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»In der Freiheit verloren«

Von Jürgen Leinemann
aus DER SPIEGEL 39/1991

Also, wenn sie Ostdeutsche wäre, herrscht die alte Dame den Gast aus dem Osten an, dann wäre sie jetzt empört: Haben die denn nicht eine Revolution gemacht? Sind sie etwa nicht für die Freiheit auf die Straße gegangen?

Nein, sagt der Redner geduldig, und ja. 5 bis 8 Prozent der DDR-Bürger hätten sich am Ende aufgelehnt. Aber 99 Prozent hätten zuvor bei Wahlen regelmäßig zugestimmt, 40 Jahre lang.

Und provozierend fügt er hinzu: »Hätte die Stasi Bedarf gehabt an so vielen Mitarbeitern, sie hätte 98 Prozent der DDR-Bevölkerung gewinnen können.«

Hat man das gehört? Das ist ja wohl die Höhe. Unverschämt. Empörend.

Das Protestgemurmel im Bürgersaal von Altwiesloch bei Heidelberg schwillt bedrohlich an. Hans-Joachim Maaz, 48, Psychotherapeut aus Halle, der sich mit inzwischen drei Büchern über die psychosozialen Aspekte der deutschen Vereinigung einen Namen gemacht hat, ist zum Buhmann der 50 badischen Honoratioren geworden, die ihn am Mittwoch vergangener Woche auf Einladung der Konrad-Adenauer-Stiftung als Experten hören wollten. Statt dessen provoziert er sie von der ersten Minute an.

Die alte Dame besonders. Mit einem herrischen Habitus, den sie aus der wilhelminischen Zeit ungebrochen über die Nazi-Jahre bis ins vereinte Deutschland hat durchhalten können, unternimmt es die 80jährige Frau, die Sozialpsychologin Wanda von Baeyer, mithin eine Fachkollegin, den unverfrorenen Gast von drüben zurechtzuweisen: »Wir verstehen die Ostdeutschen, weil sie so sind wie wir während des Dritten Reiches.«

»Eben«, murmelt Maaz.

Mit traurigem Vergnügen registriert er, daß seine These, nicht nur in der DDR seien in den letzten 40 Jahren weiter Untertanen produziert worden, sondern auch in der BRD gebe es reichlich autoritäre Strukturen, mit deren Hilfe Abweichler »auf Linie« gebracht werden, konkret Gestalt annimmt. Vom Befremden hat sich der Unmut über lautes Murren bis zur Feindseligkeit gesteigert. »Ein bißchen mehr guten Willen bitte, ja.«

Hans-Joachim Maaz hat Zoff gewollt. Der engagierte und risikofreudige Mann ist es leid, sich von handverlesenen Gästen, die an den Führungsstammtischen der satten Westprovinzen den Ton angeben, als Fachmann für Ossi-Meisen bestaunen oder gar belächeln zu lassen.

Zwei Tage lang wurden seine Ausfälle gegen den »konsumterroristischen Druck« im Westen eher nachsichtig belächelt denn als ernsthafte Herausforderung aufgegriffen. Der Osten ist weit in Konstanz und Bad Säckingen. Dies ist, spottet ein Lokaljournalist, das westliche »Tal der Ahnungslosen«.

Gewiß, daß die Vereinigung »unglücklich« oder gar »unmenschlich« verläuft - darüber läßt sich im Prinzip reden. Auch darüber, daß die »Fehlhaltungen« nicht allein im Osten liegen.

Aber richtig streiten? Und das auch noch von gleich zu gleich? Sich zusammenraufen, um einen »dritten Weg« zu finden? Das werde ja wohl »ein eher einseitiges Zusammenraufen« sein, gibt ihm in Wiesloch herablassend einer jener geschniegelten »Krawattenmenschen« zu verstehen, die Maaz ohnehin mißtrauisch machen. Prompt sagt der dann auch, es könne im Ernst doch wohl nur darum gehen, »daß die Menschen im Osten sich an uns gewöhnen«.

Hans-Joachim Maaz fällt das schwer. Er macht kein Hehl daraus, wie sehr er leidet unter seinem »Identitätsbruch« seit der Wende. Offen erzählt er von seinen Verunsicherungen durch ein Leben in zwei Welten, in denen er nicht zu Hause ist. Das macht ihn gereizt und verletzbar.

Gerade ist er zurück von einem Urlaub in Portugal, schon bereitet er eine Reise in die USA vor. Sein Buch »Der Gefühlsstau«, in dem er sich freigeschrieben hat von der Bevormundung »durch Dummköpfe und Gesinnungslumpen«, hat ihn in eine »hypomanische Vielgeschäftigkeit« getrieben.

Daß er seine plötzliche Berühmtheit genießt, verheimlicht er nicht. Sie habe seinem »Geltungsbedürfnis Pfauenfedern aufgesteckt«. Und wie in einem Rausch hat er die neue Reisefreiheit ausgekostet - Zugspitze, Eiffelturm, London-Tower, Venedig. »Eine Lawine ist über mich hereingebrochen«, sagt er in Bad Säckingen.

Jetzt, urlaubsgebräunt und fasziniert vom Süden, wirkt er schon wieder müde. »Ich bin in der Freiheit und habe meine Mitte verloren.«

Darüber möchte »der gelernte DDR-Bürger« Maaz mit seinen Zuhörern aus dem Westen reden. Er möchte ihre Erfahrungen hören. Wie sie die ständige Anmache durch den Konsum aushalten? Ob ihnen das Fassadenleben gestattet, seelische Stabilität zu bewahren? Wie es um ihre innere Freiheit bestellt ist?

