittel aus. Ganze 260 Arbeitsplätze gingen im Jahr 1979 auf US-Investitionen zurück, im letzten Jahr schrumpfte die Zahl noch weiter; dagegen waren es fünf Jahre zuvor noch 2100.
Viele Amerikaner hatten die Rolle der belgischen Hauptstadt falsch eingeschätzt. Sie hatten offenbar geglaubt, mit dem weiteren Ausbau der Europäischen Gemeinschaft werde sich Brüssel zum Machtzentrum Westeuropas mausern, zu einem europäischen Washington.
Gewiß: Botschafter, Bonzen und Bürokraten gibt's in Brüssel reichlich; 158 Botschaften mit Tausenden von Diplomaten sind akkreditiert -- beim König, bei der Nato, bei der Europäischen Gemeinschaft. Etwa 800 internationale Gesellschaften, Organisationen und Banken haben sich in der Stadt niedergelassen. Dazu kommen etwa 10 000 hochbezahlte und auch sonst mit Steuer- und anderen Privilegien reichlich versehene EG-Bürokraten.
Aber die Schaltstellen der Macht liegen auch im Europa der Zehnergemeinschaft noch immer in den nationalen Hauptstädten. Dort wird entschieden, was dann im EG-Ministerrat zu verabschieden und von den Bürokraten zu exekutieren ist.
Den natürlichen Standortvorteil des Königreichs an der Nordsee, nur 45 Flugminuten von London und Paris entfernt, haben die Belgier zum Teil selbst verspielt. Das Land hat heute die höchsten Lohnkosten der Welt, die niedrigsten Durchschnittsarbeitszeiten in der Industrie und mit die höchsten Kreditzinsen der gesamten Europäischen Gemeinschaft.
So hatten viele amerikanische Manager, auf ein günstiges Kosten/Nutzen-Verhältnis getrimmt, zunächst die Produktion S.138 in Belgien gedrosselt. Sie konzentrierten sich in ihren Tochtergesellschaften mehr auf Verwaltung und Marketing.
Doch auch ihre Brüsseler Verwaltungszentralen werden den Amerikanern zu teuer. Zinszuschüsse und Steuervorteile, mit denen die Ausländer viele Jahre lang ins Land gelockt wurden, gibt es jetzt nur noch für Investitionen in Notstandsgebieten, die freilich selbst von den heimischen Firmen gemieden werden. Nun nimmt der nahezu bankrotte belgische Staat mehr als er gibt.
Auf den Normalsatz der Körperschaftssteuer in Höhe von 48 Prozent schlugen die Belgier zusätzlich 4,8 Prozent als »zeitweilige Solidaritätsabgabe« auf. Dann kamen noch einmal vier Prozent Sondersteuer dazu -- macht eine Gesamtbelastung von 56,8 Prozent.
Das Brüsseler Finanzministerium erwog auch, die bislang nur mit 50 Prozent ihres Einkommens steuerpflichtigen leitenden ausländischen Angestellten künftig voll zu besteuern. Doch als mehrere Firmen drohten, sich dann aus dem Land zurückzuziehen, wurde der Plan von der belgischen Regierung zunächst zurückgestellt.
Trotzdem kommen die meisten amerikanischen Manager -- mit Kaufkraftausgleich und Überseezulagen -- ihrer Firma in Brüssel schon heute teuer zu stehen. Ein Manager, der in den Vereinigten Staaten jährlich ein Gehalt von etwa 80 000 Dollar bezieht, kostet in Belgien gut und gerne eine Viertelmillion.
Mit einheimischen Arbeitskräften allerdings kämen die in Belgien ansässigen US-Firmen kaum besser davon. US-Bürger können heimgerufen oder versetzt werden, belgisches Personal muß im Ernstfall entlassen werden -- und das kann ins Geld gehen.
Das belgische Arbeitsrecht sieht lange Kündigungsfristen vor und geht von dem Grundsatz aus, daß mit wachsendem Einkommen die Chance abnimmt, wieder einen adäquaten Job zu finden. Höherverdienende Angestellte erhalten also längere Schutzfristen zugebilligt als die Empfänger von Minimallöhnen. Amerikanische Manager, an hemdsärmelige Hire-and-Fire-Praktiken daheim gewöhnt, haben lernen müssen, daß es in Belgien bis zu drei Jahresgehälter Abfindung kosten kann, einen Angestellten zu feuern.
Vor Jahren war eine deutsche Kaufhauskette drauf und dran, ein renommiertes belgisches Unternehmen zu erwerben. Alles war bereits klar: Wie das neue Haus eingerichtet werden sollte, wie die Gewinnspanne verbessert werden könnte -- und wie das Personal der Firma um ein Drittel zu reduzieren sei.
Erst im letzten Augenblick, so erinnert sich ein Brüsseler Insider, hörten S.139 die Deutschen von den Abfindungs-Usancen des Landes. »Da ließen sie das Projekt fallen wie eine heiße Kartoffel.«
Viele amerikanische Gesellschaften haben die entscheidende Erkenntnis freilich zu spät gewonnen. Die Erkenntnis nämlich, daß ausländische Firmen in Belgien, wie ein deutscher Unternehmensberater weiß, »arbeitsrechtlich alle in der Falle sitzen«.