Maaz ist fest davon überzeugt, daß die Wessis nicht weniger verbogen sind als die Ossis. Sie haben lediglich die expansive und aggressive Kehrseite des depressiven Ossi-Systems der Verdrängung gelernt. Sehen sie denn kein Bedürfnis nach Austausch?

Weil ihm die erhoffte Unterstützung auf seine Fragen verweigert wird, versucht es der Gruppendynamiker in Wiesloch anders. Er provoziert. Er übertreibt. Er kleidet seine Fragen in herausfordernde Thesen, formuliert scharf und wenig versöhnlich. Er löst damit den westlichen »Gefühlsstau« so heftig auf, daß er am Ende nicht weiß, »ob ich in einem Panoptikum bin oder in der Wirklichkeit«.

Die Wirkung macht ihm sichtlich zu schaffen. Amüsiert sei er gewesen, bekennt er hinterher, und geängstigt, zornig und zufrieden. Denn er provoziert nicht aus einer persönlichen Laune heraus, sondern sieht sich auf einer politischen »Mission«.

Immer hat Hans-Joachim Maaz seinen Therapeuten-Beruf politisch verstanden. Ein SED-resistentes Elternhaus hat ihm die Sinne und das Rückgrat gestärkt gegen die Karriere-Versuchung durch Anpassung. Sich eine Chefarztstelle durch SED-Beitritt zu erkaufen schien dem ehrgeizigen Mann undenkbar. Bei der Evangelischen Diakonie in Halle betrieb er unter dem Schutzmantel der Kirche nicht Anpassungstherapie, sondern versuchte die Menschen selbstverantwortlicher und widerstandsfähiger zu machen. »Viele Ex-Patienten sind dann in den Bürgerbewegungen aktiv gewesen«, sagt er.

Nach der Wende empfand er alles als untauglich, was bis dahin sein Leben bestimmt hatte. Sollte er selbst in die Politik gehen? Eine Weile versuchte Maaz, beim Neuen Forum mitzuarbeiten, aber die Rivalität dort mißfiel ihm: Politiker seien eher Verkörperungen der psychischen Defekte der Mehrheitsströmungen als ihr Korrektiv.

Weil er aber nach wie vor »ein bißchen populistisch« denkt, hat er sich aufs Bücherschreiben verlegt - in einfacher Sprache und zu annehmbaren Preisen. Der Medienrummel stößt ihn jetzt ins politische Leben.

Mit grimmigem Vergnügen macht er sich in Wiesloch daran, das selbstgerechte Überlegenheitsgefühl der Wessis zu erschüttern, indem er ein Gemetzel unter ihren heiligen Kühen veranstaltet.

Seine Hauptbotschaft heißt: Ihr seid auch nicht besser als wir. Die kriegt er schon mit seinem ersten Satz über die Rampe: »Die letzte Gemeinsamkeit, die wir hatten, war ja noch bei den Nazis.«

Protestgemurmel kommt auf, als er argwöhnt, »die sogenannte freiheitliche Demokratie hier im Westen« habe, wie die Berufsverbote gezeigt hätten, ja auch ihre Methoden, Abweichler einzuschüchtern und auszugrenzen.

»Oho«, tönt es wütend. »Woher wissen Sie das denn?« Schon nach fünf Minuten ist die Stimmung offen feindselig.

Den Redner scheint das zu beflügeln. Ob sie etwa glaubten, die »sogenannte soziale Marktwirtschaft« sei dem Armutsdruck aus dem Osten und Süden gewachsen? Er nicht.

Ob sie nicht überhaupt einer Illusion aufgesessen seien in den letzten 40 Jahren? Im Osten greife der »Fetisch der Befriedigung durch Wohlstand« nicht. Ob denn ihre äußere Freiheit in Wahrheit nicht nur »Zerstreuung« sei? Erkauft durch »übermäßigen Leistungsdruck«, Rivalität und aggressiven Konkurrenzkampf?

Hoho. Haha. Unter den nostalgischen Leuchten des postmodern aufgeputzten Bürgersaals einer ehemaligen Kapelle aus dem 16. Jahrhundert ballt sich die Wut der Wessis zu grummelnder Brisanz.

Scheinbar unbeirrt kommt der Redner zu seiner Schlußfolgerung: »Wenn wir uns zusammenraufen wollen, setzt das voraus, daß auch die alte Bundesrepublik Veränderungen akzeptiert.« Maaz blickt spöttisch auf: Groß, das sehe er ja auch hier, sei die Bereitschaft dazu nicht. »Aber wer es nicht will, wird es abgenötigt kriegen.«

Das klingt wie eine Drohung, und so nehmen es die geschockten Zuhörer auch auf. Sichtlich um Fassung bemüht bemühen sie sich, mit gequetschten Stimmen die Form zu wahren.

Aber die Botschaften sind eindeutig: Wer bei uns mitmachen will, »muß mehr guten Willen mitbringen als Sie«. Das Angebot, die eigenen Werte und Verhaltensweisen zu überprüfen - die einheimische Psychotherapeutin Adelheid Müller, die als einzige dem Kollegen aus Halle beispringt, spricht es traurig aus -, wird massiv zurückgewiesen.

Abweichler würden auch im Westen autoritär gegängelt und sei es durch Berufsverbote? »Das war weiter nichts als der Ausdruck unserer kämpferischen und militanten Demokratie.«

Kritik an den Besser-Wessis? »Sie brauchen uns doch. Sie können doch nicht mal einen Mietvertrag ausfüllen.«

Maaz sitzt zumeist schweigend hinter seinem Rednerpult. Er fährt nicht einmal auf, als ihn einer mit staatsanwaltlicher Attitüde anherrscht: »Was Sie hier sagen, klingt ja wie das Neue Deutschland.«

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